Die notwendige Nachhaltigkeitstransformation der Gesellschaft stellt eine immense Herausforderung dar. Kommunen als Orten des alltäglichen Lebens der Menschen wird dabei eine wichtige Rolle zugeschrieben. Zugleich sehen sich viele von ihnen aufgrund mangelnder Ressourcen und einer großen Aufgabenfülle als überlastet an. Welche ökonomischen Weichenstellungen braucht es mithin im föderalen Mehrebenensystem und welche Relevanz können Suffizienzstrategien bei der Lösung dieses Dilemmas haben? Diese Fragen werden im Interview mit Oliver Wagner erörtert.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Herr Wagner, Sie haben im Rahmen eines kürzlich beendeten Projektes des Wuppertal Instituts „Gute Beispiele für eine gelingende Transformation“ erforscht. Bitte erläutern Sie uns, worum es in diesem Projekt ging.
Oliver Wagner (OW): Mit dem Wahlkampf-Slogan „It’s the economy, stupid!“, gewann Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen. Seitdem wird dieser Spruch öfters auch abgewandelt verwendet, wie beispielsweise in der Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung „It’s the politics, stupid – Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für nachhaltige Lebenswelten“. Vor dem Hintergrund dieses Papiers wurde das Wuppertal Institut vom Rat für Nachhaltige Entwicklung beauftragt, Beispiele einer gelungenen Transformation zu recherchieren und daraus Gelingensfaktoren abzuleiten. Dabei sollten verschiedene Transformationsbereiche, also Verkehr, Ressourcen, Energie, Flächenverbrauch usw. adressiert werden. Wichtig war außerdem, dass verschiedene Politikinstrumente vorgestellt werden, welche die Daseinsvorsorge, Nachhaltige Infrastrukturen, den Um- bzw. Abbau umweltschädlicher Subventionen, das Feld der Sharing Economy, Ökonomische Anreiz- und Steuerungsinstrumente sowie ordnungsrechtliche, also regulatorische Instrumente berühren.
DUS: Wenn man auf die 14 im Projekt betrachteten Maßnahmen schaut, erkennt man, dass diese die drei Nachhaltigskeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz berücksichtigen. In der Praxis wird letztere jedoch häufig etwas stiefmütterlich behandelt. Woran liegt das aus Ihrer Sicht und wie ließe sich das ändern?
OW: Erlauben Sie mir zunächst eine Einordnung der drei Säulen der Nachhaltigkeit. Eine vorwiegend technische Konsistenzstrategie, die durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die schnellen Markterfolge erneuerbarer Energien große Fortschritte erzielen konnte, ist in den Augen vieler Menschen Sinnbild der Energiewende. Doch für eine erfolgreiche Energiewende sind auch wirksame Effizienz- und Suffizienzstrategien notwendig. Diese beiden weisen jedoch bisher noch erhebliche Umsetzungsdefizite auf, vor allem die Suffizienz. Um es mit einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: wenn eine Photovoltaikanlage mit einem Batteriespeicher (Konsistenzstrategie) dazu genutzt wird, eine Vielzahl von LED-Strahlern zu betreiben (Effizienzstrategie), um im Vorgarten einer Reihenhaussiedlung die Gartenzwerge zu beleuchten, ist dies konsistent und effizient, es bleibt aber Verschwendung. Ohne Suffizienz ist daher die Gefahr groß, dass es zu einer effizienten Verschwendung kommt. Denn in dem Maße, wie technische Innovationen, beispielsweise Photovoltaik oder effiziente LED-Leuchtmittel, immer günstiger werden, nehmen deren Einsatzbereiche zu. In diesem Kontext hat sich auch unser Verständnis von Suffizienz verändert. Wurden darunter früher oftmals Verzichtsaspekte verstanden, reden wir heute vermehrt darüber, den Verbrauch lediglich nicht zu steigern. Denn wir sehen in sehr vielen Anwendungsbereichen, dass Klimaschutz- und Effizienzgewinne ausbleiben, weil beispielsweise die Kühlschränke, die Wohnfläche pro Person, die Bildschirmdiagonalen von Fernsehgeräten, die Autos usw. immer größer werden.
Aber um Ihre Frage zu beantworten, woran das liegt: Da ist mein Eindruck, dass dem Begriff Suffizienz noch zu stark das Stigma des negativen Verzichts anhaftet. Dass die Nachteile kommuniziert werden, die Vorteile aber nicht. Dabei liegen viele Vorteile auf der Hand und die zeigen sich vor allem in kooperativen Formen des Zusammenwirkens. Im gemeinsamen Nutzen, bis hin zu der persönlichen Beziehungsebene: Wer zu zweit oder sich mit noch mehr Leuten eine Wohnung teilt, braucht weniger Platz, weniger Ressourcen, weniger Energie und hat dennoch viele Vorteile, wie soziale Beziehungen, weniger Aufwand für Hausarbeit usw. Wer statt alleine mit dem Auto zu fahren den Bus nimmt, kann die Fahrtzeit nutzen, um andere sinnvolle Dinge zu erledigen, zu lesen oder zu arbeiten und braucht am Ende nicht einmal einen Parkplatz suchen. So gibt es viele Beispiele, doch ihnen wohnt immer auch eine Ermöglichungsvoraussetzung inne. Wenn der Bus nicht fährt oder nicht so fährt, wie ich ihn brauche, wenn er überfüllt, vielleicht sogar dreckig und überfüllt ist, dann schwinden die Vorteile schnell dahin. Wenn es für ein Paar teurer wird, nach dem Auszug der Kinder eine kleine Wohnung zu mieten, als in der viel zu großen alten Wohnung zu bleiben, dann ist der Vorteil ebenso futsch, wie in dem Fall, wo eine Reparatur teurer ist als die Neuanschaffung. Kurzum: Die Rahmenbedingungen für einen suffizienten Lebensstil sind trotz vieler Vorteile schlecht. Das liegt auch daran, dass wir in einem auf Wachstum getrimmten System leben, in dem es von allem immer mehr braucht.
Im Bericht zeigen wir mit unseren Beispielen, dass Politik dennoch Gestaltungsmöglichkeiten hat, um Suffizienzanreize für Bürger*innen zu setzen. Unsere Beispiele zeigen, dass Anreize gegeben werden können, die zu einer individuellen Verhaltensänderung führen, die mit weniger Energie- beziehungsweise Ressourcenverbrauch verbunden ist. Das sind z.B. Ermöglichungsstrukturen wie beim kostenfreien ÖPNV, der Bibliothek der Dinge, durch Autostilllegungsprämien und kommunale Wohnraumagenturen.
DUS: In Ihrem Forschungsvorhaben setzen Sie sich auch mit den Wechselwirkungen zwischen Kommunal- und Bundesebene auseinander. Ist das föderale System aus Ihrer Sicht eher ein Vor- oder Nachteil bei der Umsetzung von Transformationsprozessen zur Stärkung der Nachhaltigkeit?
OW: Wichtig ist zunächst einmal deutlich zu machen, dass Transformationsprozesse vor allem in den Kommunen operational umgesetzt werden. Die Kommunen sind somit im föderalen System zentrale Transformationsakteure. Im Kern ist das föderale System ein Vorteil, denn die Kommunen sind viel näher an den Menschen und der täglichen Lebensrealität, den Herausforderungen und Freuden als die Landes- oder Bundesebene. Sie sind aber auch strukturell unterfinanziert und benötigen daher dringend den finanziellen Spielraum, den es für diese wichtigen Aufgaben braucht. Derzeit erleben aber viele Menschen den Staat, allen voran die Kommunen, als umsetzungsschwach in Bezug auf Transformationsaufgaben. Die Kommune ist dabei der Ort, wo die meisten Menschen den Staat unmittelbar erleben, denn dort gehen sie oder ihre Kinder zur Schule, dort müssen sie ins Rathaus oder treffen sich zum Vereinssport in einer städtischen Sporthalle oder einem Schwimmbad. Da ist dann oftmals nicht zu erkennen, dass die öffentlichen Einrichtungen ihrer Vor- und Leitbildfunktion ausreichend nachkommen. Die Sorge, dass der Staat zentrale Dienstleistungen nicht mehr zufriedenstellend bereitstellt, weil z. B. öffentliche Gebäude und Infrastrukturen baufällig und sanierungsbedürftig sind, der ÖPNV eingeschränkt wird, Bücken einstürzen und Schultoiletten stinken ist ja leider nicht unbegründet. Für ein Gelingen der Transformation kommt es aber darauf an, Zukunftsinvestitionen in technische, sowie soziale und kulturelle Infrastrukturen anzustoßen, vor allem in den Kommunen.
