Rettermarkt in Berlin – ein Interview mit Raphael Fellmer

Geschenkte Kleidung, Lebensmittel aus der Tonne, ein Leben ganz ohne Geld: Für Raphael Fellmer war das fünf Jahre lang Alltag. Mit seiner Familie hat er im Geldstreik gelebt, um ein Zeichen gegen Ressourcen- und Lebensmittelverschwendung zu setzen. Inzwischen hat er aus seiner Haltung einen gangbaren Weg gemacht, mit dem alle Menschen ein ähnliches Zeichen setzen können.

Denn Raphael Fellmer ist Gründer des Berliner Rettermarktes „Sirplus“, in dem ausschließlich vor der Tonne gerettete Lebensmittel über den Warentisch gehen. In den vergangenen Jahren hat er vier seiner Rettermärkte in Berlin eröffnet. Wir haben den Lebensmittelaktivisten in einem davon einen Besuch abgestattet:

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#kaufnix | Interview mit Raphael Fellmer. © Johannes Kaczmarczyk/Deutsche Umweltstiftung

Mut zur Unvollkommenheit – ein Gastbeitrag von Christine Ax

Nur das Unvollkommene ist perfekt

Ich weiß nicht, ob wir nichts mehr kaufen sollten. Das wirft nämlich neue soziale Probleme auf. Denn vor allem Dienstleistungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Kunst und Kultur sind für ein gutes Leben wichtig. Aber ich weiß, dass wir sehr lange, sehr gut leben könnten, ohne dass etwas Neues produziert würde – einmal abgesehen von Lebensmitteln, Energie und natürlich Ersatzteilen.

Das liegt vor allem daran, dass der Bestand an den Dingen, die schon da sind, nicht nur für uns, sondern vermutlich auch für weit mehr Menschen reichen würde. Vorausgesetzt, dass wir gut mit diesen Dingen umgehen,  dass wir uns um sie kümmern, sie instand halten und ihnen den Respekt und die Wertschätzung entgegenbringen, die sie eigentlich verdienen.

Denn es gibt mit Sicherheit heute schon mehr als genug  Stühle, Tische, Häuser, Schränke, Computer, Handys, Kleidungsstücke, Tischgeschirr, Lampen, Küchenmaschinen, Teesiebe, Autos und Fahrräder für alle, Museen, Autobahnen, Kinos, Musikanlagen, Wohnzimmertische u.v.a.m.

Obwohl es genug Autos gibt, werden dauerhaft neue produziert.
Foto: Bilderandi/Pixabay.com

Nur das Unvollkommene ist perfekt und das Unperfekte ist vollkommen

Folgende Geschichte soll der in Japan sehr berühmte Keramiker und Künstler Kanwai Kanjiro einst erzählt haben:

„Als in Japan die Menschen ihr Eigentum noch nicht mit Edelsteinen oder anderen glänzenden Dingen schmückten, sondern stattdessen, einen mit Moos bewachsenen Stein oder den knorrigen Stamm eines Baumes für ihren Garten kauften,  gab es einen Mann, der eine Vase gekauft hatte. Sie war wunderschön, ganz neu und ohne jeden Makel. Er wollte diese Vase gerne seinem Freund zeigen, der ihn besuchen würde, aber er fühlte sich unwohl dabei. Die Vase war zu neu und zu perfekt. Deshalb nahm er einen Pinsel und tippte ihn in den Lack, der damals benutzt wurde, um gebrochenes Porzellan zu reparieren. Dann zeichnete er einen unregelmäßigen Strich quer über die die brandneue Vase. Der Strich auf der Vase ließ sie alt aussehen und ausgebessert, sie war nicht mehr perfekt. Der Mann war jetzt zufrieden und zeigte die Vase seinem Freund. Der Freund verstand. Er bewunderte die Vase und wusste das, was sein Freund getan hatte, sehr zu schätzen. Das ist eine wahrhaft japanische Geschichte. Wer sie verstanden hat, versteht wie Japaner Schönheit in den Dingen sehen, die nach menschlichem Maßstab imperfekt aussehen mögen, aber nach den Maßstäben der Natur perfekt sind. Die Japaner haben auf die gleiche Weise gelernt die Armut zu akzeptieren. Sie haben sie umarmt und erobert. Sie haben ihre Schönheit entdeckt. Das ist ganz wunderbar. Japans Armut war seine Stärke.“

Diese Haltung gegenüber den Dingen, von der diese Geschichte erzählt, hat sowohl einen ökonomischen als auch einen ökologischen Hintergrund. Wichtiger aber noch  ist der spirituelle Hintergrund. Denn hinter den ökologischen und ökonomischen Fragen, die sich im Zusammenhang stellen, verbergen sich existentielle Fragen.

