Degrowth-Somerschule – ein Interview mit Andrea Vetter

Seit 2015 gibt es die Degrowth-Sommerschule, die im August 2019 auf dem Klimacamp Leipziger Land in die fünfte Runde geht. Die Kurse der Sommerschule beinhalten Ideen und Visionen “für eine soziale, ökologische und demokratische Gesellschaft”. Andrea Vetter vom gemeinnützigen Veranstalter “Konzeptwerk Neue Ökonomie” hat mit uns über die Sommerschule und Postwachstum im Allgemeinen geredet.

Die Degrowth-Summerschule 2018, © Konzeptwerk neue Ökonomie

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Können Sie bitte kurz etwas über das Konzeptwerk Neue Ökonomie erzählen?

Andrea Vetter (AV): Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist seit 2011 ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Wir sind der Überzeugung, dass die Wirtschaft dafür da ist, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Die derzeitige Art zu Wirtschaften verfehlt diese Ziele weit: Sie ist undemokratisch und instabil. Sie erzeugt Reichtum für Wenige, aber Ausgrenzung und Armut für Viele. Durch die Umweltzerstörung werden diese Ungerechtigkeiten noch weiter verschärft und unsere Lebensgrundlagen vernichtet. Doch bislang ist die Wirtschaftspolitik vom Wachstumsgedanken dominiert, von Konkurrenz statt Kooperation. Das liegt vor allem an Machtungleichheiten, die zu ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten führen. So können diejenigen, die vom Wirtschaftssystem maßgeblich profitieren, ihre Interessen gegen die Bedürfnisse der Mehrheit durchsetzen.

Um dem zu begegnen, ist eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft dringend notwendig. Dafür gibt es keinen Masterplan: Wir verstehen uns als Teil einer Bewegung, welche viele Wege sucht und zusammenführt. Denn die nötigen Veränderungen sind vielschichtig und bedeuten eine weitgreifende Umstellung unserer Lebensweise.

DUS: Warum wurde die Degrowth Sommerschule gegründet?

AV: Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat zusammen mit einem großen Orga-Kreis die vierte Internationale Degrowth-Konferenz in Leipzig mit über 3000 Teilnehmer*innen organisiert. Danach haben wir darüber nachgedacht, wie wir das Thema Postwachstum weiter vermitteln können, und wie die theoretische Diskussion zu Degrowth stärker mit aktuellen politischen Kämpfen zusammengedacht werden kann. Unter dem Stichwort “Degrowth: konkret” hatten wir die Idee, Verbindungen zur Klimagerechtigkeitsbewegung zu suchen. So entstand die erste Degrowth Sommerschule, wieder von einem mehrheitlich ehrenamtlichen Vorbereitungskreis getragen, auf dem Klimacamp im Rheinland.

DUS: Was lernen Teilnehmer*innen bei Ihnen?

AV: Sie lernen in mehrtägigen Kursen einen oder mehrere Themenaspekte von Postwachstum intensiver kennen. Die Kurse werden von Expert*innen aus Bewegung, Praxis und Wissenschaft gegeben und legen großen Wert auf partizipative Gestaltung und die Anregung zu eigenständigen Auseinandersetzungen und Weiterdenken in der Workshopgruppe. Die Themen reichen von Stadtplanung über Sorgearbeit und Landwirtschaft bis hin zu Mobilität; einige sind stärker auf strategische politische Fragen orientiert, andere näher an der direkten Lebenspraxis von Menschen und etliche vermitteln auch neueste wissenschaftliche Forschung an ein breites Publikum.

DUS: Die Sommerschule fand letztes Jahr in der Nähe eines Braunkohletagebaus statt? Könnte man die Schule auch als politische Aktion ansehen?

AV: Die Sommerschule selbst ist ganz klar eine politische Bildungsveranstaltung. Sie findet aber bewusst immer auf einem Klimacamp statt. Denn das ganze Camp ist ein Ort, an dem Wissensvermittlung, lebensfreundliche und selbstorganisierte alltägliche Praxen und politische Aktion sich verzahnen. Die Sommerschule macht Mut, auch im Alltag eine postwachstumsorientierte Lebensweise zu pflegen und sich politisch zu engagieren.

DUS: Organisieren Sie auch anderweitige Veranstaltungen zum Thema Postwachstum?

