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Suffizienz in Unternehmen – ein Interview mit André Jäger

Effizienz, Konsistenz und Suffizienz sind drei Strategien für mehr Nachhaltigkeit. Während die ersten beiden in der Wirtschaft zunehmend mehr Aufmerksamkeit erfahren, fristet Suffizienz oft ein stiefmütterliches Dasein. Dass dies nicht so sein muss, zeigt der Ingenieur und systemische Berater André Jäger in seinem kürzlich erschienenen Buch „Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Potenziale, Chancen und Risiken am Beispiel der Gemeinwohl-Ökonomie“.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Worin liegt die Quintessenz Ihrer Arbeit?

A. Jäger: Suffizienz wird im Nachhaltigkeitsdiskurs als komplementäre und gleichrangige Strategie zu Effizienz und Konsistenz gesehen und stellt die Frage nach einem verantwortlichen Lebensstil. Dieser wird zumeist Privathaushalten und Individuen als verantwortliche Gesellschaftsmitglieder in Verbindung mit ihrem Konsumverhalten zugeschrieben.

Die Arbeit untersucht Suffizienz als praktisches Instrumentarium für privatwirtschaftliche Organisationen und gibt Impulse für die Erschließung suffizienten Handlungsrepertoires von Unternehmen. Damit steht die Anschlussfähigkeit von Suffizienz in einem vom Wachstumsparadigma und Rentabilitätslogik bestimmten Marktmechanismus auf dem Prüfstand. Als Quintessenz liefert die Untersuchung in der Praxis fundierte Beispiele, dass suffiziente Strategien in Unternehmen der freien Marktwirtschaft möglich sind. Voraussetzung ist das Vorhandensein von Motivation in den Unternehmen, suffiziente Praktiken auch dann umzusetzen, wenn sie zunächst der Marktlogik als Widerspruch erscheinen.
Umgesetzte Suffizienzstrategien bringen – bezogen auf die unterschiedlichen Strategien und Unternehmen – individuelle Chancen und Risiken mit sich, auf die entsprechend reagiert und mit denen ein individueller Umgang gefunden werden muss. Die ökonomische Nachhaltigkeit muss vorhanden sein (Finanzierung); in den meisten Fällen bedeutet Suffizienz einen Mehraufwand. Im Idealfall entstehen wiederum Potenziale, und deren Umsetzung bewirkt weitere Inspirationen auch für andere Unternehmen (transformatorische Wirkung).

DUS: Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Sie konzentrieren sich methodisch auf Unternehmen, die dem Bereich der Gemeinwohl-Ökonomie zugeordnet werden. Woran liegt das?

A. Jäger: Für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung sind Unternehmen ausgewählt worden, die bereits in signifikanter Weise Suffizienzstrategien umgesetzt haben und diese auch praktizieren. Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) weisen in der GWÖ-Bilanz explizit Suffizienz als ein Abfragekriterium auf. Das bedeutet nicht automatisch, dass Suffizienzstrategien in GWÖ-Unternehmen auch vorhanden sind. Aufgrund einer erweiterten Haltung zu sozial-ökologischen Fragestellungen in GWÖ-bilanzierten Unternehmen sind günstigere Voraussetzungen geschaffen, um auf Suffizienzstrategien zu treffen. Um verwertbare Ergebnisse zu generieren, sind solche Unternehmen ausgewählt worden, die im GWÖ-Bericht mindestens vier Suffizienzstrategien ausdrücklich thematisieren oder bei denen mindestens eine Strategie vorhanden ist, die den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens in bedeutender Weise prägt.
Zwei der interviewten Unternehmen sind GWÖ-nahestehend, wofür eine umfassende Behandlung der Stakeholder mit Werten der GWÖ-Matrix nötig war.
Die befragten Unternehmen und Ansprechpartner*innen sind im Klartext benannt, d. h. nicht anonymisiert. Das ermöglicht eine bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, und die Interviewpartner*innen können persönlich kontaktiert werden.
Alle befragten Unternehmen sind im produzierenden Gewerbe tätig und stehen nicht im Wettbewerb zueinander.
Ein weiterer Grund für die Wahl von Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie besteht in der zusätzlichen Befragung von Berater*innen der GWÖ aus der Metaperspektive (zuzüglich einer Expertin auf dem Gebiet der Suffizienz), die die Ergebnisse als Expert*innen weiter fundieren.