In unperfekten Dingen kann eine Schönheit erkannt werden.
Foto: distel2610/Pixabay

Wabi Sabi

Das japanische Schönheitsempfinden war über sehr lange Zeit von einer philosophischen Haltung gegenüber Dingen geprägt, die einen Zen-buddhistischen Hintergrund hat. Es beruhte auf folgenden geistigen Grundlagen: Der Liebe zum Einfachen, der Liebe zum Unperfekten und der Liebe zum Vergänglichen. Zu Ende gedacht, könnte mach auch von einer tiefen Liebe zum Leben selbst sprechen.

Dies führt uns sehr schnell auch zur anderen Seite der Dinge. Es führt uns zu Menschen, die die vielen überflüssigen Dinge produzieren müssen. Die jeden Tag die Erfahrung machen, dass das, was sie herstellen, so schnell an Wert verliert. Unsere auf Wachstum angewiesene Wirtschaftsweise macht aus Menschen Maschinen, die perfekt funktionieren müssen,  damit am Ende immer mehr und immer schneller möglichst  perfekte Dinge verkauft werden können, die sehr schnell nichts mehr wert sind. Dieses Unglück der Arbeit wird ihnen mit einem Einkommen schmackhaft gemacht, das ihnen ermöglicht, an diesem weltweiten Konsumrauschen teilzuhaben. Und sei es nur im 1-Euro-Laden. Sie sind wie die Hamster im Käfig gefangen und sind gezwungen, das Rad am Laufen zu halten. Überforderung und Unterforderung gehen Hand in Hand.

Wo sind die Alternativen?

Solange wir nicht die Arbeit und das Produkt ganzheitlich betrachten, sind wir noch nicht in einer wirklich humanen und nachhaltigen Gesellschaft angekommen. Solange wir einander zur Maschine degradieren, die zu funktionieren hat, sind wir nicht am Ziel. Das Schöne und das Gute sind nicht voneinander zu trennen.

Wo Menschen mit Respekt vor sich selber und der Natur einer Arbeit nachgehen können, die sie um ihrer selbst (der Arbeit selbst) willen gerne tun, entstehen in der Regel auch Produkte oder Dienstleistungen, die nachhaltig sind und die Achtsamkeit verdienen.

Nichts zu kaufen kann daher nur den Anfang sein. Teilen und Tauschen, Instandhalten, Reparieren und Modernisieren bzw. Re- und Upcyling machen diese Haltung leicht und sind auch dauerhaft zukunftsfähige Alternativen.

Eine in einem umfassenden Sinne humane und nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweise, in der jede*r auf eine umfassende Art und Weise er/sie selber werden darf, ist das Ziel.

Über die Autorin
© Christine Ax

Christine Ax, geboren 1953, hat sich seit den 90er Jahren als Wissenschaftlerin und Autorin mit vielen Aspekten der nachhaltigen Entwicklung beschäftigt und viel publiziert. Ökologisches Wirtschaften, Nachhaltigkeit und Handwerk, Digitalisierung  und Wachstumskritik waren Themenschwerpunkte. Sie ist Initiatorin des Zukunftsrates Hamburg, des Runden Tisches Reparatur (www.runder-tisch-reparatur.de) und des Ernährungsrates in Kiel (www.kieler-ernährungsrat.de).

Das Leben in suffizienten Gemeinschaften – ein Interview mit Andreas Sallam

Andreas Sallams Vision ist es, im Einklang mit anderen Menschen und der Natur zu leben. Foto: Lukas / Pexels.