Das Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen hat kürzlich zusammengetragen, was in den verschiedenen Ebenen insgesamt an Investitionen nötig wäre und kommt dabei auf einen zusätzlichen Bedarf von 782 Milliarden Euro bis 2030, wovon 210 Milliarden allein auf die Kommunen fallen. Die größten Mehrbedarfe ergeben sich im Bereich der allgemeinbildenden Schulen, wo 57,1 Milliarden Euro zusätzlicher Mittel benötigt werden, um den Investitionsrückstand abzubauen, weitere 9,0 Milliarden Euro werden an Schulen für die Digitalisierung gebraucht. Damit wäre dann der Investitionsstau beseitigt, Klimaneutralität wäre aber noch nicht erreicht.
Ein Grund für die schlechte Haushaltslage der Kommunen ist darin zu sehen, wie die öffentlichen Steuereinnahmen im politischen Mehrebenensystem verteilt werden. Wir sehen hier eine strukturelle Steuerungerechtigkeit auf der Einnahmenseite. Im Grunde fehlt es den Kommunen an allem: Sie haben zu wenig Geld, um die Transformationsaufgaben zu stemmen und selbst wenn es attraktive Förderprogramme gibt, haben sie oft zu wenig Personal, um Fördermittel zu beantragen. Im interkommunalen Wettbewerb machen sich die Kommunen sogar noch gegenseitig Konkurrenz, um möglichst geringe Hebesetze bei der Gewerbesteuer, um billiges Land für Unternehmensansiedlungen und so weiter. So dominiert unter den Kommunen quasi ein Preiswettbewerb. Statt eines Qualitätswettbewerbs um die schönsten Grünanlagen, das reichhaltigste Kulturangebot, den besten ÖPNV und die hochwertigsten Schulgebäude, zählt vor allem der „billige Jakob“, weil damit die Hoffnung verbunden wird, Arbeitsplätze zu schaffen.
DUS: Eine Reihe von Beispielen – u. a. verkehrsberuhigte Bereiche – zeigen, dass insbesondere suffizienzbasierte Nachhaltigkeitsmaßnahmen in der Gesellschaft schnell auf Akzeptanzprobleme stoßen können. Inwieweit kann aus Ihrer Erfahrung die Einbindung der Bürger*innen bei der Maßnahmenwahl und -ausgestaltung Widerstände verringern respektive die Zustimmung zu Veränderungsprozessen sogar erhöhen?
OW: Diese Frage ist schnell beantwortet, denn wir haben festgestellt, dass die Einbindung der Bürger*innen, der Unternehmer*innen und insgesamt möglichst vieler Akteure ein zentraler Gelingensfaktor ist. Es zeigt sich deutlich, dass insbesondere solche Maßnahmen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz genießen, die sich durch die Einbindung und Vernetzung von Zivilgesellschaft, Verwaltung, Politik und Wirtschaft auszeichnen, denen es mithin gelungen ist, unter Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Akteur*innen umgesetzt worden zu sein.
DUS: Dem Projektbericht ist zu entnehmen, dass die hohe Schuldenlast der Kommunen deren Investitionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. In welcher Weise sollte dieses Dilemma im Zuge des aktuell verhandelten Schuldenpakets bedacht werden?
OW: Sie verwenden den Begriff „Schuldenpaket“ und das ist schon einmal ein grundsätzlich falscher oder zumindest irreführender Begriff. Denn wenn wir nicht investieren, sind die Schulden noch viel höher. Wenn wir zukünftigen Generationen kaputte Schienenwege, marode Brücken defekte Ampelanlage und Schulen hinterlassen, bei denen es durchs Dach regnet, dann ist doch für niemanden etwas gewonnen. Völlig zurecht wird daher auch von einem „Sondervermögen“ gesprochen. Es ist gut, dass die alte Schuldenbremse abgeschafft wurde. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob das Geld für investive oder für konsumtive Ausgaben verwendet wird. Von den Investitionen in die öffentliche Infrastruktur profitieren ja auch zukünftige Generationen und daher ist es auch gerechtfertigt, dafür Schulden zu machen. Anders verhält es sich bei konsumtiven Ausgaben, denn diese Ausgaben stiften keinen Nutzen für die Zukunft sonders nutzen nur im Moment ihres Verbrauchs. Wir können sogar mit den investiven Ausgaben von heute die konsumtiven Ausgaben der Zukunft reduzieren: indem wir Energieeinsparmaßnahmen finanzieren und umsetzen werden nämlich die konsumtiven Ausgaben für der Zukunft reduziert. Die Heizungssanierung und die Wärmedämmung eines Kindergartens erspart uns in Zukunft Kosten für Energie. Bei der Schuldenbremse wurde diese wichtige Unterscheidung bislang nicht gemacht und in der Diskussion taten manche so, als wolle man mit Schulden Champagnerparties veranstalten. Es macht aber einen großen Unterschied, ob mit dem Geld Gehälter, Renten und Energierechnungen beglichen werden oder ob es für Schulsanierungen und Bahngleise und Brücken ausgegeben wird.
Über den Interviewpartner
Oliver Wagner ist am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie als Co-Leiter des Forschungsbereichs Energiepolitik tätig. Seit 1995 arbeitet der diplomierte Sozialwissenschaftler dort zu verschiedenen Fragestellungen rund um das Thema Klimaschutz und Energieeinsparung. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von kommunaler Energiespar- und Klimaschutzpolitik, über Instrumente zur Bekämpfung von Energiearmut, bis hin zur Bildung für nachhaltige Entwicklung im Themenfeld Klimaschutz. In zahlreichen Veröffentlichungen, beispielsweise als Mitautor des Spiegel-Bestsellers „Earth for All – Deutschland“ und in zahlreichen Projektarbeiten hat Oliver Wagner die Bedeutung von dezentralen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Initiativen für den Klimaschutz herausgearbeitet. Er verfügt über umfangreiche Erfahrungen als Mitglied in diversen Beratungs- und Aufsichtsratsgremien.
Suffizienz ist neben Effizienz und Konsistenz eine der drei gleichrangigen Nachhaltigkeitsstrategien. Im Gegensatz zu den beiden stärker technisch und regulatorisch ausgerichteten Strategien setzt Suffizienz beim Bewusstsein und Handeln jedes Einzelnen an. Sie lädt uns ein, unsere etablierten Konsum- und Verhaltensmuster kritisch zu reflektieren und Neues zu erproben. Dennoch braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, um suffiziente Lebensstile Realität werden zu lassen. Welche das sind, wird gegenwärtig im mehrjährigen, länderübergreifenden Forschungsvorhaben FULFILL erforscht.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie forschen gerade im Rahmen des mehrjährigen Projekts FULFILL zum Thema Suffizienz. Bitte erläutern Sie uns kurz, worum es in Ihrem Vorhaben geht.
Dr. Preuß: FULFILL ist eine Abkürzung für den langen Projektnamen „Fundamentale Dekarbonisierung durch Suffizienz und Lebenstilveränderungen“. Aus dem Titel kann man schon erahnen, um was es geht: Wir schauen uns an, wie CO₂-Emissionen durch Veränderungen im Lebensstil und Suffizienz verringert werden können. Suffizienz kann grob beschrieben werden als „mit weniger besser leben“. Das Projekt ist international ausgerichtet, sodass wir nicht nur in Deutschland repräsentative Befragungen in der Allgemeinbevölkerung und Interviews mit Suffizienz-Initiativen durchführen, sondern dies auch in Frankreich, Italien, Dänemark, Lettland und Indien machen. Aber natürlich schaffen wir das nicht alleine. Wir sind ein Forschungskonsortium mit acht Partnern aus der Wissenschaft wie das Fraunhofer ISI, das Wuppertal Institut, EURAC und der Universität Politecnico di Milano, aber auch Think-Tanks und NGOs wie négaWatt, Jacques Delors Institut, Inforse und Zala Briviba.