AV: Ja, sehr viele. Von Einzelvorträgen über mehrtägige Workshops bis hin zu Multiplikator*innen-Fortbildungen arbeiten wir deutschlandweit intensiv zum Thema Postwachstum und sozial-ökologische Transformation. Wir publizieren auch zum Thema. So haben wir ein zweibändiges Methoden-Heft zu Wachstumskritik und Postwachstum herausgegeben: “Endlich Wachstum!”. Darin finden Lehrer*innen und Workshop-Leiter*innen Bildungsbausteine, wie sie selbst Veranstaltungen zum Thema durchführen können. Das von uns geschriebene Buch “Degrowth/Postwachstum zur Einführung” bietet einen umfassenden Überblick über den Stand der Postwachstumsdiskussion.

Über die Interviewpartnerin
©Lauren McKnown

Andrea Vetter ist Journalistin und Kulturanthropologin. Sie schreibt, forscht, begeistert, organisiert und backt Käsekuchen für einen sozial-ökologischen Wandel, vor allem für das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, das Haus des Wandels in Ostbrandenburg und die Zeitschrift Oya: enkeltauglich leben. Sie interessiert sich dabei besonders für konviviale Technik, alte und neue öko-feministische Ideen, Degrowth und gelingende Muster des Commoning.

Ist das Kunst oder kann das weg? – Interview mit Thomas Reutter

Das Künstlerkollektiv Industrietempel nutzte 2017 das Jubiläum eines Müllheizwerks für Konsumkritik der etwas anderen Art. Im Rahmen einer einstündigen Werksführung zeigte das Kollektiv häppchenweise seinen Film „Die Apologeten des Wachstums“, eine feingefühlig zusammengesetzte Videocollage frei verfügbarer Youtube-Clips.

Shoppingbegeisterte Influencer*innen, Hot-Dog-Wettesser*innen und vom Wachstum predigenden Politiker*innen tragen die Botschaft beinahe ungesagt durch den Film: Der alltägliche, uns selbstverständliche Welt des Konsums ist längst zur besorgniserregenden zur Farce geworden. Wir haben uns mit Projektleiter Thomas Reutter unterhalten, der die „Apologeten des Wachstums“ initiiert und umgesetzt hat.

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„Die Apologeten des Wachstums“ kann in voller Länge auf Youtube angesehen werden.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Ihr Film Film „Apologeten des Wachstums“ fängt unser tägliches Konsumverhalten in realsatirischer Weise ein. Welche Kritik versteckt sich dahinter?

Thomas Reutter: Unser Konsum und unser Glaube an Wirtschaftswachstum hat doch schon religiöse Züge angenommen. Das wollte ich mit dem Film vorführen: Wie absurd ist es denn, sich von ständig steigenden Produktions- und Absatzzahlen die Erlösung zu erhoffen? Ist es nicht Wahnsinn, wie die Leute eine Primark-Filiale zur Eröffnung stürmen? Warum? Da wird ja nichts verschenkt. Macht kaufen glücklich? Und macht mehr kaufen glücklicher? Mit den Konsumrausch-Folgen beschäftige ich mich als ARD-Fernsehjournalist seit 1998: Ausbeutung, Umweltzerstörung, Klimakrise… alles ist tausendfach berichtet. Wir kennen die Folgen. Deswegen habe ich im Film auch auf die Bilder von Müllbergen und Plastik im Meer verzichtet.

Aber: Warum predigen Politiker trotzdem immer noch das Credo vom Wachstum als Lösung aller Probleme? Es muss wirklich so eine Art Religion sein. Das wollte ich zeigen. Einmal keine Zahlen, Fakten, Studien! Vielleicht liegt der Schlüssel zur Veränderung auf der emotionalen Ebene, nicht auf der rationalen. Auf mich wirken die Bilder von den Hot-Dog-Helden und den Shopping-Queens wie Karikaturen. Wir haben die Konsumexzesse, den Kaufrausch, die Fresswettbewerbe deshalb mit eigens komponierter sakraler Musik und Zeitlupen überhöht. Vielleicht wird aus der Überzeichnung klar, wie grotesk unsere Konsumauswüchse geworden sind. Auch wenn ich nicht konsumsüchtig bin und meine Einkäufe nicht auf YouTube präsentiere, erkenne ich mich womöglich in den Karikaturen wieder, wie in einem Zerrspiegel.