Andreas Sallam ist ein Nachhaltigkeits-Allrounder: Er ist IT-Manager, Musiker und Mitbegründer mehrerer Initiativen für für einen ökosozialen Wandel. Im Interview spricht er über das Leben in suffizienten Gemeinschaften, die Zukunft der Nachhaltigkeitsszene und worauf es beim Streben nach einem guten Leben für alle wirklich ankommt.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Die #kaufnix-Kampagne fordert „Schluss mit unbedachtem Konsum“. Schaffen wir so den Weg in eine nachhaltige Zukunft?

Andreas Sallam (AS): Hinter dem Kaufen steht immer ein Bedürfnis, das durch Werbestrategien gefüttert wird. Die suggerieren einem, dass man ein bestimmtes Produkt unbedingt braucht. Ich glaube nicht, dass wir weiter kommen, indem wir den Menschen sagen „lasst das“. Ich halte viel mehr davon, wenn Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass es ihnen nicht gut tut, dieses oder jenes zu kaufen. Zum Beispiel die Schokolade, die vermeintlich glücklich macht, aber hinterher wieder dazu führt, dass mensch dicker wird und sich dadurch eigentlich nicht gesünder fühlt.

Mensch muss sich dazu die eigenen Bedürfnisse klarer machen. Zum Beispiel, dass es uns besser geht, wenn wir mit anderen Menschen zusammen sind. Wenn wir diese Zusammenhänge erkennen, kommen wir auch zu der Erkenntnis, dass wir dieses oder jenes gar nicht brauchen, weil es uns nicht gut tut. Und dann verändert mensch sein Konsumverhalten automatisch.

DUS: Wie können wir diesen persönlichen Bewusstseinswandel fördern, ohne Menschen mit erhobenem Zeigefinger dazu zu ermahnen?

AS: Ich glaube, das wichtigste ist dabei, dass wir aus den patriarchischen Fallstricken unserer Gesellschaft herausfinden. Das heißt, Vertrauen zu fördern, indem wir uns gegenseitig Wahrnehmung verschaffen. Sodass eine Kultur entsteht, innerhalb der wir selbst entscheiden können, was richtig und was falsch ist, in der wir aber auch Fehler machen dürfen und anderen ihre Fehler nachsehen.

Die Einladung ist, sich selbst und die Anderen wieder mehr wahrzunehmen, zu spüren und besser zusammen zu kommen. So entsteht eine ganz neue, andere Kultur des Miteinanders, die nicht konkurrierend ist, sondern in der Menschen sich gegenseitig etwas gönnen oder wir uns etwas schenken, ohne etwas zurückzuerwarten. Das führt dann wiederum dazu, dass die Strukturen sich ändern und die Hierarchien verschwinden. Ich glaube, dass es gesund ist, wenn wir zurück kommen zu einer Kultur, in der wir uns im Kleinen wahrnehmen und von dort aus zu einem größeren System finden.

DUS: Du bist Mitbegründer der Herzensgemeinschaft Wolfen, einer ökologischen, nachhaltigen und suffizienten Lebensgemeinschaft. Sind solche idyllischen Ökodörfer der richtige Ort, um sich im Kleinen selbst zu bestimmen?

AS: Ich bin kein Freund davon, einfach in die Idylle zu gehen, in irgendeine Landschaft, in der es schön ist und leicht, miteinander zu leben, einfach weil die Natur dort toll ist. Meine Erfahrung ist, dass es meistens nicht am Ort liegt, sondern am Zwischenmenschlichen. 

Der erste Anlauf, den wir mit der Herzensgemeinschaft Wolfen gemacht haben, ist daher auch mehr oder weniger gescheitert. Erstens waren Menschen dabei, die nicht in der Lage waren, bei sich selbst zu reflektieren, sich zu hinterfragen oder nach den eigenen Schatten zu suchen. Der zweite große Fehler war der, dass wir unsere Vision davon, die Natur und freien Felder umzugestalten, nicht hinreichend mit allen Menschen geteilt haben. Der dritte und vielleicht auch massivste Fehler war, dass ich mich nicht durchgesetzt habe, was die Begleitung durch neutrale Dritte angeht. Es braucht eigentlich immer Außenstehende, die nicht am Prozess beteiligt sind und die von außen sehr klar sehen können, wo die Probleme sitzen. Denn die Beteiligten sehen diese Probleme irgendwann nicht mehr, weil sie „betriebsblind“ werden.