DUS: Die überwiegende Mehrheit aller Firmen folgt weiterhin dem Postulat einer streng marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik. Sie schließen in Ihrem Buch eine pauschale Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf diesen Bereich aus. Sehen Sie dennoch für einzelne Aussagen einen Transferspielraum?

A. Jäger: Die Forschungsergebnisse basieren auf Unternehmen des produzierenden Gewerbes der Gemeinwohl-Ökonomie und damit auf einer einheitlichen Datengrundlage. Dennoch handelt es sich bei den Suffizienzstrategien um stark unternehmensspezifisch individuell geprägte Lösungen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit die Strategien auf andere Unternehmen (auch abseits der Gemeinwohl-Ökonomie) übertragbar sind. Bei identischer Suffizienzstrategie kann diese bei einem anderen Unternehmen jedoch zu einer anderen Chancen- und Risikobewertung führen und eine angepasste Umsetzung erfordern.  

Die Komplexität ist am besten an Beispielen veranschaulicht: Ein Suffizienzansatz auf Basis von Open-Source funktioniert z. B. bei einem Unternehmen im Lebensmittelbereich, das wie Cola vom Premium-Kollektiv die Rezeptur offenlegt. Sie nehmen damit eine mögliche Rezepturkopie nicht nur in Kauf, sondern fördern auch diese, wenn der Leitgedanke eines sozial-ökologisch-nachhaltigen Wirtschaftens in ähnlicher Weise angestrebt und umgesetzt wird.

Eine erhebliche Gefahr stellt jedoch die gleiche Open-Source-Strategie bei einer neu gegründeten Genossenschaft dar, weil etablierte Unternehmen diese Produktentwicklung in kopierter und adaptierter Form schneller auf den Markt bringen und damit eine Verdrängung des ursprünglichen genossenschaftlichen Produktes stattfindet. Es lohnt sich, über einen Strategie-Transfer nachzudenken und genauer zu analysieren, welche Chancen, Risiken und Potenziale damit einhergehen. Ein Beispiel für eine starke Strategie ist das Aussetzen von Verhandlungen in Lieferketten durch einen Runden Tisch, an dem alle Beteiligten ihre zu kompensierenden Aufwände mit dem Ziel offenlegen, ein für alle Beteiligten stimmiges Ergebnis zu erreichen. Folglich bedeutet das den Verzicht auf einen maximalen Gewinn zugunsten einer vertrauensvollen und freundschaftlichen Basis mit fairer Bezahlung für alle. Das ist zum Beispiel in der Berliner Großbäckerei Märkisches Landbrot Realität.
Eine Übertragung z. B. auf die Lieferkette eines DAX-Konzerns der Automobilindustrie mag gewagt erscheinen, doch als Gedankenexperiment ist es in dieser Hinsicht reizvoll und lohnenswert, um auszuloten, wo die Grenzen der Machbarkeit liegen. Ein Transfer auf andere mittelständische Unternehmen mit übersichtlichen Lieferketten erscheint andererseits vielversprechender.

DUS: In der Theorie stellen Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gleichrangige Strategien dar. In der Praxis lesen wir von Green Growth und immerwährender Prosperität in einer Circular Economy. Ist da überhaupt Platz für Suffizienz?

A. Jäger: Green Growth oder die Green Economy zielen auf eine Entkopplung des materiellen Wohlstandes vom Ressourcenverbrauch hin.

Diese Funktionsweise wird in der Fachliteratur kontrovers diskutiert und teilweise verneint. Einer der Gründe für die Ablehnung ist die häufig eintretende Überkompensation von Effizienz- und Konsistenzgewinnen: Eingesparte Ressourcen werden durch Mehrverbrauch oder Verschiebungen in andere Bereiche überkompensiert, auch bekannt als Rebound- Effekt.
Bei Suffizienz geht es darum, den unmittelbaren und einseitigen Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und Lebensqualität zu entkoppeln. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Zielführend ist weniger ein enges Suffizienzverständnis von Verbot und Verzicht, sondern ein Hin zu etwas Neuem mit einem erweiterten Verständnis eines unternehmerischen und gesellschaftlichen Wirtschaftens. 

