Warum in die Ferne schweifen

Die Möglichkeit auf Reisen zu gehen, hat in unserer Gesellschaft einen hohen Stellen- und Statuswert, auf den wir nicht verzichten möchten. Deutsche unternahmen im Jahr 2017 circa 70 Millionen Reisen, die länger als 5 Tage dauerten- 50 Millionen davon ins Ausland. (UBA, 2019) Das derzeitige Tourismusmodell ist allerdings alles andere als nachhaltig, sondern geprägt von Kurzurlauben und Flugreisen. (Bah et al., 2017)
Für Natur und Umwelt bedeuten unsere Reisen viel Stress.  Durch An- und Abreise sowie vor Ort genutzte Verkehrsmittel, wird die Natur immens belastet. Die entstehenden Emissionen treiben den Klimawandel deutlich voran. Ein Kreuzfahrtschiff verbraucht zum Beispiel am Tag 476 850 kg CO2 – das ist so viel wie der Verbrauch von 83 678 Autos. (NABU, 2012) Generell sind 75% des Energieverbrauchs und der CO2 Emissionen einer Reise von der Wahl des Verkehrsmittels abhängig. (Gössling; Peeters, 2015)

Auch der Flächenverbrauch ist ein ernst zunehmender Aspekt. Immer mehr Gebäude werden für den wachsenden Tourismussektor gebaut. Durch die vermehrte Versiegelung von Flächen und Zerschneidung der Landschaft, kommt es zu Veränderungen im Wasser- und Bodenhaushalt, was das Risiko für Überflutungen erhöht. Außerdem reisen wir gerne in Länder, die im Sommer oft mit Wasserknappheit zu kämpfen haben. Der durch Touristen verursachte Wasserverbrauch verschärft diese Situation und es kann zu Konkurrenzen zwischen dem Trinkwasserbedarf der Bevölkerung, der Landwirtschaft und dem Tourismus kommen. Nicht selten verlangt es Maßnahmen, wie das energieintensive Aufbereiten von Meerwasser. (UBA, 2019)

Alternative Reisekonzepte: Slow Tourism

Es scheint daher nahezuliegen, die eigene Art des Reisens noch einmal zu überdenken. Das alternative Reisekonzept „Slow Tourism“ zielt auf bestimmte Verhaltensweisen von Reisenden ab. Im Fokus steht ein verändertes Verhältnis des Reisenden zu Zeit, Qualität und Ziel der Reise. Es soll nicht so viel wie möglich in kürzester Zeit gesehen, sondern vielmehr das Vorhandene betrachtet und genossen werden. (Nistoreanu et. al., 2011) Es handelt sich um eine umfassende Tourismuserfahrung, zu der auch Hin- und Rückweg maßgeblich beitragen. (Dickinson; Lumsdon, 2010) Ganz bewusst wird deswegen auf schnelle Transportmittel, wie Flugzeuge verzichtet und lieber Bahn, Bus oder Schiff gewählt. Die Reisedistanzen sind kürzer und die Aufenthaltsdauer an den Zielen länger. Land, Leute und Kultur können auf diese Weise vertieft kennengelernt werden. (Nistoreanu et. al., 2011) Der Begriff „Langsam“ steht daher nicht für Faulheit, sondern kann vielmehr als Entschleunigung bezeichnet werden. (Sachs, 1993)

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Suffizienz und Nachhaltigkeit werden in dem Reisekonzept zwar nicht direkt angesprochen, die Verknüpfung ist jedoch deutlich. Alle Werte des „Slow Traveling“ implizieren einen Abstand zu Konsum, Masse und Schnelllebigkeit. Ganz automatisch verringern sich die Emissionen, wenn man mit der Bahn statt mit dem Flugzeug reist, wenn man nahe Zielorte und die lokalen Speisen sowie kulturellen Angebote wählt. Die Umwelt profitiert vom „Slow Tourism“, ohne das dies das Hauptaugenmerk des Reisenden ist. (Schrader, 2017)
Dabei stützt sich „Slow Travelling“ auf zwei Leitprinzipien:
1. Verbringe mindestens eine Woche am gleichen Ort.
2. Betrachte dein unmittelbares Umfeld. Konkret heißt das am gewählten Zielort anzukommen – nicht nur physisch, sondern auch mit dem Geist und allen Sinnen. (Nistoreanu et. al, 2011)