DUS: Eurer Vision von der Umgestaltung der freien Natur sollte für den Übergang ein gemeinsames Leben im Plattenbau vorausgehen. Warum gerade dort?

AS: Ich glaube, dass es wertvoll ist, mit Menschen zusammen zu leben, die sich im Moment überhaupt nicht abgeholt fühlen, sondern ganz im Gegenteil sich eher abgehängt vorkommen. Das ist in der Platte öfter der Fall. Es ist, glaube ich, wichtig, dass gerade in diesem Umfeld andere Menschen leben, die denen vor Ort Aufmerksamkeit schenken und die Möglichkeit geben, wahrgenommen zu werden, egal wo sie stehen oder wer sie sind. Somit können wir ihnen, ohne missionarisch wirken zu wollen, Alternativen zeigen und sie einladen, auch andere, gemeinschaftliche Erfahrungen zu machen, sofern sie das möchten.

DUS: Was zeichnet diese Alternative aus, die ihr in der Herzensgemeinschaft vorleben wollt?

AS: Ich glaube, der wichtigste Wert ist Respekt für und Würdigung von anderen Lebensformen und von Anderssein generell. Dabei anders zu kommunizieren, anders miteinander umzugehen und die eigenen Bedürfnisse sowie die der Anderen in einer gesunden Weise wahrzunehmen und zu unterstützen.

Eine Welt, in der wir durch Abgrenzung glänzen, durch Nicht-Vertrauen, in der andere nicht sehen dürfen, wo ich mich klein, schwach, unfähig oder einsam fühle, oder in der ich meine Energie nicht zeigen darf, ist unglaublich krank. Ich glaube, es ist wichtig, eine Kultur der Möglichkeiten zu schaffen, in der wir Räume haben, wo jeder er oder sie selbst sein darf. Die Hauptsache ist, dass es Begegnung, ein gegenseitiges Wahrnehmen und ein würdevolles Miteinander gibt. Daran fehlt es oft wegen Zeitmangel, Überforderung, wegen zu viel Stress oder vermeintlichen Hamsterrädern und anderen Routinen, die wir meinen erledigen zu „müssen“.

Wenn wir ein Gutes Leben für alle anstreben, bedarf das auch immer eines eigenen Zurücknehmens und eines Nachforschens, wo die eigenen Schattenseiten liegen. Die Frage ist, wie wir das Paradies, das eigentlich da sein könnte, gemeinschaftlich mit anderen erreichen können.

DUS: In suffizienten Kommunen wie der Herzensgemeinschaft wird genau das versucht, die gegebene Natur gemeinschaftlich zu nutzen. Ist das der Weg in eine nachhaltige Zukunft?

AS: Wir haben den Anspruch, Kreisläufe zu generieren, die nicht auf Kosten Dritter oder auf Kosten der Erde gehen, sondern berücksichtigen, dass acht Milliarden Menschen leben wollen. Mensch kann sich einmal vor Augen führen, wie viele Produkte weggeworfen werden oder wie viel Anbaufläche weltweit dafür verwendet wird, Fleisch herzustellen. Und das ist dann noch nicht einmal gesundes Fleisch, sondern aus Massentierhaltung, die hormongesteuert auf schnelles Wachstum aus ist und nur der Rendite dient. Damit werden vermeintliche Glücksgefühle bedient, denn Menschen denken, wenn sie kein Fleisch essen gehören sie nicht dazu.

Das sind letztlich alles Kopfgeschichten. Ich bin in vielen Ökodörfern unterwegs, wo traumhafte Gerichte erzeugt werden, vegetarisch und vegan. Da kann ich nur sagen, dass das auch anders geht und mensch auch anders leben kann. Dabei bin ich selbst gerade kein Veganer und esse auch gern manchmal Fleisch – aber eben nur, wenn die Tiere gesund in einem gesunden Kreislauf leben und nicht nur industriell ausgebeutet werden. Das Gleiche gilt für mich aber auch für Pflanzen. Ich möchte keine Tomaten aus Massenanbau essen oder Bio-Kartoffeln, die aber in Ägypten mit Grundwasser erzeugt wurden, das dort in der Folge immer mehr versalzt.