DUS: Sie selbst sind Mitglied des Vereins „Industrietempel“. Der Name legt nahe, dass Industriestätten mehr zu bieten haben als Maschinen und Herstellungsprozesse. Wurden die „Apologeten des Wachstums“ deshalb zuerst in einem Müllheizwerk gezeigt?

Als ich den Kulturverein Industrietempel vor 30 Jahren mitgegründet hatte, gab es bei uns in Mannheim noch viele leerstehende Fabrikhallen. Manche hatten Fenster wie in Kirchen und verlassen wirkten die Anlagen auf uns, wie versunkene Tempel der Industrie. Die Produktionsstätten lagen da, wie vergessene Kultstätten. Inzwischen wurden sie abgerissen oder umgewidmet. Und wir bespielen nun auch Anlagen, die voll in Betrieb sind. Ins Müllheizkraftwerk sind wir gegangen, weil dort die Reste unseres Konsums liegen und verbrannt werden. Unglaubliche Mengen.

DUS: Funktioniert die Kombination aus drastischen Videobildern und echten Müllbergen? Mit welchem Fazit sind die Besucher*innen aus dem Projekt gegangen?

Reutter: Für mich war es richtig, Die Apologeten des Wachstums auf den Kontrollmonitoren der Müllverbrennungsanlage zu zeigen, auf den Bildschirmen der Kranführer, die den Müll in die Verbrennungsöfen hieven und sie an die Wand des Müllbunkers zu projizieren. So hatten die Zuschauer die Zusammenhänge ständig im Bewusstsein, ohne dass im Film auch nur einmal das Wort „Müll“ fallen musste.

Ich habe bei den Vorführungen oft in die Gesichter der Betrachter geschaut. Viele staunten ungläubig, manche ekelten sich oder schüttelten die Köpfe. Der Film hat aber auch in einer Kirche und in Schulen starke Reaktionen hervorgerufen. Das persönliche Fazit der Zuschauer*innen wird sicher erst mal sein: so verrückt bin ich zum Glück nicht! Aber vielleicht ertappt man sich dabei, auch selbst anfällig zu sein, für Konsumrausch und den unbeirrbaren Glauben an Wachstum.

DUS: Die Führungen durch das Müllheizwerk waren auf dessen Jubiläum beschränkt und den Film kann vorerst nur noch auf YouTube ansehen. Shoppende Youtuberinnen, Foodporn und Hot-Dog-Wettessen gibt es nach wie vor. Wie schätzen Sie die Wirksamkeit Ihrer Konsumkritik ein?

Reutter: Die Wirksamkeit lässt sich nicht messen. Ich bin mir aber sicher, dass der Film beim Betrachten auf der Gefühlsebene etwas auslöst. Die Bilder bleiben im Gedächtnis, verbunden mit dem Gedanken: So will ich nicht sein! Wenn das auch nur bei ein paar Leuten zum Nachdenken anregt, ist schon etwas gewonnen. Wirksamer wäre er natürlich, wenn den Film viele Menschen sehen und teilen. Mein Traum wäre eine Aufführung in den Fluren des Deutschen Bundestags, im Wirtschafts- und im Umweltministerium oder gerne auch in einer großen Mall.

DUS: In unserer #kaufnix-Kampagne fordern wir Menschen dazu auf, das eigene Konsumverhalten zu überdenken und auf das Kaufen zu verzichten. Was müssen wir Ihrer Ansicht nach tun, um unsere Zukunft nachhaltig lebenswert zu gestalten?

Reutter: Ha! Jetzt komme ich mir selber schon wie ein Prediger vor. Darf ich mal den Papst zitieren? Franziskus I schreibt: „Noch ist es nicht gelungen, ein auf Kreislauf ausgerichtetes Produktionsmodell anzunehmen, das Ressourcen für alle und für die kommenden Generationen gewährleistet und das voraussetzt, den Gebrauch der nicht erneuerbaren Reserven aufs Äußerste zu beschränken, den Konsum zu mäßigen, die Effizienz der Ressourcennutzung maximal zu steigern und auf Wiederverwertung und Recycling zu setzen. Die Auseinandersetzung mit dieser Frage wäre ein Weg, der Wegwerfkultur entgegenzuwirken, die schließlich dem gesamten Planeten schadet.“ (Enzyklika Laudato Si, 2015) Das ist aus meiner Sicht auch heute, vier Jahre später, noch absolut gültig und aktuell.