Dr. Dütschke: Im weiteren Verlauf des Projektes werden auch noch umfangreiche Analysen folgen, mit welchen Politikmaßnahmen sich Suffizienz vorantreiben lässt. Und es wird noch eine umfangreiche Bewertung zu wirtschaftlichen Auswirkungen und Klimawirkungen gemacht.
DUS: In Ihrem Forschungsdesign behandeln Sie u. a. regulatorische und infrastrukturelle Maßnahmen, um suffizientes Verhalten zu ermöglichen. Wieso brauchen individuelle Verhaltensveränderungen eigentlich derartige politische Weichenstellungen?
Dr. Preuß: Weil es oftmals ohne sie nicht möglich ist. Wenn ich beispielsweise keine Möglichkeit habe, mein Fahrrad am Arbeitsplatz sicher abzustellen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich für den Weg zur Arbeit ins Auto statt aufs Fahrrad steige, sehr viel größer – auch wenn mir das Fahrradfahren gesundheitlich und mental guttun würde. Das ist nur ein Beispiel von vielen.
Dr. Dütschke: Das geht dann für viele andere Bereiche ähnlich weiter: Um auf den Trockner zu verzichten, braucht es geeignete Möglichkeiten, die Wäsche aufzuhängen – sei es im Außenbereich oder im Waschkeller. Damit verbunden ist dann aber auch die wichtige Frage, wer das im Haushalt übernimmt. In den meisten Fällen sind die Frauen dafür zuständig – hier gilt es weiterzudenken, dass Suffizienz nicht zulasten bestimmter Bevölkerungsgruppen geht.
DUS: Wenn es um ökonomische Verhaltensänderungen geht, stehen Entscheider*innen traditionell Anreiz- und Sanktionsinstrumente zur Verfügung. Welche Instrumente braucht es für eine aktive Suffizienzpolitik?
Dr. Preuß: Basierend auf den Ergebnissen aus FULFILL wissen wir das noch nicht genau, denn die Forschungsarbeiten dazu laufen gerade noch (das Projekt läuft bis September 2024). Aus anderen Forschungsprojekten wissen wir jedoch, dass ein Mix aus Push- und Pull-Maßnahmen sinnvoll erscheint. Aus psychologischer Sicht sollten Push-Maßnahmen, also Sanktionen, vor allem dann genutzt werden, wenn es um essenzielle oder gar fatale Entscheidungen bzw. Verhaltensveränderungen geht – und das tut es ja beim Klimawandel, zumindest langfristig. Aber natürlich sollten auch Anreize umgesetzt werden, um die Menschen nicht nur durch Verbote zu suffizienten Lebensstilveränderungen zu leiten. Diese Pull-Maßnahmen haben meist eine höhere Akzeptanz in der breiten Bevölkerung (im Vergleich zu Push-Maßnahmen), sind aber oft weniger effektiv, was tatsächliche Verhaltensveränderungen angeht.
Dr. Dütschke: In Frankreich gibt es für so eine Maßnahmenkombination gerade ein gutes Beispiel. Dort werden Kurzstreckenflüge verboten, wenn es alternativ eine Direktverbindung mit einem Hochgeschwindigkeitszug gibt.
DUS: Eine ergänzende Frage zu politischen Instrumenten: Aktuell wird im Zuge einer Stärkung der demokratischen Strukturen der EU viel über dialogische Bürgerbeteiligung gesprochen. Welche Bedeutung messen Sie dieser im Rahmen einer aktiven Suffizienzpolitik bei?
Dr. Dütschke: Ich denke, Suffizienz unterscheidet sich hier nicht von anderen Bereichen. Ein umfassender gesellschaftlicher Wandel wird nur gelingen, wenn er von und mit der Gesellschaft entwickelt wird. Das geschieht über bestehende demokratische Prozesse, aber auch über neue Formate.
Dr. Preuß: Auch hier gilt es natürlich wieder alle Bevölkerungsgruppen abzuholen und niemanden außen vorzulassen.
DUS: FULFILL wird länderübergreifend umgesetzt. Können Sie länderspezifische Unterschiede ausmachen? Und welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus im Hinblick auf die Frage, auf welcher föderalen Ebene Suffizienzpolitik ansetzen sollte?
Dr. Dütschke: Was die individuellen Lebensstile angeht, finden wir interessanterweise einige ähnliche Muster über die Länder hinweg, etwa was den Zusammenhang zwischen Einkommen und Ressourcenverbrauch angeht. Die strukturellen Faktoren und die politischen Rahmenbedingungen sind jedoch unterschiedlich. Hier sind wir aber noch mitten in der Analyse.
DUS: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: „Damit gutes Leben einfacher wird“, heißt ein bekanntes Buch zum Thema Suffizienz von Uwe Schneidewind. Welchen Ratschlag würden Sie unseren Leser*innen geben, um ihr Leben suffizienter zu gestalten?
Dr. Preuß: Wirklich zu hinterfragen, ob ich das brauche und warum – egal, ob es um das neue Oberteil, den Flug nach Mallorca, den Umzug in die sehr viel größere Wohnung oder im Supermarkt um die Avocado aus Mexiko geht. Oft sind uns unsere Bedürfnisse gar nicht richtig bewusst. Was wir wirklich brauchen, wird manchmal deutlich, wenn jede*r reflektiert, was er oder sie auf einer einsamen Insel definitiv für sich brauchen würde. Für manche mag es das Make-up sein, für andere vielleicht ein gutes Buch oder Musik und für wieder andere gar nichts – für viele vermutlich das Handy, um mit den Liebsten in Kontakt zu bleiben. Darüber hinaus ist auch der suffiziente Umgang mit Zeit etwas, das mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Ich persönlich – ohne es mit wissenschaftlichen Artikeln untermauern zu können – kann einen Trend erkennen zu einer Reduktion der Arbeitszeit und dem Wunsch nach gemeinsamer Zeit, beispielsweise das gemeinsame Arbeiten im Garten oder ein gemeinsamer Zoobesuch als Geburtstagsgeschenk – ganz weg von materiellen Dingen.
ÜBER DIE INTERVIEWPARTNERINNEN
Dr. Elisabeth Dütschke ist Diplom-Psychologin und forscht seit fast 15 Jahren am Fraunhofer ISI in Karlsruhe zur gesellschaftlichen Perspektive auf die Energiewende. Sie koordiniert das interdisziplinäre Geschäftsfeld Akteure und Akzeptanz in der Transformation des Energiesystems.
Dr. Sabine Preuß hat in Psychologie promoviert und erforscht seit 2019 am Fraunhofer ISI den „Faktor Mensch“ in der Energiewende. Sie untersucht Verhaltens- und Einstellungsänderungen sowie die Akzeptanz von Technologien und Politiken – mit einem besonderen Fokus auf Energiegerechtigkeit und diversen Bevölkerungsgruppen.
Zusammen leiten Dr. Dütschke und Dr. Preuß das Forschungsprojekt FULFILL.
Dr. Sabine Preuß (links) und Dr. Elisabeth Dütschke (rechts)
Effizienz, Konsistenz und Suffizienz sind drei Strategien für mehr Nachhaltigkeit. Während die ersten beiden in der Wirtschaft zunehmend mehr Aufmerksamkeit erfahren, fristet Suffizienz oft ein stiefmütterliches Dasein. Dass dies nicht so sein muss, zeigt der Ingenieur und systemische Berater André Jäger in seinem kürzlich erschienenen Buch „Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Potenziale, Chancen und Risiken am Beispiel der Gemeinwohl-Ökonomie“.
Deutsche Umweltstiftung (DUS):Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Worin liegt die Quintessenz Ihrer Arbeit?
A. Jäger: Suffizienz wird im Nachhaltigkeitsdiskurs als komplementäre und gleichrangige Strategie zu Effizienz und Konsistenz gesehen und stellt die Frage nach einem verantwortlichen Lebensstil. Dieser wird zumeist Privathaushalten und Individuen als verantwortliche Gesellschaftsmitglieder in Verbindung mit ihrem Konsumverhalten zugeschrieben.
