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#KAUFNIX

Basta! Selbstbeschränkung und ökologische Zivilisierung – ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Pierre Ibisch 

Wachstum und Konsum bereiten vielen Menschen große Freude. Sie gehen einher mit Wahlmöglichkeiten und einem vermeintlichen Gefühl der Freiheit. Konsumverzicht und Genügsamkeit sind nicht automatisch gleichermaßen beglückend, und dennoch bedeuten sie die neue – notwendige – Stufe der Zivilisierung.

Der Mensch ist ein Tier, aber ein besonderes. Gewöhnlich wird hervorgehoben, dass es sich um ein zu herausragender Intelligenz befähigtes Wesen handelt, Homo sapiens – der vernünftige Mensch. Diese Vernunft reicht soweit, dass wir derartig intensiv über uns selbst nachdenken können wie wohl sonst keine anderen Organismen. Wir machen uns sogar über schier Unvorstellbares Gedanken wie den eigenen Tod. Eigentlich sind wir Menschen zukunftsfähig, weil wir Zukunftsszenarien entwickeln können, die über unser eigenes Ende hinausgehen. Wir sind so schlau, dass wir für etwaige riskante, schlechtere Zeiten vorsorgen können. Wir können aktuelle Bedürfnisse zurückstellen, um Ressourcen für die Zukunft zu sammeln und aufzubewahren oder uns gar auf ein angenommenes Leben im Jenseits vorbereiten. Wir empfinden Empathie mit Mitmenschen – unter Umständen sogar mit solchen, die noch nicht geboren sind, und wir kooperieren mit unseresgleichen. Diese Gefühle zeichnen den Menschen in besonderem Maße aus: ein vernunftbegabtes und soziales Wesen mit einem gewissen Faible für zukunftsorientiertes Risikomanagement durch Anhäufen von Ressourcen. Aus dieser Mischung wurde ein Erfolgsmodell – und gleichzeitig ein ‚evolutiver Sprengsatz‘. Keine Art vor uns hat es aus eigener Kraft geschafft, den gesamten Planeten zu besiedeln, die unterschiedlichsten Ökosysteme für das Überleben zu nutzen, fossile Ressourcen aus vergangenen Erdzeitaltern anzuzapfen, sich global zu vernetzen und letztlich ein exponentielles Wachstum von Population und Ressourcenumsatz zu erreichen.

Durch Wachstum zum Erfolg – und zurück

Der sein eigenes Wachstum entfesselnde Mensch hat die Regulation durch das globale Ökosystem scheinbar außer Kraft gesetzt … endlich die Fesseln der Natur gesprengt, die unsere Freiheit über Jahrtausende beschränkte. Der Mensch maximiert die Ressourcenverfügbarkeit für sich selbst – aber auf Kosten der Ressourcen für andere Arten und die Funktionstüchtigkeit des großen Ganzen. Eine verhängnisvolle Falle, die sehr groß ist und deshalb nur langsam und unmerklich zuschnappt. Denn das globale Ökosystem wird auch unser Wachstum wieder einhegen, so wie es die starke Vermehrung von Algen, Krankheitserregern oder Heuschrecken früher oder später wieder einfängt. Im Moment zählt aber nur: Während die Verfügbarkeit fundamentaler Lebensressourcen für jüngere und spätere Generationen schwindet, gelingt es zumindest einer großen Gruppe der aktuell lebenden Menschen, ein historisch einzigartiges Wohlergehen zu erreichen, indem der materielle und energetische Einsatz von Ressourcen ins Unermessliche gesteigert wird. Dieses Wachstum zahlt sich kurzfristig aus, ist angenehm, macht Spaß, regt an, vermehrt Handlungsoptionen und die Selbstwirksamkeit. Zugegeben, das neue Zeitalter der großen Beschleunigung, nennen wir es Tachyzän, überfordert uns inzwischen auch schon mal. Aber der Stress mit „Hülle und Fülle“ ist nichts gegen Hungertod und Unfreiheit. Als Hochkultur berauschen wir uns an vor Kurzem noch kaum absehbaren Leistungen der Menschheit: Wir überwinden die Grenzen der früheren Generationen, fliegen mit Überschallgeschwindigkeit umher, besuchen andere Planeten, fotografieren schwarze Löcher, bauen kilometergroße Gebäude, die uns unsere eigene Größe spiegeln, entwickeln Apparate mit künstlicher Intelligenz, die uns immer mehr mühselige Arbeiten abnehmen. Ist das alles nicht großartig? Natürlich ist es das. Nicht viel scheint deshalb dafür zu sprechen, diesen Trip freiwillig zu beenden. Außer vielleicht das zukünftige Leid Jüngerer und Nichtgeborener, die vom beschädigten globalen Ökosystem nicht mehr ernährt und beschützt werden können? Nach einigen Jahrzehnten des exponentiellen Wachstums von Material- und Energieumsatz, technologischer Entwicklung und unserer Population ist es schwieriger geworden, die Folgekosten zu ignorieren oder zu verbergen. Energie- und Platzbedarf unseres Wachstumshungers sind die größten Probleme. Ursprünglich setzten Menschen mit ihrem Körper ca. 3,5-5 Giga-Joule (GJ) pro Jahr und Person um – inzwischen ist der Energieumsatz bis um das Hundertfache gesteigert. Um eine Nahrungs-Kalorie bereitzustellen, setzen wir für manche Produkte ein Vielfaches an (meist fossiler) Energie ein. Inzwischen haben wir allein ca. die Hälfte der Biomasse auf den Kontinenten verbraucht … gegessen, verbrannt, verdrängt. Die allermeisten bioproduktiven Flächen nutzen wir für unsere Zwecke und lassen anderen Mitbewohnern der Erde immer weniger Platz. Die letzten sich mehr oder weniger selbst steuernden Ökosysteme zerschneiden und stören wir mit Straßen und anderer Infrastruktur. Allesamt – zu Lande und zu Wasser – traktieren wir sie mit Giftstoffen und setzen sie einem sich beschleunigenden Klimawandel aus. Die Folgewirkungen schlagen inzwischen auch auf die Menschen zurück: Wetterkatastrophen, Ernteeinbußen oder neuartige Erkrankungen sind nur einige Beispiele.