„Wir haben uns eingeredet, permanentes Wirtschaftswachstum sei die Antwort auf alle Fragen“, sagte Bundespräsident a.D. Horst Köhler 2009 in seiner Berliner Rede. Wir müssen uns eingestehen, dass Wachstum und Konsum nicht die Lösung unserer Probleme sind. Wenn der Film einen Impuls dazu gibt, diese herrschende Meinung infrage zu stellen, dann ist er wirksam.

Über den Interviewpartner
© Thomas Lohner

Thomas Reutter (1967 geboren) ist seit 1989 beim Industrietempel. Er war an mehr als 50 außergewöhnlichen Ausstellungen und Aufführungen für außergewöhnliche Räume beteiligt, meist an der Planung, Organisation und Durchführung der Veranstaltungen.

Reutter ist Redakteur und Filmemacher beim SWR. Für das ARD Politikmagazin Report Mainz berichtete er von 1998 bis 2013 auch über Themen wie Ausbeutung, Massentierhaltung und Überfischung. Für einen Arte-Themenabend arbeitet er gerade an einer langen Fernsehdoku über die weltweite Urwaldabholzung.

Rettermarkt in Berlin – ein Interview mit Raphael Fellmer

Geschenkte Kleidung, Lebensmittel aus der Tonne, ein Leben ganz ohne Geld: Für Raphael Fellmer war das fünf Jahre lang Alltag. Mit seiner Familie hat er im Geldstreik gelebt, um ein Zeichen gegen Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung zu setzen. Inzwischen hat er aus seiner Haltung einen gangbaren Weg gemacht, mit dem alle Menschen ein ähnliches Zeichen setzen können.

Denn Raphael Fellmer ist Gründer des Berliner Rettermarktes „Sirplus“, in dem ausschließlich vor der Tonne gerettete Lebensmittel über den Warentisch gehen. In den vergangenen Jahren hat er vier seiner Rettermärkte in Berlin eröffnet. Wir haben den Lebensmittelaktivisten in einem davon einen Besuch abgestattet:

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#kaufnix | Interview mit Raphael Fellmer. © Johannes Kaczmarczyk/Deutsche Umweltstiftung

Das Leben in suffizienten Gemeinschaften – ein Interview mit Andreas Sallam

Andreas Sallams Vision ist es, im Einklang mit anderen Menschen und der Natur zu leben. Foto: Lukas / Pexels.

Andreas Sallam ist ein Nachhaltigkeits-Allrounder: Er ist IT-Manager, Musiker und Mitbegründer mehrerer Initiativen für für einen ökosozialen Wandel. Im Interview spricht er über das Leben in suffizienten Gemeinschaften, die Zukunft der Nachhaltigkeitsszene und worauf es beim Streben nach einem guten Leben für alle wirklich ankommt.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Die #kaufnix-Kampagne fordert „Schluss mit unbedachtem Konsum“. Schaffen wir so den Weg in eine nachhaltige Zukunft?

Andreas Sallam (AS): Hinter dem Kaufen steht immer ein Bedürfnis, das durch Werbestrategien gefüttert wird. Die suggerieren einem, dass man ein bestimmtes Produkt unbedingt braucht. Ich glaube nicht, dass wir weiter kommen, indem wir den Menschen sagen „lasst das“. Ich halte viel mehr davon, wenn Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass es ihnen nicht gut tut, dieses oder jenes zu kaufen. Zum Beispiel die Schokolade, die vermeintlich glücklich macht, aber hinterher wieder dazu führt, dass mensch dicker wird und sich dadurch eigentlich nicht gesünder fühlt.

Mensch muss sich dazu die eigenen Bedürfnisse klarer machen. Zum Beispiel, dass es uns besser geht, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind. Wenn wir diese Zusammenhänge erkennen, kommen wir auch zu der Erkenntnis, dass wir dieses oder jenes gar nicht brauchen, weil es uns nicht gut tut. Und dann verändert mensch sein Konsumverhalten automatisch.

DUS: Wie können wir diesen persönlichen Bewusstseinswandel fördern, ohne Menschen mit erhobenem Zeigefinger dazu zu ermahnen?