Die Arbeit untersucht Suffizienz als praktisches Instrumentarium für privatwirtschaftliche Organisationen und gibt Impulse für die Erschließung suffizienten Handlungsrepertoires von Unternehmen. Damit steht die Anschlussfähigkeit von Suffizienz in einem vom Wachstumsparadigma und Rentabilitätslogik bestimmten Marktmechanismus auf dem Prüfstand. Als Quintessenz liefert die Untersuchung in der Praxis fundierte Beispiele, dass suffiziente Strategien in Unternehmen der freien Marktwirtschaft möglich sind. Voraussetzung ist das Vorhandensein von Motivation in den Unternehmen, suffiziente Praktiken auch dann umzusetzen, wenn sie zunächst der Marktlogik als Widerspruch erscheinen. Umgesetzte Suffizienzstrategien bringen – bezogen auf die unterschiedlichen Strategien und Unternehmen – individuelle Chancen und Risiken mit sich, auf die entsprechend reagiert und mit denen ein individueller Umgang gefunden werden muss. Die ökonomische Nachhaltigkeit muss vorhanden sein (Finanzierung); in den meisten Fällen bedeutet Suffizienz einen Mehraufwand. Im Idealfall entstehen wiederum Potenziale, und deren Umsetzung bewirkt weitere Inspirationen auch für andere Unternehmen (transformatorische Wirkung).
DUS:Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Sie konzentrieren sich methodisch auf Unternehmen, die dem Bereich der Gemeinwohl-Ökonomie zugeordnet werden. Woran liegt das?
A. Jäger: Für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung sind Unternehmen ausgewählt worden, die bereits in signifikanter Weise Suffizienzstrategien umgesetzt haben und diese auch praktizieren. Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) weisen in der GWÖ-Bilanz explizit Suffizienz als ein Abfragekriterium auf. Das bedeutet nicht automatisch, dass Suffizienzstrategien in GWÖ-Unternehmen auch vorhanden sind. Aufgrund einer erweiterten Haltung zu sozial-ökologischen Fragestellungen in GWÖ-bilanzierten Unternehmen sind günstigere Voraussetzungen geschaffen, um auf Suffizienzstrategien zu treffen. Um verwertbare Ergebnisse zu generieren, sind solche Unternehmen ausgewählt worden, die im GWÖ-Bericht mindestens vier Suffizienzstrategien ausdrücklich thematisieren oder bei denen mindestens eine Strategie vorhanden ist, die den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens in bedeutender Weise prägt. Zwei der interviewten Unternehmen sind GWÖ-nahestehend, wofür eine umfassende Behandlung der Stakeholder mit Werten der GWÖ-Matrix nötig war. Die befragten Unternehmen und Ansprechpartner*innen sind im Klartext benannt, d. h. nicht anonymisiert. Das ermöglicht eine bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, und die Interviewpartner*innen können persönlich kontaktiert werden. Alle befragten Unternehmen sind im produzierenden Gewerbe tätig und stehen nicht im Wettbewerb zueinander. Ein weiterer Grund für die Wahl von Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie besteht in der zusätzlichen Befragung von Berater*innen der GWÖ aus der Metaperspektive (zuzüglich einer Expertin auf dem Gebiet der Suffizienz), die die Ergebnisse als Expert*innen weiter fundieren.
DUS: Die überwiegende Mehrheit aller Firmen folgt weiterhin dem Postulat einer streng marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik. Sie schließen in Ihrem Buch eine pauschale Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf diesen Bereich aus. Sehen Sie dennoch für einzelne Aussagen einen Transferspielraum?
A. Jäger: Die Forschungsergebnisse basieren auf Unternehmen des produzierenden Gewerbes der Gemeinwohl-Ökonomie und damit auf einer einheitlichen Datengrundlage. Dennoch handelt es sich bei den Suffizienzstrategien um stark unternehmensspezifisch individuell geprägte Lösungen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit die Strategien auf andere Unternehmen (auch abseits der Gemeinwohl-Ökonomie) übertragbar sind. Bei identischer Suffizienzstrategie kann diese bei einem anderen Unternehmen jedoch zu einer anderen Chancen- und Risikobewertung führen und eine angepasste Umsetzung erfordern.
Die Komplexität ist am besten an Beispielen veranschaulicht: Ein Suffizienzansatz auf Basis von Open-Source funktioniert z. B. bei einem Unternehmen im Lebensmittelbereich, das wie Cola vom Premium-Kollektiv die Rezeptur offenlegt. Sie nehmen damit eine mögliche Rezepturkopie nicht nur in Kauf, sondern fördern auch diese, wenn der Leitgedanke eines sozial-ökologisch-nachhaltigen Wirtschaftens in ähnlicher Weise angestrebt und umgesetzt wird.
Eine erhebliche Gefahr stellt jedoch die gleiche Open-Source-Strategie bei einer neu gegründeten Genossenschaft dar, weil etablierte Unternehmen diese Produktentwicklung in kopierter und adaptierter Form schneller auf den Markt bringen und damit eine Verdrängung des ursprünglichen genossenschaftlichen Produktes stattfindet. Es lohnt sich, über einen Strategie-Transfer nachzudenken und genauer zu analysieren, welche Chancen, Risiken und Potenziale damit einhergehen. Ein Beispiel für eine starke Strategie ist das Aussetzen von Verhandlungen in Lieferketten durch einen Runden Tisch, an dem alle Beteiligten ihre zu kompensierenden Aufwände mit dem Ziel offenlegen, ein für alle Beteiligten stimmiges Ergebnis zu erreichen. Folglich bedeutet das den Verzicht auf einen maximalen Gewinn zugunsten einer vertrauensvollen und freundschaftlichen Basis mit fairer Bezahlung für alle. Das ist zum Beispiel in der Berliner Großbäckerei Märkisches Landbrot Realität. Eine Übertragung z. B. auf die Lieferkette eines DAX-Konzerns der Automobilindustrie mag gewagt erscheinen, doch als Gedankenexperiment ist es in dieser Hinsicht reizvoll und lohnenswert, um auszuloten, wo die Grenzen der Machbarkeit liegen. Ein Transfer auf andere mittelständische Unternehmen mit übersichtlichen Lieferketten erscheint andererseits vielversprechender.
DUS: In der Theorie stellen Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gleichrangige Strategien dar. In der Praxis lesen wir von Green Growth und immerwährender Prosperität in einer Circular Economy. Ist da überhaupt Platz für Suffizienz?
A. Jäger: Green Growth oder die Green Economy zielen auf eine Entkopplung des materiellen Wohlstandes vom Ressourcenverbrauch hin.
Diese Funktionsweise wird in der Fachliteratur kontrovers diskutiert und teilweise verneint. Einer der Gründe für die Ablehnung ist die häufig eintretende Überkompensation von Effizienz- und Konsistenzgewinnen: Eingesparte Ressourcen werden durch Mehrverbrauch oder Verschiebungen in andere Bereiche überkompensiert, auch bekannt als Rebound- Effekt. Bei Suffizienz geht es darum, den unmittelbaren und einseitigen Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und Lebensqualität zu entkoppeln. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Zielführend ist weniger ein enges Suffizienzverständnis von Verbot und Verzicht, sondern ein Hin zu etwas Neuem mit einem erweiterten Verständnis eines unternehmerischen und gesellschaftlichen Wirtschaftens.
Die Untersuchung bezieht sich auf Beiträge von Wirtschaftsunternehmen zur Suffizienz als eine der Nachhaltigkeitsstrategien. Hier geht es um ein anderes unternehmerisches Handeln, was zunächst der marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik widerspricht und doch mit entsprechenden Chancen und Risiken auch im Sinne einer ökonomischen Nachhaltigkeit funktioniert. Eine andere Prozessgestaltung und Haltung, beispielsweise ein Runder Tisch mit Konsensabsprache statt Verhandlung, führt in erster Linie zu einem Verzicht auf maximalen Gewinn. Die Folge ist eine stabile Zusammenarbeit aller Stakeholder auf einer vertrauensvollen Basis mit einem anderen Klima der Wertschätzung. Hier ließe sich in klassischer Weise Suffizienz wiederum mit Rentabilitätslogiken begründen (Reduktion auf ökonomische Nachhaltigkeit durch stabile Prozesse und Lieferketten). Entscheidend ist, dass es um die Qualität eines guten Lebens für alle geht, also eine Haltungsfrage, die ein Buen Vivir nicht nur fördert, sondern der eine Motivation für Veränderungen zugrunde liegt. Hier ist das „Gute Leben“ Motivation und Ziel statt eine Begründungslogik für ein weiter wie bisher.