Es gibt so viel Müll in dieser Welt, der nur auf Renditenorientierung basiert. Wenn mensch sich damit beschäftigt, welche Möglichkeiten wir haben, indem wir zum Beispiel Permakultur einsetzen, dann wird schnell klar, dass wir auch andere Systeme schaffen können. Systeme, die erstens unseren Planeten gesünder behandeln, zweitens keine Ressourcen vernichten, die elementar für diesen Planeten sind, und drittens eine Verteilungsgerechtigkeit schaffen, die uns alle wesentlich besser zurecht kommen lässt.

DUS: Bewegungen wie Fridays for Future legen nahe, dass diese Haltung immer mehr Unterstützer*innen findet. Du selbst bist in der Nachhaltigkeitsszene sehr aktiv und arbeitest unter anderem an der Vernetzung verschiedener Akteure. Was ist dein Eindruck, sind suffiziente Lebensstile mehrheitsfähig?

AS: Meine Wahrnehmung ist, dass wir immer mehr werden. Deswegen haben wir das Bündnis für den sozial-ökologischen Wandel gegründet. Ich erlebe seit fünf Jahren, dass es immer mehr Aktive gibt, die aber in der Regel viel zu wenig miteinander zu tun haben und sich viel zu wenig austauschen. Zum Beispiel Extinction Rebellion oder die heranwachsenden Aktiven von Fridays for Future. Das sind wahnsinnig spannende Kreise und es werden auch immer mehr, die ein Bewusstsein dafür haben, dass es so nicht weitergehen kann und es eine Umsteuerung braucht.

Das System, das wir haben, ist ein System, das sich seit Jahrhunderten gebildet hat, eigentlich aus patriarchischen Bestrebungen heraus: immer schneller, besser, größer, weiter, toller zu werden und so Konkurrenz untereinander statt ein Miteinander zu fördern. Das wiederum bringt dann eine Spezialisierung und Fokussierung auf renditenorientierte Systeme hervor. Und diese Fokussierung auf Rendite fördert zwar alles, was Gewinnoptimierung bringt, verhindert aber all das, was mit Rendite nicht abzugreifen ist. Zum Beispiel ethische oder moralische Systeme und all das, was Menschen eigentlich ausmacht, alles, was unsere Herzen betrifft. Diese Ebenen werden gar nicht berücksichtigt, weil es meist nur darum geht, Quartalszahlen zu steigern. Das hat natürlich eine fatale Wirkung darauf, wie wir miteinander leben und was dabei im Fokus steht.

Ich selbst bin davon überzeugt, dass alle, die noch in den alten Systemen hängen, oft nur von dem ausgehen, was sie kennen. Viele Menschen leben eigentlich in der Vergangenheit und wissen es bloß nicht. Sie haben gar nicht den Zugang zu Systemen wie Soziokratie oder anderen Methoden wie Community Building oder Dragon Dreaming. Ich bin immer wieder tief berührt, was zwischen Menschen damit möglich ist. Es ist erstaunlich, was es bewirken kann, wenn sich Menschen auf solche Methoden einlassen und lernen davon abzusehen, andere überzeugen zu müssen, die eigene Meinung als wichtiger oder richtiger zu betrachten und vermeintliche Gegensätze als Bereicherung zu erkennen und akzeptieren.

DUS: Wie schaffen wir es, dieser Renditenorientierung zu trotzen und den sozial-ökologischen Wandel einzuleiten? Reicht es, alternative Methoden der Kommunikation auszuprobieren und uns besser zu vernetzen?

AS: Das ist das Bemühen. Wir als Wandelbündnis versuchen, nicht zu bestimmen, wer genau was tut, sondern uns als Dienstleister zu begreifen und eine Infrastruktur für Akteure des sozial-ökologischen Wandels aufzubauen. Dadurch können sie unter anderem zusammen arbeiten und gemeinsame Interessen auch gemeinsam vertreten. Es wäre unglaublich gut, wenn wir unsere Interessen bündeln und diese zu einer wesentlich stärkeren, präsenteren und auch resilienteren Struktur entwickeln, ohne Vielfalt zu schwächen. Wir sind Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen. Und wenn wir das realisieren, bekommen wir auch eine wesentlich tragfähigere gesellschaftliche Relevanz. Die Einladung ist, dass wirklich viele mitmachen, damit wir auch in der Gesellschaft deutlicher wahrgenommen werden und so wir auch andere abholen können, die vielleicht auch noch nicht den Zugang zu dieser Art ganzheitlichen Herangehens haben.