AS: Ich glaube, das wichtigste ist dabei, dass wir aus den patriarchischen Fallstricken unserer Gesellschaft herausfinden. Das heißt, Vertrauen zu fördern, indem wir uns gegenseitig Wahrnehmung verschaffen. Sodass eine Kultur entsteht, innerhalb der wir selbst entscheiden können, was richtig und was falsch ist, in der wir aber auch Fehler machen dürfen und anderen ihre Fehler nachsehen.

Die Einladung ist, sich selbst und die Anderen wieder mehr wahrzunehmen, zu spüren und besser zusammen zu kommen. So entsteht eine ganz neue, andere Kultur des Miteinanders, die nicht konkurrierend ist, sondern in der Menschen sich gegenseitig etwas gönnen oder wir uns etwas schenken, ohne etwas zurückzuerwarten. Das führt dann wiederum dazu, dass die Strukturen sich ändern und die Hierarchien verschwinden. Ich glaube, dass es gesund ist, wenn wir zurück kommen zu einer Kultur, in der wir uns im Kleinen wahrnehmen und von dort aus zu einem größeren System finden.

DUS: Du bist Mitbegründer der Herzensgemeinschaft Wolfen, einer ökologischen, nachhaltigen und suffizienten Lebensgemeinschaft. Sind solche idyllischen Ökodörfer der richtige Ort, um sich im Kleinen selbst zu bestimmen?

AS: Ich bin kein Freund davon, einfach in die Idylle zu gehen, in irgendeine Landschaft, in der es schön ist und leicht, miteinander zu leben, einfach weil die Natur dort toll ist. Meine Erfahrung ist, dass es meistens nicht am Ort liegt, sondern am Zwischenmenschlichen. 

Der erste Anlauf, den wir mit der Herzensgemeinschaft Wolfen gemacht haben, ist daher auch mehr oder weniger gescheitert. Erstens waren Menschen dabei, die nicht in der Lage waren, bei sich selbst zu reflektieren, sich zu hinterfragen oder nach den eigenen Schatten zu suchen. Der zweite große Fehler war der, dass wir unsere Vision davon, die Natur und freien Felder umzugestalten, nicht hinreichend mit allen Menschen geteilt haben. Der dritte und vielleicht auch massivste Fehler war, dass ich mich nicht durchgesetzt habe, was die Begleitung durch neutrale Dritte angeht. Es braucht eigentlich immer Außenstehende, die nicht am Prozess beteiligt sind und die von außen sehr klar sehen können, wo die Probleme sitzen. Denn die Beteiligten sehen diese Probleme irgendwann nicht mehr, weil sie „betriebsblind“ werden.

DUS: Eurer Vision von der Umgestaltung der freien Natur sollte für den Übergang ein gemeinsames Leben im Plattenbau vorausgehen. Warum gerade dort?

AS: Ich glaube, dass es wertvoll ist, mit Menschen zusammen zu leben, die sich im Moment überhaupt nicht abgeholt fühlen, sondern ganz im Gegenteil sich eher abgehängt vorkommen. Das ist in der Platte öfter der Fall. Es ist, glaube ich, wichtig, dass gerade in diesem Umfeld andere Menschen leben, die denen vor Ort Aufmerksamkeit schenken und die Möglichkeit geben, wahrgenommen zu werden, egal wo sie stehen oder wer sie sind. Somit können wir ihnen, ohne missionarisch wirken zu wollen, Alternativen zeigen und sie einladen, auch andere, gemeinschaftliche Erfahrungen zu machen, sofern sie das möchten.

DUS: Was zeichnet diese Alternative aus, die ihr in der Herzensgemeinschaft vorleben wollt?

AS: Ich glaube, der wichtigste Wert ist Respekt für und Würdigung von anderen Lebensformen und von Anderssein generell. Dabei anders zu kommunizieren, anders miteinander umzugehen und die eigenen Bedürfnisse sowie die der Anderen in einer gesunden Weise wahrzunehmen und zu unterstützen.

Eine Welt, in der wir durch Abgrenzung glänzen, durch Nicht-Vertrauen, in der andere nicht sehen dürfen, wo ich mich klein, schwach, unfähig oder einsam fühle, oder in der ich meine Energie nicht zeigen darf, ist unglaublich krank. Ich glaube, es ist wichtig, eine Kultur der Möglichkeiten zu schaffen, in der wir Räume haben, wo jeder er oder sie selbst sein darf. Die Hauptsache ist, dass es Begegnung, ein gegenseitiges Wahrnehmen und ein würdevolles Miteinander gibt. Daran fehlt es oft wegen Zeitmangel, Überforderung, wegen zu viel Stress oder vermeintlichen Hamsterrädern und anderen Routinen, die wir meinen erledigen zu „müssen“.