Meiner Einschätzung nach ermöglicht Suffizienz im unternehmerischen Kontext weitreichende Möglichkeiten der Gestaltung eines gelingenden Miteinanders sowie einer anderen Art des Arbeitens und Wirtschaftens mit neuen Möglichkeiten zur Lösung sozial-ökologischer Fragestellungen.
Selbst wenn Green Growth und eine immerwährende Prosperität in einer Circular Economy möglich sein sollten und damit die planetaren Grenzen eingehalten würden, wäre hiermit lediglich die reine Ressourcenwirtschaft auf unserem Planeten abgedeckt. Das wäre ein Aufrechterhalten des Status quo, ein Weitermachen wie bisher. Mit den oben geschilderten darüber hinausgehenden Fragestellungen ist Suffizienz nicht zu ersetzen, sondern immer komplementär.
DUS: Zum Abschluss noch eine private Frage: Wie stark und in welchen Bereichen prägt der Suffizienzgedanke Ihren Alltag?
A. Jäger: Ich persönlich nutze materielle Gegenstände eher längerfristig und hatte seit meiner Kindheit weniger das Verlangen, stets das Neuste besitzen zu wollen. Dafür nutze ich vielmehr ausgesuchte und auch höherwertige Gegenstände.
Vor ein paar Jahren bin ich privat auf Linux als Betriebssystem umgestiegen, welches ich als Teil von Open Source lieber unterstütze als die verbreiteten gängigen Betriebssysteme. Inwieweit das als Suffizienz bezeichnet werden kann, ist noch zu diskutieren. Open-Source-Entwicklung im Softwarebereich beruht in Teilen auf Spenden und birgt noch viel Potenzial.
Bei meiner Kleidung achte ich auf Siegel oder besorge diese möglichst im nachhaltigen Handel mit einer längerfristigen Nutzung. An Grenzen komme ich beim Reisen. Innerhalb der Nachbarländer fahre ich mittlerweile grundsätzlich mit dem Zug. Eine Herausforderung stellt sich, weiter entfernte Orte zu erreichen.
Prägend war für mich ein dreijähriges Arbeiten und Leben in einem Benediktinerkloster. Aus dem Blickwinkel eines bewussteren Umgangs mit Ressourcen würde ich die Zeit im Rückblick auch als suffizienzprägend bezeichnen, auch wenn das Wort in diesem Kontext nicht genutzt wurde.
Für mich persönlich ist Entschleunigung wichtig; oft steht diese allerdings im Gegensatz zu den Anforderungen des Alltags. Doch sind es Inseln, die sich in meinem Leben immer wieder verwirklichen. Diese bestärken mich darin, dass Suffizienz als Komplementäransatz ein lohnenswerter Weg ist.
ÜBER DEN INTERVIEWPARTNER
André Jäger arbeitete als Maschinenbau-Ingenieur mehrere Jahre für eine Softwareberatung in Japan und anschließend als systemischer Berater in der Begleitung von Menschen und Teams. Drei Jahre Leben und Arbeiten in einem Benediktinerkloster gaben ihm den Impuls, im anschließenden MBA-Studiengang das Thema Suffizienz im Unternehmenskontext näher zu erforschen. Derzeit arbeitet er als Personalleiter in einem mittelständischen Unternehmen.
Was macht uns glücklich? Diese Frage beschäftigt Menschen seit Ewigkeiten. Hinweise auf die Antwort gibt Prof. Dr. Ingo Hamm von der Hochschule Darmstadt im Interview. Der Wirtschaftspsychologe unterscheidet dazu unterschiedliche Motive, die beim Konsum wirken und spricht über die magische Wirkung des Prozentzeichens.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Hamm, dass Sie heute für ein Interview zur Verfügung stehen. Sie haben sich mit einer Studiengruppe der Hochschule Darmstadt den Zusammenhang von Glück und Konsum erforscht. Was können wir von ihrer Forschung lernen?
Prof. Dr. Hamm: Ich muss vorwegschicken, dass es ein echt großes Thema ist. Was wir aber in diesen konkreten Projekten und darüber hinaus an interessanten Zusammenhängen aufdecken konnten, ist nicht wirklich überraschend. Aber es ist eine Bestätigung für das, was viele Menschen denken. Und zwar, dass Soziales im Leben einen deutlich positiveren Einfluss wie das Materielle hat, zumindest bei vielen Menschen. Es ist kein universelles Gesetz – es gilt aber für viele Menschen in unserer Gesellschaft, vielleicht auch in Deutschland. Ich habe wenige Erkenntnisse, die über unseren deutschen Sprachraum hinausgehen. Die Studie von 2019 ergab, dass Menschen sich unheimlich gerne mit anderen Menschen treffen, diese unkomplizierten Momente mit anderen Menschen unter anderem in der Familie schätzen und dass sie diese tatsächlich als Glück begreifen. Vielleicht nicht unbedingt in dem Moment als ein euphorisches Glück, aber gerade auch in Rückblick und in der Lebensplanung als etwas, was am meisten glücklich sein verspricht, und das finde ich ganz interessant.
DUS: In der öffentlichen Wahrnehmung wird doch häufig Glück assoziiert mit Häusern, neuen Autos oder Reisen. Wie kommt es zu dieser Wahrnehmung und gibt es letztendlich die Formel für ein glückliches Leben?
Also DIE FORMEL gibt es nicht. Ich fange noch einmal mit den teilweisen materiellen Aspekten von Glück an. Wir haben Möglichkeiten des Konsums, die uns zumindest häufig Glück versprechen. Es gibt da sehr viele Arten von Motiven, die beim Konsum wirken. Man kann unterscheiden zwischen den positiven Wirkungen von Kaufen – im aller weitesten Sinne das Kaufen von Dingen, von Dienstleistungen und von Erlebnissen. Es handelt sich dabei nicht nur um Luxusprodukte. Was hier eher glücklich macht, ist der Umstand, dass es zur Selbsterweiterung beiträgt. Also, dass ich mehr aus mir und meinen Fähigkeiten machen kann.
Produkte, die meine Individualität unterstreichen, mit denen ich meine Einzigartigkeit beispielsweise durch Mode zum Ausdruck bringen kann oder auch der Konsum und das Kaufen als moralischer Ausdruck. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht nur ein beliebiges Produkt kaufe, sondern mit diesem Produkt etwas Gutes tue, oder etwas Schlechtes vermeide. Damit fördere ich eine Denke in der Gesellschaft oder überhaupt ein gesellschaftliches oder wirtschaftliches Leben, das meinen moralischen Überzeugungen folgt. Im Konsumkontext sind dies positiv wahrgenommene Käufe, die ich tätigen kann. (Ich fördere eine Denke in der Gesellschaft oder überhaupt ein gesellschaftliches oder wirtschaftliches Leben was meinen moralischen Überzeugungen folgt.. Wie gesagt nicht nur von Produkten, auch Dienstleistungen und Erlebnisse fallen darunter. Was häufig nicht nachhaltig glücklich macht, sondern nach kurzer Zeit wieder verschwindet an Glücksgefühl, ist das, was wir so üblicherweise kaufen um uns im sozialen Vergleich mit anderen zu messen) Um uns auf einer Art von Statusleiter nach oben zu bewegen und anderen – unter anderem durch den Kauf von teureren Produkten – zu demonstrieren, ich kann mir das leisten, ich kann mir vielleicht auch mehr leisten als andere Menschen. Alle Menschen tun dies. Niemand ist grundsätzlich dagegen gefeit.
Viele Menschen erleben oder erleben eben nicht diese sehr kurzfristig wirkenden Facetten des Konsums, die vielleicht schon im eigentlichen Augenblick oder nur für Minuten oder Stunden wirken. Nach Tagen, nach Monaten fördert dieses Verhalten aber auch dieses noch mehr, noch weiter, noch höher. Das ist letztlich psychologisch nicht förderlich oder gesund.
DUS: Und die Formel für ein glückliches Leben?
Ich würde gerne auf einen anderen Aspekt eingehen, den ich durch meine jüngere Forschung im Arbeitskontext „New Work“ gefunden habe. Und dazu passt dann zufällig diese Frage, die Sie stellen. Ich habe festgestellt, dass heutzutage in der Arbeitswelt häufig von Menschen die Frage nach dem Sinn gestellt wird. Was soll das alles? Macht mich mein Job glücklich oder nicht? Da wird eigentlich dieselbe Frage gestellt, vielleicht noch viel fundamentaler als beim Kaufen oder beim Einkaufen.