Wenn wir immer mehr Akteure werden und auch wahrnehmen, dass wir viele sind, werden letztlich auch die Forderungen mehr Gewicht bekommen, die wir an die politische, aber auch an die gesellschaftliche Willensbildung stellen. Dazu gehören nicht zuletzt Gremien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk. Dort herrscht noch viel „Alte-Welt-Denke“ und unsere Kreise werden als Esoterik, Spinnertum oder selbstverliebtes Müsliessen abgetan. Das liegt an mangelnder Erfahrung damit. Genau deshalb ist es wichtig, dass wir alle, die wir anders denken, uns gegenseitig stärken und auch andere dazu einladen, eine ähnliche Erfahrung machen zu können.

Wer Interesse am Mitmachen hat, kann sich gern unter der im Entstehen befindlichen Seite  www.wandelbuendnis.org bei uns melden.

Über den Interviewpartner
© Andreas Sallam

Getreu seinem Motto „Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“ widmet Sallam sich als IT-Manager und Aktivist dem Aufbau nachhaltiger Vernetzungsstrukturen und dem ökosozialen Wandel. Er ist unter anderem Gründer des gemeinwohlorientierten und nachhaltigen IT-Unternehmens Digital Builders und des green net project, Mitgründer des Transition-Ökodorfs „Herzensgemeinschaft Wolfen“ und des Bündnis für den sozial-ökologischen Wandel sowie Mitglied des Koordinationskreises deutscher Transition Initiativen.

Frugalismus – Ist weniger manchmal mehr?

Regionale Kartoffeln statt eingeflogener Avocado: Der Einkauf von Frugalist*innen ist billig und oft auch umweltschonend. Foto: Stevepb / Pixabay.

Rente mit 40 und dann nie wieder arbeiten: Für Frugalist*innen ist das keine Wunschvorstellung, sondern ein erklärtes Ziel. Denn wer sich dem Frugalismus verschreibt, achtet aufs Geld, wo es nur geht.

Der Begriff Frugalismus kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „sparsam“. Und das ist genau das, was den Alltag von Frugalisten ausmacht: kein unnötiges Verreisen, keine impulsiven Kaufentscheidungen, bedachter Konsum. Ihr gespartes Geld legen Frugalisten dann möglichst sinnvoll an, um irgendwann finanziell vollständig unabhängig zu sein.

Im Video von BRalpha bekommen Sie einen Einblick in den Frugalismus als Lebensphilosophie:

https://www.youtube.com/watch?v=R_jVmvRJmRA

Indem Frugalist*innen ihren Konsum einer genauen Prüfung unterziehen, leben Frugalist*innen nicht nur sparsam, sondern in den meisten Fällen auch suffizient. Trotzdem steht eine frugale Lebensweise nicht automatisch für Umweltschutz. Denn gerade beim Einkaufen bedeutet die Entscheidung für das günstigere Produkt nicht gleichzeitig die Entscheidung für die umweltschonende Alternative.

Regionale Kartoffeln mögen zwar günstiger sein als exotisches Obst und Gemüse mit weiten Transportwegen. Gerade mit Blick auf tierische Produkte wie Fleisch und Käse schlägt gute Qualität sich in vielen Fällen in teureren Preisen nieder. Umweltbewusste Sparer*innen argumentieren dagegen, dass der Frugalismus in Kombination mit einem ausgeprägten Bewusstsein für ökologische Zusammenhänge durchaus eine nachhaltige Lebensweise darstellt.

Im ersten Beitrag auf unserer Kampagnen-Webseite haben wir bereits erläutert, warum Sparsamkeit keine Verschlechterung der Lebensqualität bedeuten muss. Im Gegenteil bestätigen auch viele Frugalist*innen immer wieder, dass ihr Leben durch den Wandel bewusster geworden sei – und damit intensiver. Halten Sie den Frugalismus für einen geeigneten Weg in eine suffiziente und nachhaltige Zukunft?

