Mut zur Unvollkommenheit – ein Gastbeitrag von Christine Ax

Nur das Unvollkommene ist perfekt

Ich weiß nicht, ob wir nichts mehr kaufen sollten. Das wirft nämlich neue soziale Probleme auf. Denn vor allem Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kunst und Kultur sind für ein gutes Leben wichtig. Aber ich weiß, dass wir sehr lange, sehr gut leben könnten, ohne dass etwas Neues produziert würde – einmal abgesehen von Lebensmitteln, Energie und natürlich Ersatzteilen.

Das liegt vor allem daran, dass der Bestand an den Dingen, die schon da sind, nicht nur für uns, sondern vermutlich auch für weit mehr Menschen reichen würde. Vorausgesetzt, dass wir gut mit diesen Dingen umgehen,  dass wir uns um sie kümmern, sie instand halten und ihnen den Respekt und die Wertschätzung entgegenbringen, die sie eigentlich verdienen.

Denn es gibt mit Sicherheit heute schon mehr als genug  Stühle, Tische, Häuser, Schränke, Computer, Handys, Kleidungsstücke, Tischgeschirr, Lampen, Küchenmaschinen, Teesiebe, Autos und Fahrräder für alle, Museen, Autobahnen, Kinos, Musikanlagen, Wohnzimmertische u.v.a.m.

Obwohl es genug Autos gibt, werden dauerhaft neue produziert.
Foto: Bilderandi/Pixabay.com

Nur das Unvollkommene ist perfekt und das Unperfekte ist vollkommen

Folgende Geschichte soll der in Japan sehr berühmte Keramiker und Künstler Kanwai Kanjiro einst erzählt haben:

„Als in Japan die Menschen ihr Eigentum noch nicht mit Edelsteinen oder anderen glänzenden Dingen schmückten, sondern stattdessen, einen mit Moos bewachsenen Stein oder den knorrigen Stamm eines Baumes für ihren Garten kauften,  gab es einen Mann, der eine Vase gekauft hatte. Sie war wunderschön, ganz neu und ohne jeden Makel. Er wollte diese Vase gerne seinem Freund zeigen, der ihn besuchen würde, aber er fühlte sich unwohl dabei. Die Vase war zu neu und zu perfekt. Deshalb nahm er einen Pinsel und tippte ihn in den Lack, der damals benutzt wurde, um gebrochenes Porzellan zu reparieren. Dann zeichnete er einen unregelmäßigen Strich quer über die die brandneue Vase. Der Strich auf der Vase ließ sie alt aussehen und ausgebessert, sie war nicht mehr perfekt. Der Mann war jetzt zufrieden und zeigte die Vase seinem Freund. Der Freund verstand. Er bewunderte die Vase und wusste das, was sein Freund getan hatte, sehr zu schätzen. Das ist eine wahrhaft japanische Geschichte. Wer sie verstanden hat, versteht wie Japaner Schönheit in den Dingen sehen, die nach menschlichem Maßstab imperfekt aussehen mögen, aber nach den Maßstäben der Natur perfekt sind. Die Japaner haben auf die gleiche Weise gelernt die Armut zu akzeptieren. Sie haben sie umarmt und erobert. Sie haben ihre Schönheit entdeckt. Das ist ganz wunderbar. Japans Armut war seine Stärke.“

Diese Haltung gegenüber den Dingen, von der diese Geschichte erzählt, hat sowohl einen ökonomischen als auch einen ökologischen Hintergrund. Wichtiger aber noch  ist der spirituelle Hintergrund. Denn hinter den ökologischen und ökonomischen Fragen, die sich im Zusammenhang stellen, verbergen sich existentielle Fragen.

In unperfekten Dingen kann eine Schönheit erkannt werden.
Foto: distel2610/Pixabay

Wabi Sabi

Das japanische Schönheitsempfinden war über sehr lange Zeit von einer philosophischen Haltung gegenüber Dingen geprägt, die einen Zen-buddhistischen Hintergrund hat. Es beruhte auf folgenden geistigen Grundlagen: Der Liebe zum Einfachen, der Liebe zum Unperfekten und der Liebe zum Vergänglichen. Zu Ende gedacht, könnte mach auch von einer tiefen Liebe zum Leben selbst sprechen.

Dies führt uns sehr schnell auch zur anderen Seite der Dinge. Es führt uns zu Menschen, die die vielen überflüssigen Dinge produzieren müssen. Die jeden Tag die Erfahrung machen, dass das, was sie herstellen, so schnell an Wert verliert. Unsere auf Wachstum angewiesene Wirtschaftsweise macht aus Menschen Maschinen, die perfekt funktionieren müssen,  damit am Ende immer mehr und immer schneller möglichst  perfekte Dinge verkauft werden können, die sehr schnell nichts mehr wert sind. Dieses Unglück der Arbeit wird ihnen mit einem Einkommen schmackhaft gemacht, das ihnen ermöglicht, an diesem weltweiten Konsumrauschen teilzuhaben. Und sei es nur im 1-Euro-Laden. Sie sind wie die Hamster im Käfig gefangen und sind gezwungen, das Rad am Laufen zu halten. Überforderung und Unterforderung gehen Hand in Hand.

Wo sind die Alternativen?

Solange wir nicht die Arbeit und das Produkt ganzheitlich betrachten, sind wir noch nicht in einer wirklich humanen und nachhaltigen Gesellschaft angekommen. Solange wir einander zur Maschine degradieren, die zu funktionieren hat, sind wir nicht am Ziel. Das Schöne und das Gute sind nicht voneinander zu trennen.

Wo Menschen mit Respekt vor sich selber und der Natur einer Arbeit nachgehen können, die sie um ihrer selbst (der Arbeit selbst) willen gerne tun, entstehen in der Regel auch Produkte oder Dienstleistungen, die nachhaltig sind und die Achtsamkeit verdienen.

Nichts zu kaufen kann daher nur den Anfang sein. Teilen und Tauschen, Instandhalten, Reparieren und Modernisieren bzw. Re- und Upcyling machen diese Haltung leicht und sind auch dauerhaft zukunftsfähige Alternativen.

Eine in einem umfassenden Sinne humane und nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise, in der jede*r auf eine umfassende Art und Weise er/sie selber werden darf, ist das Ziel.

Über die Autorin
© Christine Ax

Christine Ax, geboren 1953, hat sich seit den 90er Jahren als Wissenschaftlerin und Autorin mit vielen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung beschäftigt und viel publiziert. Ökologisches Wirtschaften, Nachhaltigkeit und Handwerk, Digitalisierung  und Wachstumskritik waren Themenschwerpunkte. Sie ist Initiatorin des Zukunftsrates Hamburg, des Runden Tisches Reparatur (www.runder-tisch-reparatur.de) und des Ernährungsrates in Kiel (www.kieler-ernährungsrat.de).