Wenn wir ein Gutes Leben für alle anstreben, bedarf das auch immer eines eigenen Zurücknehmens und eines Nachforschens, wo die eigenen Schattenseiten liegen. Die Frage ist, wie wir das Paradies, das eigentlich da sein könnte, gemeinschaftlich mit anderen erreichen können.

DUS: In suffizienten Kommunen wie der Herzensgemeinschaft wird genau das versucht, die gegebene Natur gemeinschaftlich zu nutzen. Ist das der Weg in eine nachhaltige Zukunft?

AS: Wir haben den Anspruch, Kreisläufe zu generieren, die nicht auf Kosten Dritter oder auf Kosten der Erde gehen, sondern berücksichtigen, dass acht Milliarden Menschen leben wollen. Mensch kann sich einmal vor Augen führen, wie viele Produkte weggeworfen werden oder wie viel Anbaufläche weltweit dafür verwendet wird, Fleisch herzustellen. Und das ist dann noch nicht einmal gesundes Fleisch, sondern aus Massentierhaltung, die hormongesteuert auf schnelles Wachstum aus ist und nur der Rendite dient. Damit werden vermeintliche Glücksgefühle bedient, denn Menschen denken, wenn sie kein Fleisch essen gehören sie nicht dazu.

Das sind letztlich alles Kopfgeschichten. Ich bin in vielen Ökodörfern unterwegs, wo traumhafte Gerichte erzeugt werden, vegetarisch und vegan. Da kann ich nur sagen, dass das auch anders geht und mensch auch anders leben kann. Dabei bin ich selbst gerade kein Veganer und esse auch gern manchmal Fleisch – aber eben nur, wenn die Tiere gesund in einem gesunden Kreislauf leben und nicht nur industriell ausgebeutet werden. Das Gleiche gilt für mich aber auch für Pflanzen. Ich möchte keine Tomaten aus Massenanbau essen oder Bio-Kartoffeln, die aber in Ägypten mit Grundwasser erzeugt wurden, das dort in der Folge immer mehr versalzt.

Es gibt so viel Müll in dieser Welt, der nur auf Renditenorientierung basiert. Wenn mensch sich damit beschäftigt, welche Möglichkeiten wir haben, indem wir zum Beispiel Permakultur einsetzen, dann wird schnell klar, dass wir auch andere Systeme schaffen können. Systeme, die erstens unseren Planeten gesünder behandeln, zweitens keine Ressourcen vernichten, die elementar für diesen Planeten sind, und drittens eine Verteilungsgerechtigkeit schaffen, die uns alle wesentlich besser zurecht kommen lässt.

DUS: Bewegungen wie Fridays for Future legen nahe, dass diese Haltung immer mehr Unterstützer*innen findet. Du selbst bist in der Nachhaltigkeitsszene sehr aktiv und arbeitest unter anderem an der Vernetzung verschiedener Akteure. Was ist dein Eindruck, sind suffiziente Lebensstile mehrheitsfähig?

AS: Meine Wahrnehmung ist, dass wir immer mehr werden. Deswegen haben wir das Bündnis für den sozial-ökologischen Wandel gegründet. Ich erlebe seit fünf Jahren, dass es immer mehr Aktive gibt, die aber in der Regel viel zu wenig miteinander zu tun haben und sich viel zu wenig austauschen. Zum Beispiel Extinction Rebellion oder die heranwachsenden Aktiven von Fridays for Future. Das sind wahnsinnig spannende Kreise und es werden auch immer mehr, die ein Bewusstsein dafür haben, dass es so nicht weitergehen kann und es eine Umsteuerung braucht.