Aber dies alles lässt sich ja vielleicht reparieren und zukünftig vermeiden, weil uns noch großartigere Erfindungen einfallen, die uns ein fortgesetztes Wachstum ermöglichen: künstliche Manipulation der Atmosphäre zum Beenden des Klimawandels, unbegrenzte Energieverfügbarkeit durch Kernfusion, künstliche Photosynthese und im Labor gezüchtetes Fleisch zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung, letztlich die Besiedelung von Ozeanen und des Alls … – Was nur, wenn nicht? Was, wenn wir die Rechnung ohne den Wirt machen – das globale Ökosystem?

Haste was, biste was – wie in der Gesellschaft, so in der Natur?!

Die individuelle Erfahrung der meisten Menschen sowie auch die Kollektiverfahrung der globalen Zivilisation mit ihrer vermeintlichen Fortschrittskultur besagen, dass ein Mehr an Ressourcen – für mich und die meinen, heute und morgen – größeren Wohlstand, bessere Gesundheit und die Verringerung vieler unmittelbarer Risiken bedeutet. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, „Haste was, biste was“, „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Bibel, Matthäus 25:29). So ist das nämlich. Wir haben gelernt, Mitmenschen nicht nur durch unsere Fähigkeiten zu beeindrucken, sondern vor allem durch unseren Besitz, unseren Schmuck und unsere Kleidung, die anzeigen, dass wir erfolgreich und vertrauenswürdig sind. Besitz um des Scheins willen und Statussymbole finden sich weltweit wohl in den meisten Kulturen. Federschmuck, Amtskette, Frack, Porsche und iPhone verleihen uns Würde, Respekt oder Anerkennung. Digitalisierung und Informationstechnologie haben nicht nur unseren Zugang zu vorher unerreichbaren Ressourcen erleichtert, sondern auch das Wünschbare vervielfältigt. Die ganze Erde ist nicht ein Dorf, sondern ein globales Schaufenster geworden, eine Shopping-Mall sowie ein weltweites Theater, in dem sich alle Nutzer*innen der sozialen Medien etwas mit ihrem Konsum vorspielen können.

Nach wie vor sind die materiellen Vorteile von größerem Besitz nicht von der Hand zu weisen. Wenn unser Kapital abundant ist oder gar wächst, können wir es einsetzen, um es zu vermehren. Tatsächlich ein recht natürliches Geschehen, das auch in Ökosystemen zu beobachten ist. Wenn nach einem Vulkanausbruch ein nackter Fels von Bakterien, Flechten und ersten Pflanzen besiedelt wird, kommt es ebenfalls zu einem exponentiellen Wachstum. Wo viele Pflanzen wachsen, können mehr Sonnenenergie und weitere Ressourcen gebunden werden, entsteht mehr Biomasse, die günstig auf die Produktivität wirkt … es kommt zu einer Eskalation des Lebens. Schnelles nichtlineares Wachstum ist eine wichtige Strategie der belebten Natur, um Lücken zu füllen, Gelegenheiten zu nutzen und neue Chancen zu eröffnen. Wenn allerdings der physisch verfügbare Raum aufgebraucht ist, schalten Ökosysteme um, ohne ihre Funktionen einzustellen: Es reduziert sich das Massewachstum und strebt letztlich gegen Null. Im System erfolgt nur noch qualitatives Wachstum in Form von immer neuer genetischer Information, einer Zunahme von unterschiedlichen Arten, Lösungen und Lebensstrategien, die zu einer effizienteren Ressourcennutzung, einer erhöhten Systemintegration und vor allem zu einer immer besseren Selbstorganisation und –regulation im System führen. Dies bedeutet in ‚reifen‘ Ökosystemen einen Rückgang von Konkurrenz und eine Steigerung der Bedeutung von Kooperation und positiver Interaktion zwischen den Systemkomponenten. Ressourcen werden effizient aufgenommen, verwendet und – sofern möglich – recycelt. Die Wahrscheinlichkeit von abruptem Wandel und Zusammenbruch wird zumindest reduziert. Das System operiert an den Grenzen des Wachstums und ist suffizient. Kann uns als menschliche Gesellschaft Vergleichbares gelingen? Können wir Triebe und Wachstumswünsche regulieren und hintanstellen? Können Solidarität und Kooperation Konkurrenz- und Wachstumszwang eindämmen?