Verkürzt dargestellt habe ich herausgefunden, dass vor allem die Selbstwirksamkeit ein wichtiger Faktor ist. Also, wenn ich in einer Arbeit oder durch meine Arbeit, aber auch beim privaten Engagement (Ehrenamt, Hobbys etc.) die Möglichkeit habe, Kompetenzen und Neigungen zu zeigen, zu verwirklichen, und ich dazu auch ein gewisses positives Feedback bekomme, dann ist das ungemein befriedigend. Viele Leute sagen sogar, das macht glücklich. Es macht vielmehr glücklich, als wenn ich mir bestimmte Dinge oder Dienstleistungen kaufe. Ich glaube, das ist der Punkt, wo wir Selbstverwirklichung erfahren können, wenn wir diesen gewissen Fokus auf die Arbeit, Alternativen zur Arbeit im Privatleben oder im Engagement setzten und mit diesem Fokus überlegen, wo wir denn Kompetenzen verwirklichen könnten oder ausleben könnten.
Ganz nebenbei, es zählt auch das Helfen dazu. Anderen Menschen ganz selbstlos mit guten Taten zu helfen, ist eine ungemein und universell wirksame SelbstwirksamkeitserfahrungWir haben dies bei großen Katastrophen, wie z.B. letztes Jahr im Ahrtal festgestellt. Ich war fast überrascht, dass so viele Menschen selbstlos geholfen haben, hingefahren sind, angepackt haben und alle waren unheimlich glücklich und zufrieden dadurch, dass sie einfach nur helfen konnten. Ich glaube, die Selbstwirksamkeitserfahrung des Helfens zählt wahrscheinlich viel mehr als jede Art von käuflichem Konsum.
DUS: Am 25. November ist Black Friday. Wie würden Sie es psychologisch erklären, dass Menschen von diesem Event so angezogen werden?
Ja, das ist vielleicht nicht einmal wahnsinnig psychologisch, sondern teilweise auch ein ökonomisches Verhalten. Und das zählt heute mehr denn je, dass Menschen sparen wollen. Und wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, die schon vorab bekannt ist, und weitestgehend kommuniziert ist, sodass man bestimmte Dinge stark rabattiert bekommt, kann fast niemand dazu nein sagen. Derartige Vorteile – ja mit dieser fast magischen Wirkung eines Prozentzeichens – ergreift man im Alltag fast immer. Das hat eine wahnsinnige symbolische Bedeutung bekommen. Man realisiert kaum noch, was eigentlich die wahren Wertigkeiten sind, oder welche Vergleichspreise es gibt, die ich anderswo auch so bekäme. Sondern da wirkt ja das Prozentzeichen an sich fast schon überzeugend. Das ist dann die Dimension, dass man hier ein Schnäppchen machen will.
DUS: Wir von der Deutschen Umweltstiftung betonen in unserer Arbeit immer wieder den Suffizienzgedanken. „Suffizienz“ steht für ein „Weniger“. Es zielt auf den bewussten Umgang unserer begrenzten natürlichen Ressourcen ab – auf das, was wirklich notwendig ist – ohne auf das gute Leben zu verzichten. Wie sehen sie die Strategie, vielleicht auch in Verbindung mit dem Konsum?
Aus Sicht der Wirtschaftspsychologie kann ich das in einem kurzen Satz zusammenfassen. Es geht nicht um weniger, sondern um weniger mehr.
Das ist das, was in der Psychologie eigentlich eine Rolle spielt. Wir Menschen haben nämlich eine Art Verlustaversion. Alle Menschen – davor kann sich niemand ernsthaft schützen – haben diese fast schon Angst davor oder diese Reflexe etwas abzugeben, von dem, was sie haben. Und Programme zu fahren, um den Konsum zu reduzieren, die sind vielleicht gut gemeint, aber ich glaube, jeder kann sicherlich von sich sagen: in gewissen Punkten des Lebens oder des Alltags habe ich in den eigenen vier Wänden das oder jenes Mal weggeschmissen oder auf ein bisschen verzichtet. Auf Dauer und im großen Stil fällt uns das als Menschen unheimlich schwer. Das ist einfach Psychologie.
Aber zu sagen, ich versuche nicht noch etwas darauf zu packen, diesen Wachstumsgedanken in den Griff bekommen und zu verstehen, dass diese Formen von Wachstum immer mit bestimmten Investitionen psychologischer Art, aber auch von Ressourcenseite her verbunden sind, das muss mal erstmal verinnerlichen. Dann fällt es aber auch leicht zu sagen: Ok, ich kann einen hohen Lebensstandard behalten und ich kann bestimmte Dinge weiter machen. Ich muss sie nicht abgeben und ich muss mein Leben nicht komplett umkrempeln, sondern ich vermeide einfach ein „immer mehr“ und „immer weiter“ und somit auch in mancher Hinsicht nicht nur diesen stetigen oder wachsenden Konsum, sondern vielleicht auch den Wettbewerb. Einen Leistungsgedanken, den ich vielleicht ein bisschen reduziere, der aus einer Mühe heraus kommt, die viele an sich in der Arbeit auch nur noch ungern mitmachen. Das ist so der Kerngedanke von dem, was Sie Suffizienz nennen.
DUS: Zum Abschluss noch eine etwas süffisante Frage. Werden Sie auch bei dem einen oder anderen Angebot am Back Friday zuschlagen?
Nein, eigentlich nicht, ich hätte aber nichts dagegen, wenn ich für die ein oder anderen Weihnachtseinkäufe, die ich schon fest geplant habe, also ich weiß genau wen ich was schenke, wenn ich da das ein oder andere auch günstiger erwerben könnte, dann würde ich auch zuschlagen.
ÜBER DEN INTERVIEWPARTNER
Ingo Hamm ist Professor für Wirtschaftspsychologie, war McKinsey-Berater, arbeitete in einem internationalen Konzern und folgte schließlich seinem forscherischen Freiheitsdrang. Er hat seitdem zahlreiche Bücher publiziert und unterstützt Menschen und Organisationen beim Wandel der Arbeitswelt.
Im Rahmen eines Interviews mit der Juristin Ulrike Jürschik sprachen wir über ihre Doktorarbeit zum Thema „Recht und Suffizienz“.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Suffizienz ist neben Konsistenz und Effizienz eine der drei Säulen der Nachhaltigkeit. Es ist ein viel genutzter Begriff, der häufig mit Verzicht des Individuums gleichgesetzt wird. Daher würde mich interessieren, mit was für einem Suffizienzbegriff und -konzept Sie arbeiten?
U. Jürschik: In unserer Überflussgesellschaft setze ich Suffizienz gerne mit Mäßigung gleich. Es geht also um eine Begrenzung, Reduktion, aber auch Substitution durch etwas anderes. Ein anderes Synonym für Suffizienz ist auch „Genügsamkeit“, man braucht nicht zu viel und nicht zu wenig. In Kontexten, in denen Menschen von Armut betroffen sind, bedeutet Suffizienz ein mehr, in Kontexten, in denen Menschen im Überfluss leben, ein weniger und anders. Ich arbeite mit folgender Definition:
Suffizienz ist die Begrenzung, Reduktion oder Substitution menschlicher Aktivitäten als Beitrag zur sozial-ökologischen Transformation, auch wenn sich dabei die Art und Weise der Bedürfniserfüllung ändert. Ich denke, dass vor allem das letzte Merkmal – also die Änderung der Art und Weise der Bedürfniserfüllung – in Abgrenzung zu Konsistenz und Effizienz sehr wichtig ist, da es bei Suffizienz nicht darum geht, dass wir einen Status quo erhalten oder dass wir alle Handlungen mit anderen Mitteln gleichermaßen fortführen können, ohne dass sich etwas für uns verändert. Wir müssen akzeptieren, dass sich die Art, wie wir essen, wie wir uns fortbewegen, wie wir produzieren, verändert, um ökologische Grenzen einzuhalten und gerechter gegenüber vulnerablen Gruppen und zukünftigen Generationen zu leben. Suffizienz muss dabei nicht eng allein als nachfrageseitige Strategie oder nur auf Individuen bezogen, verstanden werden. Sie kann auch Orientierung für über das Individuum hinaus gehende, gesellschaftliche und wirtschaftliche Kontexte bieten. Es gibt auch eine politische Suffizienz, im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung darüber, wie viele Ressourcen insgesamt verbraucht werden. Wie viele CO₂-Emissionen gestehen wir uns als Gesamtgesellschaft noch zu? Gleichermaßen können sich auch Wirtschaftsunternehmen am Leitbild Suffizienz orientieren. Suffizienz ist eben nicht allein eine Frage der Verhaltens- oder Lebensstiländerung, sondern es geht auch um Produktionsweisen und die Art und Weise, wie wir Infrastrukturen gestalten sowie eine Verständigung auf Obergrenzen für Ressourcennutzungen.