Wie Sie Energie sparen können – ein Gastbeitrag von Dr. Klaus Müschen

Foto: rawpixel /Pixabay

Acht von zehn Menschen in unserem Land wissen, dass sie wegen des Klimawandels ihre Art und Weise zu leben ändern müssen. Alle und jede*r ist gefragt, wenn wir innerhalb von zwei Jahrzehnten keine fossilen Brennstoffe mehr verbrauchen wollen, um so das Klima zu schützen. Die Nutzung von Energie für alle menschlichen Aktivitäten ist ein zentraler Baustein. Für unser Verhalten gilt: „Weniger ist mehr!“  Und dies in allen Lebensbereichen – von der Arbeit über das Wohnen, den Transport, die Freizeit, den Konsum. Was ist zu tun? Gehen wir ins Detail.

Deutsche haben mit den größten ökologischen Fußabdruck auf unserem Planeten. Jede*r kann mithilfe eines CO2Rechners selbst herausfinden, wie sein/ihr Verhalten im Alltag, bei der Arbeit oder auf Reisen dabei wirkt.

Wohnen

Foto: geralt/Pixabay

70% der Energie beim Wohnen werden für das Heizen verwendet. In jeder Wohnung können wir durch bewusstes Heizen und Lüften Energie sparen. Dazu sollten Fenster abgedichtet werden, Rollläden und Vorhänge nachts genutzt werden, um den Wärmeverlust zu mindern. Wichtig ist es, für die verschiedenen Räume die richtige Raumtemperatur zu finden. Das Umweltbundesamt empfiehlt für den Wohnbereich 20-22° C, für die Küche 18° C, für Schlafzimmer 17-18° C und für das Bad 22° C. Nachts sollte je nach Lebensrhythmus die Temperatur um 4-5° C abgesenkt werden.

Aber wie sind die Häuser beschaffen, in denen wir leben? Für Hauseigner*innen sind bauliche Maßnahmen sehr effektiv, um den Energieverbrauch zu senken. Eine gute Wärmedämmung sollte beim Neubau oder bei der Sanierung, ebenso wie ein effizientes Heizsystem möglichst mit erneuerbaren Energien  geplant werden. Hilfreich ist dabei die Unterstützung durch Energieberater*innen und die Hinweise auf entsprechenden Webseiten, z.B. auf der Internetseite von Blauer Engel.

Natürlich hängt der Energieverbrauch auch von der Fläche ab. Wie viel Quadratmeter braucht der Mensch zum Wohnen?  Seit den sechziger Jahren hat sich die Wohnfläche pro Person in Deutschland von 20 m² mehr als verdoppelt. Diese Entwicklung wirkt der steigenden Energieeffizienz entgegen. Und hier kann jede*r selbst durch die Wahl der Größe der Wohnung aktiv werden.

Ernährung

Foto: tinajedlicka/Pixabay

Besonders klimaschädlich sind tierische Produkte wie Fleisch, Käse oder Butter. Gegenüber Rindfleisch wird bei der Produktion von Obst und Gemüse weniger als ein Zehntel an Treibhausgasen emittiert. Daher ist eine mediterrane Kost nachhaltiger mit sehr viel weniger Fleisch, viel Gemüse und wenig Kohlenhydraten. Noch nachhaltiger ist es, sich vegetarisch oder vegan  zu ernähren. Wichtig ist es ebenso, dass die Lebensmittel regional und saisonal erzeugt und genutzt werden. So werden große zusätzliche Transporte vermieden.

Mobilität

Foto: B_Me/Pixabay

Den Energieverbrauch im Verkehr beeinflussen wir am meisten durch Fernreisen, die gefahrenen Kilometer mit dem Auto sowie den Kraftstoffverbrauch der Verkehrsmittel. Technische Verbesserungen für die Energieeffizienz im Verkehr der letzten Jahrzehnte wurden durch mehr Verkehr und umweltschädlichere Formen konterkariert.

Nachhaltig mobil sein bedeutet, die Schädigung der Umwelt durch kohlenwasserstoffhaltige Treibstoffe und Ressourcenverbrauch so weit wie möglich zu reduzieren. Priorität hat der Umstieg auf den „Umweltverbund“: Busse, Bahnen, Fahrrad und Zu-Fuß-Gehen. Das Auto sollte so wenig wie möglich – wenn überhaupt vorhanden – benutzt werden.