Die Natur in ihrer Fülle zu erfahren gelingt beim Wandern oder Radfahren ganz leicht. Egal ob Flüsse, Berge, Seen – durch das eigen gewählte Tempo wird die Reise zu einem selbstgestalteten Erlebnis. Apps wie „Komoot“ bieten hierfür eine Vielzahl an Wander- und Radrouten an, die entweder vom Team selbst getestet oder von anderen Nutzern geprobt und bereitgestellt werden. Die Idee für das Start Up hatten 6 „Outdoor-Enthusiasten“ aus Deutschland und Österreich. Seit 2010 kann man mit Karten und Navigationssystem der App, die verschiedensten Orte entdecken. Das Wahlgebiet kann einfach gesucht und die passende Route ausgewählt werden – wieso nicht mal nach Routen in der eigenen Heimat suchen? Wer weiß was es dort noch alles zu entdecken gibt… (komoot.com)

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Quellen:
BAH, A. et al.: „Berlin Declaration on „Transforming Tourism“, 03/2017, URL: http://www.transforming-tourism.org/fileadmin/baukaesten/sdg/downloads/Berlin_Declaration.pdf, online, Abruf am 19.12.2019
DICKINSON, J., LUMSDON, L.: „Slow Travel and Tourism“, 01.01.2010, New York
Gössling, S., Peeters, P.: „Eine Bewertung der Ressourcennutzung des Tourismus – Szenarien einer nicht nachhaltigen Zukunft“, 18.09.2015, in Internetseite Tourism Watch, URL: https://www.tourism-watch.de/de/schwerpunkt/eine-bewertung-der-ressourcennutzung-des-tourismus, online, Abruf am 19.12.2019
Komoot newsroom- Webseite, URL: http://newsroom.komoot.com/?page=3, online, Abruf am 19.12.2019
NABU: „Luftschadstoffemissionen – Vergleich von Kreuzfahrtschiff und PKW“, 2012, URL: https://www.nabu.de/downloads/TabelleVergleichKreuzfahrschiff_Pkw.pdf, online, Abruf am 19.12.2019
Nistoreanu, P., Dorobantu, M., Tuclea, C.: „THE TRILATERAL RELATIONSHIP ECOTOURISM – SUSTAINABLE TOURISM – SLOW TRAVEL AMONG NATURE IN THE LINE WITH AUTHENTIC TOURISM LOVERS.“ 06/2011, in Journal of tourism no. 11, URL: http://www.revistadeturism.ro/rdt/article/view/67/38, online, Abruf am 19.12.2019
Sachs, W.: „Die vier E’s : Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil“, 1993, in  Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie GmbH, URL: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/66/file/66_Sachs.pdf, online, Abruf 19.12.1019
Schrader, D.: „Suffizienz im und durch Tourismus – Gestaltungsmöglichkeiten einer Tourismustransformation durch produzenten und Konsumenten touristischer Leistungen“ , Bachelorthesis, Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geisling, 04.07.2017 URL: https://www.tourism-watch.de/system/files/migrated/bt_d._schrader_suffizienz_im_tourismus_-_kopie.pdf, online, Abruf am 19.12.2019
Umweltbundesamt: „Nachhaltiger Tourismus“, 12.12.2019, URL: https://www.umweltbundesamt.de/themen/wirtschaft-konsum/nachhaltiger-tourismus#textpart-1, online, Abruf am 19.12.2019

Die 2000-Watt-Gesellschaft der Stadt Zürich- Interview mit dem Umwelt- und Gesundheitsschutz

In Zürich ist der Wunsch nach einer nachhaltigeren Gesellschaft in der Gemeindeordnung verankert. Durch unterschiedliche Maßnahmen und Anreize der Stadtverwaltung, soll der Energieverbrauch der Bevölkerung verringert werden. Die Lebensqualität hingegen soll darunter nicht leiden. Tina Billeter erklärt wie dieses Modell funktioniert und was sich in Zürich dadurch verändert hat.

Der Weg zu einer suffizienten Gesellschaft

Deutsche Umwelstiftung: Sie wenden in Zürich das Modell 2000-Watt-Gesellschaft an. Um was genau handelt es sich und was sind die Ziele?

Tina Billeter: Die 2000-Watt-Gesellschaft ist ein energie- und klimapolitisches Ziel, um eine messbar nachhaltige und umweltfreundliche Gesellschaft zu werden. Dieses Ziel wurde bereits 2008 aufgrund einer demokratischen Volksabstimmung in der Gemeindeordnung der Stadt Zürich verankert. Konkret bedeutet es, dass der Primärenergiekonsum auf 2000 Watt pro Person und der Treibhausgasausstoss bis 2050 auf 1 Tonne pro Person und Jahr gesenkt wird. Energieeffizienz, erneuerbare Energien und die nachhaltige Ernährung werden gefördert; auf Atomkraft verzichtet.

Deutsche Umweltstiftung: In dem Ergebnisbericht „Suffizienz: Ein handlungsleitendes Prinzip zur Erreichung der 2000-Watt-Gesellschaft“ der Arbeitsgruppe Suffizienz, sprechen Sie darüber, dass Suffizienz neben Effizienz und Konsistenz einen erheblichen Einfluss auf die Realisierung der 2000-Watt-Gesellschaft hat. Wieso ist dies der Fall?