Das System, das wir haben, ist ein System, das sich seit Jahrhunderten gebildet hat, eigentlich aus patriarchischen Bestrebungen heraus: immer schneller, besser, größer, weiter, toller zu werden und so Konkurrenz untereinander statt ein Miteinander zu fördern. Das wiederum bringt dann eine Spezialisierung und Fokussierung auf renditenorientierte Systeme hervor. Und diese Fokussierung auf Rendite fördert zwar alles, was Gewinnoptimierung bringt, verhindert aber all das, was mit Rendite nicht abzugreifen ist. Zum Beispiel ethische oder moralische Systeme und all das, was Menschen eigentlich ausmacht, alles, was unsere Herzen betrifft. Diese Ebenen werden gar nicht berücksichtigt, weil es meist nur darum geht, Quartalszahlen zu steigern. Das hat natürlich eine fatale Wirkung darauf, wie wir miteinander leben und was dabei im Fokus steht.

Ich selbst bin davon überzeugt, dass alle, die noch in den alten Systemen hängen, oft nur von dem ausgehen, was sie kennen. Viele Menschen leben eigentlich in der Vergangenheit und wissen es bloß nicht. Sie haben gar nicht den Zugang zu Systemen wie Soziokratie oder anderen Methoden wie Community Building oder Dragon Dreaming. Ich bin immer wieder tief berührt, was zwischen Menschen damit möglich ist. Es ist erstaunlich, was es bewirken kann, wenn sich Menschen auf solche Methoden einlassen und lernen davon abzusehen, andere überzeugen zu müssen, die eigene Meinung als wichtiger oder richtiger zu betrachten und vermeintliche Gegensätze als Bereicherung zu erkennen und akzeptieren.

DUS: Wie schaffen wir es, dieser Renditenorientierung zu trotzen und den sozial-ökologischen Wandel einzuleiten? Reicht es, alternative Methoden der Kommunikation auszuprobieren und uns besser zu vernetzen?

AS: Das ist das Bemühen. Wir als Wandelbündnis versuchen, nicht zu bestimmen, wer genau was tut, sondern uns als Dienstleister zu begreifen und eine Infrastruktur für Akteure des sozial-ökologischen Wandels aufzubauen. Dadurch können sie unter anderem zusammen arbeiten und gemeinsame Interessen auch gemeinsam vertreten. Es wäre unglaublich gut, wenn wir unsere Interessen bündeln und diese zu einer wesentlich stärkeren, präsenteren und auch resilienteren Struktur entwickeln, ohne Vielfalt zu schwächen. Wir sind Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen. Und wenn wir das realisieren, bekommen wir auch eine wesentlich tragfähigere gesellschaftliche Relevanz. Die Einladung ist, dass wirklich viele mitmachen, damit wir auch in der Gesellschaft deutlicher wahrgenommen werden und so wir auch andere abholen können, die vielleicht auch noch nicht den Zugang zu dieser Art ganzheitlichen Herangehens haben.

Wenn wir immer mehr Akteure werden und auch wahrnehmen, dass wir viele sind, werden letztlich auch die Forderungen mehr Gewicht bekommen, die wir an die politische, aber auch an die gesellschaftliche Willensbildung stellen. Dazu gehören nicht zuletzt Gremien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Dort herrscht noch viel „Alte-Welt-Denke“ und unsere Kreise werden als Esoterik, Spinnertum oder selbstverliebtes Müsliessen abgetan. Das liegt an mangelnder Erfahrung damit. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir alle, die wir anders denken, uns gegenseitig stärken und auch andere dazu einladen, eine ähnliche Erfahrung machen zu können.

Wer Interesse am Mitmachen hat, kann sich gern unter der im Entstehen befindlichen Seite  www.wandelbuendnis.org bei uns melden.

Über den Interviewpartner
© Andreas Sallam

Getreu seinem Motto „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“ widmet Sallam sich als IT-Manager und Aktivist dem Aufbau nachhaltiger Vernetzungsstrukturen und dem ökosozialen Wandel. Er ist unter anderem Gründer des gemeinwohlorientierten und nachhaltigen IT-Unternehmens Digital Builders und des green net project, Mitgründer des Transition-Ökodorfs „Herzensgemeinschaft Wolfen“ und des Bündnis für den sozial-ökologischen Wandel sowie Mitglied des Koordinationskreises deutscher Transition Initiativen.

Zuspruch für Schulkinder – ein Interview mit Lehrenden

Heute, 24.05.2019, geht es bei dem Streik nicht nur um Umwelt- und Naturschutz. Es soll auch auf die Europawahl aufmerksam gemacht werden, die am Sonntag stattfindet.