In einem Modellversuch mit 32 Wuppertaler Bürger*innen  konnten zwei Drittel der Treibhausgase im Verkehr eingespart werden. Folgende Handlungsoptionen stehen zur Verfügung: Wege mit verhaltensbedingt geringem Emissionsfaktor zurücklegen, Wegelängen verkürzen, Wegeanzahl verringern. Die sparsamsten Teilnehmenden erreichten sogar eine Minderung der Treibhausgase von 90%.

Nun ist das Ergebnis des Modellversuchs nicht ohne Weiteres von einer Großstadt mit gutem Nahverkehr auf ländliche Regionen übertragbar.  Daher müssen auch dort die Rahmenbedingungen verbessert werden. Dieselben Regeln gelten gleichermaßen beim Reisen für die Verkehrsmittel. Für längere Reisen sollte die Bahn benutzt werden. Bleibe im Lande und genieße stressfrei den Urlaub.

Konsum

Foto: stevepb/ Pixabay

Auch hier gilt „Weniger ist Mehr“. Es betrifft alle Kaufentscheidungen, die wir in unserem Leben treffen. Achten wir auf Langlebigkeit von Produkten, auf lokale und regionale handwerkliche Produktion, auf Energieeffizienz, Wiederverwendbarkeit und Recycelbarkeit.

Die Anti-Verbraucher-Pyramide von #kaufnix zeigt den richtigen nachhaltigen Weg auf für welches Produkt auch immer, Möbel, Haushaltsgeräte, Werkzeug, Kleidung,  täglicher Bedarf, usw..

Information und Kommunikation

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Unser Informationsverhalten hat sich in den letzten Jahren massiv verändert. Elektronische Medien werden häufiger verwendet, der damit erzeugte Energieverbrauch steigt immer stärker, aber wird meist nicht beachtet. Nicht nur bei den Endgeräten, sondern in der ganzen Nutzungskette von der Produktion über die Speicherung in Servern und die Verteilung im Netz.

Eine neue französische Studie weist nach, dass die Energieintensität jedes Jahr um rund vier Prozent zunimmt. Wir brauchen nicht nur effizientere Geräte, sondern auch ein geändertes Nutzungsverhalten und zusätzliche Anstrengungen, auf diese Techniken zu verzichten.

Ein Dilemma der „Weniger ist mehr“-Strategie ist der sogenannte Suffizienz-Rebound. Unsere Gesellschaft ist so reich, dass Verzicht oder Reduzierung von Aktivitäten in einzelnen Bereichen als Auslöser für Mehrkonsum in anderen Bereichen wirken kann. Es gilt also aufmerksam zu sein und zu bleiben, um die jeweiligen Auswirkungen unserer Handlungen zu bewerten.

Die Broschüre „Klimaneutral Leben“ des Umweltbundesamtes zeigt an Beispielen unterschiedlicher Lebensweisen, wie individuelle Einsparpotenziale genutzt werden können. Jede*r ist selbst verantwortlich für seinen/ihren ökologischen Fußabdruck!

Individuelle Entscheidungen ersetzen keine strukturellen Änderungen und umgekehrt. Beides ist notwendig. Daher müssen wir für den Klimaschutz auch politisch steuern durch  CO2-Steuer, Emissionshandel, EEG-Umlage, Plastikverbote, Tempolimit, Förderung von Power to X  oder Netzausbau. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Techniken sind vielfältig erforscht, es kommt darauf an, sie anzuwenden.

Über den Autor
© Klaus Müschen

Dr. Klaus Müschen arbeitet seit 40 Jahren im Klimaschutz und zur Energiewende. Von 2006 bis 2016 leitete er die Abteilung „Klimaschutz und Energie“ am Umweltbundesamt in Dessau. Davor leitete er seit 1989 das Referat Klimaschutz und Energieplanung/Informations-system Umwelt der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz des Landes Berlin. In dieser Zeit vertrat er Berlin im Aufsichtsrat der Berliner Energieagentur.  Nach dem Studium der Elektrotechnik und Sozialwissenschaften an der Universität Hannover promovierte er 1979 in Politischer Wissenschaft und Soziologie. Danach arbeitete er als Berufsschullehrer, als Hochschulassistent für Elektrotechnik an der Universität Hamburg und nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am Öko-Institut in Freiburg zu Ausstiegsszenarien und zu Energiedienstleistungen.