Was kein passendes Merkmal für Suffizienz ist, sind Signalwörter der öffentlichen Debatte, wie „Verzicht“ oder „Verbot“. Zu dem Verzichtsargument gab es in der Suffizienz-Community den Versuch, Suffizienz als positive Vision zu formulieren und zu betonen, dass durch das „weniger“ ein „mehr“ an Lebenszufriedenheit entsteht. Ich denke aber, dass eine solche Wertung nicht hilfreich ist, wenn wir Suffizienz rechtswissenschaftlich betrachten. Wir müssen diese individuellen Wertungen aus den Begrifflichkeiten herauslassen, denn sowohl der Begriff „Verzicht“ als auch der Begriff „Gewinn“ sind wertend und irreführend. Sie führen zu emotional aufgeladenen Argumenten, die dann eine Sachlichkeit der wissenschaftlichen Diskussion nicht mehr ermöglichen. Daher habe ich als Kernmerkmale Begrenzung, Reduktion, Substitution oder Änderung verwendet. Zur Subsumption dieser leichter auslegbaren Merkmale ist es irrelevant, ob eine Person dies als negativ oder positiv bewertet. Eine solche Bewertung wird allenfalls als Motivation hinter einer rechtlichen Einforderung oder Abwehr von Suffizienz relevant, aber nicht für die rechtliche Systematisierung.
DUS: An die Suffizienzdefinition anknüpfend, stellt sich nun die Frage, inwiefern im heutigen Umweltrecht oder auch in anderen Rechtsbereichen sich der Suffizienzgedanke widerspiegelt, auch wenn es sich dabei um keinen rechtswissenschaftlichen Begriff handelt. Oder gibt es dahingehende Gesetzesvorhaben?
U. Jürschik: Das Umweltrecht wurde seit den 1970er Jahren fortentwickelt, als die Erkenntnis aufkam, dass die aufgebaute Industrie den Planeten übernutzt und Grenzen eingezogen werden müssen. Das Umweltrecht ist also ein Rechtsgebiet, das auch zur Mäßigung geschaffen wurde. Es ist gleichzeitig Teil des wirtschaftlichen Systems, das auf Steigerung angelegt ist. Im Emissionsschutzrecht ist ein zentrales Merkmal die technische Vermeidbarkeit, also ob Industrieanlagen nach dem Stand der Technik in der Lage sind, bestimmte Emissionen zu vermeiden. Diesen Stand der Technik müssen sie erreichen – eingefordert wird nur das technisch machbare. Eine Suffizienzperspektive legt hingegen fest, welche Emissionen durch Industrieanlagen wir uns höchstens leisten wollen/können. Dies gibt es zwar durch die Festlegung von Emissionsgrenzwerten, diese werden in der Regel aber nur zurückhaltend festgelegt.
Ich würde außerdem sagen, dass es ein paar Umweltrechtsgebiete gibt, die der Suffizienz näher stehen als andere, zum Beispiel das Naturschutzrecht. Im Naturschutzrecht werden zum Beispiel Naturschutzgebiete ausgewiesen und dort wird ganz spezifisch begrenzt, welche menschlichen Aktivitäten im Naturschutzgebiet überhaupt zugelassen sind. Man darf Bestandteile des Naturhaushaltes nur in kleinen Mengen entnehmen, was auch dem Suffizienzgedanken der Mäßigung entspricht. Allerdings regelt das Naturschutzrecht einen eher abgegrenzten Bereich, und nimmt wenig Einfluss auf das allgemeine Konsum- und Produktionsverhalten, sodass hiervon keine Breitenwirkung im Sinne eines Suffizienzmainstreamings eintritt.
Ein spannendes Beispiel für Suffizienz ist das Klimaschutzrecht und hier sehen wir gerade sehr viele Rechtsentwicklungen. Das deutsche Klimaschutzgesetz besteht erst seit 2019. Darin wurde sehr spezifisch für die Gesamtgesellschaft festgelegt, wann wir Netto-Null-Emissionen erreichen wollen und wie die entsprechenden Reduktionspfade aussehen sollen, die dann auch bestimmten Sektoren spezifische Emissionsreduktionsmengen zuschreiben. Diese Mengenbegrenzung entspricht von der Gesetzessystematik her Suffizienz in Bezug auf die Gesamtmenge an Treibhausgasen, wenngleich die konkreten Jahresemissionsmengen als zu wenig ambitioniert erscheinen mögen. Auch das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz ist ein Beispiel für verrechtlichte Suffizienzpolitik. Darin wird festgelegt, bis wann „Kohleverstromung“ in Deutschland noch zulässig ist, mithin reduziert dieses Gesetz eine menschliche Aktivität konkret. Mir ist bewusst, dass für alle Umweltaktivist*innen und nach dem wissenschaftlichen Sachstand dieser Kohleausstieg zu spät kommt, aber allein von der Gesetzessystematik her: Es wird eine ganz spezifische menschliche Aktivität – nämlich die Kohleverstromung – beendet und dazu wird ein Auslaufpfad festgelegt. Das sind für mich Suffizienzbeispiele im Umweltrecht.
Suffizienz beinhaltet aber nicht nur das Reduzieren und Begrenzen, sondern auch das Verändern hin zu etwas Anderem. Anschauliche Beispiele zu Suffizienzpolitik finden wir im Städtebaurecht und der Infrastrukturplanung. Hier wird Suffizienz umgesetzt, indem öffentliche Räume mehr öffentlichen Personennahverkehr, mehr Fahrradwege, weniger Platz für Auto- und Flugverkehr bereithalten. Auch hier entsteht ein ambivalentes Bild. Möglichkeiten, dass Kommunen suffiziente Räume schaffen, zum Beispiel autofreie Innenstädte usw., bietet das Recht schon, sie werden aber selten genutzt.
DUS: Es wird also ein Gestaltungsrahmen vorgegeben, anhand dessen politische Entscheidungen getroffen werden können.
U. Jürschik: Genau. Wir sind auf politischen Willen angewiesen, um Suffizienzpolitik stärker durchzusetzen. Sie entspringt nicht per se aus der Rechtsordnung, was natürlich auch logisch ist, da die Rechtsordnung die Folge des politischen Willens ist – und Suffizienz kein politischer Mainstream.
DUS: Im Rahmen der Ringvorlesung zur Ökologischen Transformation von Gesellschaft und Recht haben Sie einen Vortrag zum Thema Recht und Suffizienz gehalten. Dort haben Sie auch darüber gesprochen, welche verfassungsrechtlichen Fragen möglicherweise durch Suffizienz aufgeworfen werden. Können Sie mir dazu noch etwas erzählen?