Menschliche Selbstzähmung und ökologische Zivilisierung

Basta! Es muss doch reichen. Menschen können nachgewiesenermaßen mit sehr viel weniger Konsum glücklich sein, gegebenenfalls sogar deutlich glücklicher als der von sozialem Verbrauchs- und Darstellungszwang, Dauerwerbebeschallung und Beschleunigung gestresste Mensch der entfesselten Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Tatsache ist zudem, dass uns ein enormes Potenzial der Selbstzähmung innewohnt. Im Rahmen der Zivilisierung haben wir gelernt, uns Regeln des Zusammenlebens zu geben und sie mehr oder weniger zu respektieren; wir sind überwiegend in der Lage, Flucht- und Angriffsreflexe zu unterdrücken. Unsere Kultur hat uns beschert, dass sogar bei steigender Bevölkerungsdichte das Risiko, gewaltsam in Konflikten zu Schaden zu kommen, erheblich reduziert wurde. Den Individuen fallen das Unterordnen und Zurücknehmen in vielerlei Lebenslagen durchaus schwer, aber gesellschaftliche Normen, Erziehung und Bildung geben uns einen lenkenden Rahmen. Dabei sind wir in der Lage, unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen, vor allem, wenn wir von der Gesellschaft bzw. vom Staat nicht gezwungen werden, sondern wenn uns Anerkennung und Belohnung winken. Menschen sind nicht nur veranlagt, möglichst viel haben zu wollen und sich alles zu nehmen, was sie bekommen können. Wir sind auch empathisch und solidarisch, wir sind bereit, Not zu lindern. Und uns ist die Vernunft gegeben, uns selbst kritisch zu hinterfragen und unser Handeln zu überdenken. Das fällt leichter, wenn es dafür Anerkennung gibt. Auch mit guten Taten kann man sich darstellen, Anhänger*innen und Follower gewinnen – viele Celebrities machen es vor.

Alle Menschen können sich dafür einsetzen, dass sie nicht mehr in erster Linie als Verbraucher*innen bezeichnet und angesehen werden. Sie können mit Eigeninitiative vorangehen und müssen gleichzeitig die angemessenen politischen Rahmensetzungen einfordern. Nur mit einer gesamtgesellschaftlichen ergebnisoffenen Anstrengung, Entwicklung und Zivilisierung wirklich neu zu denken und die Wurzelgründe unserer Probleme abzustellen, können wir eine echte Transformation schaffen. Wir müssen eine Kultur anstreben, in dem das soziale oder ökologische Jahr und die in ihm gewonnenen Erfahrungen mehr zählen als ein Porsche. Teilzeitarbeit, unvergütete Beschäftigungen und Beiträge zur Selbstversorgung gehören politisch aufgewertet und unterstützt. Tätigkeiten für Menschen und Natur verdienen eine besondere Förderung – z.B. durch freien Zugang zu bestimmten Leistungen etwa im kulturellen Bereich. Konsum und Schadschöpfung durch Produktion müssen angemessen besteuert werden. Eine CO2-Steuer kann nur der Anfang sein, genauso müssen Wasser- und Landverbrauch sowie die Störung von Ökosystemen angemessen verteuert werden. Konsumvermeidende Geschäftsideen, Reparatur und Recycling bedürfen der massiven Förderung. Bildungspolitisch ist die Bedeutung der Ethik aufzuwerten. Wir benötigen eine intensivere Reflektion über die Folgewirkungen unseres Handelns und deren Vermeidung sowie ein Nachdenken darüber ‚was wirklich zählt‘.

Bereits 1993 erfand der Soziologe Wolfgang Sachs das Konzept der Suffizienz. Im selben Jahr warb Walther Kösters für eine „ökologische Zivilisierung“. Beides hat ein Vierteljahrhundert später erheblich an Brisanz gewonnen. Allem Wachstum zum Trotz, das damals noch gar nicht vorstellbar schien. Wachstum verringert die Halbwertzeit von so mancher Technologie und vielerlei Wissen – unbequeme Wahrheiten und richtige Ideen schafft es nicht aus der Welt.

Über den Autor
© Centre for Econics and Ecosystem Management

Prof. Dr. Pierre Ibisch ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und Mitherausgeber des Buchs „Der Mensch im globalen Ökosystem. Eine Einführung in die nachhaltige Entwicklung“. Er wirbt für eine ökologische Radikalität und ökosystembasierte nachhaltige Entwicklung. Er verfasste bereits vor einem Jahrzehnt u.a. für ZEIT ONLINE Beiträge zur Suffizienz und Nachhaltigkeit wie etwa „Das Primat des Wirtschaftswachstums beenden“ „Nicht die Armut, das Wachstum muss bekämpft werden“. Siehe auch Interview „Wirtschaftswachstum ist schädlich“ auf Deutschlandfunk Kultur.