Tina Billeter: Im Masterplan Energie sind die drei handlungsleitenden Prinzipien festgehalten: Suffizienz, Effizienz, Konsistenz. Diese beruhen auf Analysen und Szenarien, die u.a. in der Roadmap 2000-Watt-Gesellschaft festgehalten sind: Sie zeigten, dass alleine mittels der zwei Stellschrauben Effizienz und Konsistenz die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft nicht erreicht werden können. Deshalb müssen wir verstärkt auf die Genügsamkeit setzen. Ohne Verringerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs können wir den Primärenergiekonsum nicht auf 2000 Watt reduzieren und die Treibhausgasemissionen nicht in den Griff bekommen.

Deutsche Umweltstiftung: Wenn wir von Suffizienz sprechen, ist oftmals Verzicht gemeint. Wie kann der Begriff Verzicht, der in der Regel negative Konnotationen hervorruft, in die Gesellschaft getragen werden?

Tina Billeter: Zurzeit ist die Multifunktionalität im urbanen Kontext nicht negativ konnotiert. Sie zielt aber auf eine Mehrfachnutzung von limitierten Ressourcen und Räumen (z.B. Mindestbelegungsvorgabe in städtischen Wohnungen). Die ‚Stadt der kurzen Wege‘ klingt ebenfalls nach Lebensqualität: Erholungsräume in unmittelbarer Umgebung, Einkaufsmöglichkeiten und Märkte in Gehdistanz, Arbeitswege per Fahrrad, Schulen und Bibliothek um die Ecke. Die Stadt versucht, suffiziente Massnahmen positiv erlebbar zu machen – ohne dies als Suffizienz direkt beim Namen zu nennen.

Deutsche Umweltstiftung: In welchen Lebensbereichen sollte Suffizienz Ihrer Meinung nach zuerst umgesetzt werden?

Tina Billeter: Wir müssen verstärkt auf Suffizienz-Massnahmen setzen, wo die grösste Treibhausgasreduktion bewirkt werden kann: Konsum, Gebäude, Mobilität.

Deutsche Umweltstiftung: Die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft sind schon seit gut zehn Jahren in der Stadtplanung verankert. Was hat sich seither getan? Welche Erfolge konnten erzielt werden?

Tina Billeter: Pro Person konnte in den vergangenen zehn Jahren der Primärenergieverbrauch um rund 20 Prozent auf 3500 Watt und der jährliche Treibhausgasausstoss um zehn Prozent auf 4.4 Tonnen reduziert werden. Wichtige städtische Strategien wie der Masterplan Energie, Masterplan Umwelt, Verkehr2025 oder die 7-Meilen-Schritte bezüglich Gebäude wurden zielkonform angepasst. Der Kommunale Richtplan ist erarbeitet; viele zertifizierte 2000-Watt-Areale wurden errichtet. Die Beschaffungskoordination sowie die Pensionskasse arbeiten mit strengen Nachhaltigkeitskriterien. Den Bürgern wird automatisch Ökostrom geliefert: nebst der Wasserkraft wird die Solar- und Windkraft gefördert. Das Kehrichtheizkraftwerk versorgt bereits Zehntausende von Wohnungen mit Wärme und Strom und das Fernwärmenetz wird erweitert. Erste stadteigene Gebäude wurden gemäss dem Label Minergie-P-Eco gebaut und produzieren mehr Energie als sie benötigen. Die Beratungsstelle Energie-Coaching begleitet Private beim Heizungsersatz respektive beim Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger. Der Öko-Kompass berät KMUs im allen Umweltbelangen. Fuss- und Velowege sowie das öffentliche Verkehrsnetz werden stetig ausgebaut und attraktiver gestaltet. Der Erfolg ist sichtbar: Bereits mehr als die Hälfte aller Zürcher Haushalte besitzt kein Auto mehr.

Deutsche Umweltstiftung: Wie kann das Konzept von anderen Städten/Gemeinden adaptiert werden?

Tina Billeter: Das Bilanzierungskonzept ist öffentlich verfügbar. Die nationale Fachstelle 2000-Watt-Gesellschaft berät interessierte Gemeinden. Schweizweit wurden bereits 45 Gemeinden mit dem Label ‚Energiestadt Gold‘ ausgezeichnet – sie alle befinden sich ebenfalls auf dem Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft.

Über die Interviewpartnerin

©Tina Billeter

Tina Billeter, diplomierte Umwelt-Naturwissenschaftlerin ETH,  ist als Senior Projektleiterin Energiestrategie im Umwelt- und Gesundheitsschutz der Stadt Zürich tätig.