Die Untersuchung bezieht sich auf Beiträge von Wirtschaftsunternehmen zur Suffizienz als eine der Nachhaltigkeitsstrategien. Hier geht es um ein anderes unternehmerisches Handeln, was zunächst der marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik widerspricht und doch mit entsprechenden Chancen und Risiken auch im Sinne einer ökonomischen Nachhaltigkeit funktioniert. Eine andere Prozessgestaltung und Haltung, beispielsweise ein Runder Tisch mit Konsensabsprache statt Verhandlung, führt in erster Linie zu einem Verzicht auf maximalen Gewinn. Die Folge ist eine stabile Zusammenarbeit aller Stakeholder auf einer vertrauensvollen Basis mit einem anderen Klima der Wertschätzung. Hier ließe sich in klassischer Weise Suffizienz wiederum mit Rentabilitätslogiken begründen (Reduktion auf ökonomische Nachhaltigkeit durch stabile Prozesse und Lieferketten). Entscheidend ist, dass es um die Qualität eines guten Lebens für alle geht, also eine Haltungsfrage, die ein Buen Vivir nicht nur fördert, sondern der eine Motivation für Veränderungen zugrunde liegt. Hier ist das „Gute Leben“ Motivation und Ziel statt eine Begründungslogik für ein weiter wie bisher.

Meiner Einschätzung nach ermöglicht Suffizienz im unternehmerischen Kontext weitreichende Möglichkeiten der Gestaltung eines gelingenden Miteinanders sowie einer anderen Art des Arbeitens und Wirtschaftens mit neuen Möglichkeiten zur Lösung sozial-ökologischer Fragestellungen.

Selbst wenn Green Growth und eine immerwährende Prosperität in einer Circular Economy möglich sein sollten und damit die planetaren Grenzen eingehalten würden, wäre hiermit lediglich die reine Ressourcenwirtschaft auf unserem Planeten abgedeckt. Das wäre ein Aufrechterhalten des Status quo, ein Weitermachen wie bisher. Mit den oben geschilderten darüber hinausgehenden Fragestellungen ist Suffizienz nicht zu ersetzen, sondern immer komplementär.

DUS: Zum Abschluss noch eine private Frage: Wie stark und in welchen Bereichen prägt der Suffizienzgedanke Ihren Alltag?

A. Jäger: Ich persönlich nutze materielle Gegenstände eher längerfristig und hatte seit meiner Kindheit weniger das Verlangen, stets das Neuste besitzen zu wollen. Dafür nutze ich vielmehr ausgesuchte und auch höherwertige Gegenstände.

Vor ein paar Jahren bin ich privat auf Linux als Betriebssystem umgestiegen, welches ich als Teil von Open Source lieber unterstütze als die verbreiteten gängigen Betriebssysteme. Inwieweit das als Suffizienz bezeichnet werden kann, ist noch zu diskutieren. Open-Source-Entwicklung im Softwarebereich beruht in Teilen auf Spenden und birgt noch viel Potenzial.

Bei meiner Kleidung achte ich auf Siegel oder besorge diese möglichst im nachhaltigen Handel mit einer längerfristigen Nutzung. An Grenzen komme ich beim Reisen. Innerhalb der Nachbarländer fahre ich mittlerweile grundsätzlich mit dem Zug. Eine Herausforderung stellt sich, weiter entfernte Orte zu erreichen.

Prägend war für mich ein dreijähriges Arbeiten und Leben in einem Benediktinerkloster. Aus dem Blickwinkel eines bewussteren Umgangs mit Ressourcen würde ich die Zeit im Rückblick auch als suffizienzprägend bezeichnen, auch wenn das Wort in diesem Kontext nicht genutzt wurde.

Für mich persönlich ist Entschleunigung wichtig; oft steht diese allerdings im Gegensatz zu den Anforderungen des Alltags. Doch sind es Inseln, die sich in meinem Leben immer wieder verwirklichen. Diese bestärken mich darin, dass Suffizienz als Komplementäransatz ein lohnenswerter Weg ist. 

ÜBER DEN INTERVIEWPARTNER

André Jäger arbeitete als Maschinenbau-Ingenieur mehrere Jahre für eine Softwareberatung in Japan und anschließend als systemischer Berater in der Begleitung von Menschen und Teams. Drei Jahre Leben und Arbeiten in einem Benediktinerkloster gaben ihm den Impuls, im anschließenden MBA-Studiengang das Thema Suffizienz im Unternehmenskontext näher zu erforschen. Derzeit arbeitet er als Personalleiter in einem mittelständischen Unternehmen.

André Jäger