Zahlreiche Schülerinnen und Schüler nehmen weiterhin an der internationalen Klimabewegung „Friday for Future” teil . Für die Schulen scheint es jedoch ein schwieriges Thema zu sein. Trotzdem sieht man einige Lehrer*innen, die sich mit ihren Schulklassen an dem wöchentlichen Streik beteiligen. Wir haben zwei Lehrkräfte über ihre Perspektive zum Thema Umweltschutz und zur Klimabewegung interviewt.

Natalie V., Englischlehrerin

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Wie stehen Sie zum Thema Umweltschutz?

Natalie V. (Natalie): Mir ist das Thema Umweltschutz sehr wichtig. In den Schulen kommt das Thema zu kurz. Es ist jedoch u.a. Aufgabe der Schulen, Schüler über den Klimawandel und dessen Dringlichkeit zu informieren und das Interesse zu wecken. Denn es ist ihre Zukunft, um die es geht. Knapp vor dem Abschluss der Schüler*innen haben wir dann doch noch die Chance bekommen, über diese Thematik zu unterrichten. Aus diesem Grund bin ich im Rahmen des Unterrichts mit meiner Englischklasse zum Klimastreik erschienen.

DUS: Was ist Ihre Meinung zu „Fridays for Future“?

Natalie: Ich finde gut, dass die Schüler*innen zu dem Streik gehen. Meiner Meinung nach sollten sogar noch viel mehr hingehen.

DUS: Welche Rolle spielt das Thema Umweltschutz im Lehrplan, insbesondere Suffizienz?

Natalie: Ich kann nur vom Englischlehrplan sprechen. Das Thema Umweltschutz hat dort keinen großen Raum. Dem Thema wird höchstens zwei Monate eingeräumt. Das wechselt jedoch von Jahr zu Jahr. Einmal war „Global Warming” (zu Deutsch: Klimaerwärmung) vor drei Jahren sogar ein Prüfungsthema. Aber auch hier wechseln die Zentralthemen jährlich.

Mike B., Geografielehrer

DUS: Wie stehen Sie zum Thema Umweltschutz?

Mike B. (Mike): Ich glaube, es gibt momentan nichts Wichtigeres, neben der Friedenssicherung und Armutsbekämpfung. Auf Grund unser zunehmend vom Konsum und Wohlstand geprägten imperialen Lebensweise, größtenteils ohne Rücksicht auf Mensch, Tier und Umwelt, haben wir in den letzten 20-30 Jahren unseren Planeten vergessen. Vielleicht sollte man überdenken, ob man den Reichtum einer Gesellschaft immer nur über Wachstum, nackte Zahlen oder die Größe von Geländewagen definiert.

DUS: Was ist Ihre Meinung zu „Fridays for Future”?

Mike: Ich unterstütze das voll und ganz und habe die Diskussion in den Unterricht getragen. Ich möchte, dass sich die Schülerinnen und Schüler gesellschaftlich engagieren. Das brachte mir leider nicht nur Verständnis von Eltern- und Lehrerseite ein.

DUS: Welche Rolle spielt das Thema Umweltschutz im Lehrplan, insbesondere Suffizienz?

Mike: Tatsächlich spielt die Nachhaltigkeit und der Ressourcenschutz eine bedeutende Rolle im Lehrplan Geografie: Aufbauend auf Bevölkerungsentwicklung und Migration in der siebten Klasse, Tropischer Regenwald und Sahelsyndrom, Armut und Reichtum in der achten Klasse, Ressourcenverbrauch und Klimawandel in der neunten Klasse und schlussendlich Globalisierung in der zehnten Klasse. Eine großartige, adressatengerechte und progressiv aufgebaute Reihe. Darüber hinaus gibt es viele Anknüpfungspunkte mit anderen Fächern.

Da wir auf einer Insel unterrichten, hat das besondere Profil unserer Schulfarm Scharfenberg zusätzlich einen positiven Einfluss auf unsere Schülerschaft

Wir bedanken uns bei Frau Natalie V. und Herrn Mike B. für das Interview.

Die Klimabewegung „Fridays for Future” ist für Schüler*innen kein Grund zum Schwänzen und das sieht auch zum Teil die Lehrerschaft. Denn der Schutz der Erde geht nicht nur die Kinder, sondern uns alle an!

Am 26.05.2019 ist Europawahl. Setzen auch Sie Ihr Kreuz für unsere Umwelt. #voteclimate

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