U. Jürschik: Ein wichtiges Gegenargument oder etwas, das relativ häufig genannt wird, wenn über Suffizienz oder Suffizienzpolitik gesprochen wird, ist, dass Suffizienz nicht nur eine Verzichts- sondern auch Verbotspolitik erfordert. Es würden bestimmte Aktivitäten verboten und dadurch stark in Grundrechte eingegriffen. Das könnte eigentlich gar nicht gerechtfertigt werden und der Staat würde sich durch diese Direktionierung übernehmen. Zur Auseinandersetzung mit diesem „Verbotsargument“ habe ich mir auch angeschaut, wie Suffizienz in verschiedenen Umweltrechtsinstrumenten verankert werden kann. Eigentlich kann man Suffizienz als Begrenzung, Reduktion oder Änderung durch qualitativ andere Handlungen tendenziell durch ganz verschiedene Instrumente erreichen. Zum Beispiel kann dies durch eine Anreizstruktur, wie Subventionen, Besteuerungen oder das Ordnungsrecht gelingen. Aber es ist natürlich so, dass, wenn man Suffizienzpolitik verfolgt, darauf hinwirken möchte, dass bestimmte Ressourcenverbräuche nicht entstehen, beziehungsweise dass bestimmte Handlungen nicht mehr stattfinden. Das ist aber meines Erachtens bei einer konsequenten Effizienzpolitik auch der Fall, indem bestimmte ineffiziente Produkte vom Markt verschwinden. Auch Bepreisungsmechanismen können bestimmte Verhaltensweisen, insbesondere bei ärmeren Menschen, unterbinden. Wenn man konsequent Umweltpolitik macht, dann verändert sich eben auch etwas. Daher glaube ich, dass das Verbotsargument nicht besonders präzise ist und uns in der Diskussion nicht hilft.
Verfassungsrechtlich kann man sich zur Suffizienz zunächst einmal anschauen, ob die Verfassung selbst irgendwelche Suffizienzmaßnahmen vorgibt, also zum Beispiel aus Art. 20a GG, dem Staatsziel „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“. Da wird man sagen müssen, ja, vielleicht dem Staat, aber nicht den Bürger*innen selbst. Art. 20a GG ist so konzipiert, dass die Gesetzgebung den durch die Verfassung aufgetragenen Umweltschutz durch einfache Gesetze konkretisieren muss und sich nicht unmittelbar an einzelne Bürger*innen richtet. Wir können dem also eine ökologische Mäßigungspflicht des Staates entnehmen, aber keine Mäßigungspflicht für einzelne Bürger*innen. Und eigentlich besteht ja das Problem darin, dass Bürger*innen und Unternehmer*innen den Ressourcenverbrauch immer weiter vorantreiben. Somit ist also eine Übersetzungsleistung des Staates erforderlich, der Suffizienzpolitik ausgestalten muss.
Dabei ist der Staat verpflichtet, verschiedene Grundrechte im Verhältnis zueinander zu beachten. Suffizienzpolitik kann, auch wenn sie gewisse Freiheitsräume begrenzt oder umgestaltet, relativ weitreichend gerechtfertigt werden, vor allem aus dem Klimaschutzargument heraus. Dies ist letztes Jahr aus dem wegweisenden Klimaschutzbeschluss des Bundesverfassungsgerichts und auch noch ein paar nachfolgende Entscheidungen deutlich geworden. Klimaschutzmaßnahmen, die der Staat treffen will, können eigentlich immer verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. Denn die Bedrohung durch den Klimawandel ist so groß, dass auch heute schon weitreichend Emissionen eingespart werden müssen. Diese Klimaschutzmaßnahmen des Staates können auch Suffizienzmaßnahmen sein.
Verfassungsrechtlich diskutieren lässt sich neben Abwehrmöglichkeiten von Suffizienzpolitik aber auch, ob Menschen besonders geschützt sind, die aus einer individuellen Perspektive suffizient leben möchten. Die Frage ist, ob es ein durch die Verfassung verbürgtes Recht auf Suffizienz gibt und was für Rechtspositionen Menschen, die suffizient handeln wollen, zur Seite stehen. Grundrechte sind vorwiegend als Abwehrrechte konzipiert. Der Staat soll „mir nicht zu Nahe kommen“ in meinen Menschenrechten. Die Grundrechte sind dabei zumeist nicht als Schutz- oder Leistungsrechte konzipiert, also so, dass ich ein konkretes Handeln des Staates einfordern kann. Aus einem Recht auf Suffizienz lässt sich staatliches Handeln, das Suffizienz verunmöglicht, überwiegend abwehren, jedoch kein neuer Raum für Suffizienz schaffen. Gleichwohl denke ich, dass es in staatlichen Abwägungsprozessen und Verhältnismäßigkeitsabwägungen durchaus eine Rolle spielen kann, dass es Menschen gibt, die zum Beispiel suffiziente Infrastruktur nutzen und im Sinne des Art. 20a ihr Leben gestalten oder gestalten möchten. Das Recht auf Suffizienz tritt als Abwägungsbelang zu Schutzpflichten gegenüber zukünftigen Generationen zur Minderung des Klimawandels und der Staatszielbestimmung Umwelt- und Klimaschutz hinzu.
DUS: Anknüpfend an die gesellschaftliche Wahrnehmung schließt sich für mich nun noch die Frage an, inwiefern die aktuelle Situation, in der wir uns befinden, dazu beitragen kann, dass der Suffizienzgedanke stärker verankert werden kann und zu mehr Akzeptanz führt. Was denken Sie dazu und wie verfolgen Sie die aktuelle Debatte?
In der aktuellen Lage wird sich die Gesellschaft, Grenzen für Ressourcenverbrauch bewusst. Die aktuelle Gasknappheit hilft, um zu merken, dass wir nicht von allem immer mehr haben können, sei es aufgrund von geopolitischen oder anderen Gründen. Ein Anerkennen dieser Endlichkeit ist meines Erachtens Grundvoraussetzung für Suffizienzpolitik. Suffizienz ist jedoch eher so zu verstehen, dass wir nicht erst in eine solche Krise, wie wir sie gerade erleben, geraten, die uns dann zwingt, enthaltsam zu sein. Es geht vielmehr darum, uns bewusst gemeinsam zu entscheiden, jetzt weniger zu verbrauchen, damit wir und nachfolgende Generationen langfristig besser leben können. Von daher drängt uns jetzt die Krise in eine Art Suffizienz, was die Diskussion bestimmt auch voranbringen kann. Suffizienz entfaltet ihr Potenzial aber viel mehr als präventive und vorsorgende Strategie des Übergangs in eine nachhaltigere Gesellschaft, nicht als Notfallmaßnahme.
Insgesamt denke ich, dass man Suffizienz eher moderat oder auch radikal verfolgen kann. Man kann Suffizienz als eine Teilstrategie miteinbeziehen, die dann nur an kleinen Stellen wirkt, wie aktuell bei den Gaseinsparungen. Die Industrie und Haushalte werden jetzt als Möglichkeit thematisiert, um Gas zu sparen und es ist schon mal schön, dass es nicht nur die Haushalte sind, sondern die Industrie gleichermaßen thematisiert wird.
DUS: Was würde Sie sich denn konkret von dem Gesetzgeber wünschen, wie der Suffizienzgedanke rechtlich besser verankert werden könnte?
Ich würde aus meiner Definition einerseits die Begrenzung und Reduktion als Maßgabe für Politik stärker im Recht verankert sehen wollen: eine explizite Verankerung, dass nicht nur die Effizienz gesteigert, sondern dass noch öfter bestimmte Ressourcenverbräuche absolut gedeckelt werden. Und das kann sich nicht nur auf einzelne Emissionen beziehen, sondern auch auf spezifische Verhaltensweisen, von denen wir wissen, dass wir sie uns nicht in dem heute bestehenden Ausmaß leisten können, z. B. Tierhaltung oder Flugkapazitäten.
Dann ist aber noch ein anderer Bereich für mehr Suffizienz ganz wichtig – und das ist der Aufbau von Alternativen: Nach welchen Leitbildern gestalte ich eigentlich Städte und Infrastruktur. Ein einfacher Weg wäre es erst mal, die Verkehrssysteme im Hinblick auf nachhaltige Mobilität (elektrisch, geteilt, weniger Individualverkehr, mehr Fahrradverkehr für Nahdistanzen) zu verändern.
Zudem ist zu erwägen, im Planungsrecht Wege zu finden, um die Menge an Industrieanlagen zu steuern. Dies greift sehr weit und ist schwierig politisch abzuwägen. Aber im Prinzip müssen wir langfristig in die Richtung kommen, dass es begrenzte Ressourcen für Industrie- und Produktionskapazitäten gibt, und die müssen nach einem gerechten Maßstab auf die verschiedenen Inanspruchnehmer*innen verteilt werden.
ÜBER DIE INTERVIEWPARTNERIN
Ulrike Jürschik hat in Münster und auf Martinique (Frankreich) Rechtswissenschaften studiert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Energie-, Umwelt- und Seerecht der Universität Greifswald und arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit zum Thema „Suffizienz und Recht“.