Suffizienz als „Strategie des Genug“

Wir leben in einer Zeit multipler ökologischer Krisen und Herausforderungen. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass ein „weiter so” katastrophale Folgen für die Lebensgrundlagen des Menschen haben wird. Nichts zeigt dies eindrücklicher als ein Blick auf die Planetaren Grenzen (siehe Abb.), von denen bereits sechs der neun überschritten sind. Als eine der größten Volkswirtschaften der Erde trägt Deutschland dabei eine entscheidende Mitverantwortung. Umso alarmierender ist es, dass das Land aktuell eine ganze Reihe von Umweltzielen der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2030 zu verfehlen droht. Es braucht offensichtlich dringender denn je Maßnahmen und innovative Ansätze zur Minderung des Ressourcenverbrauchs und der Umweltbelastung.

 

Ein Diskussionspapier – 16 Thesen

Der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) hat vor diesem Hintergrund kürzlich ein Diskussionspapier veröffentlicht. Bemerkenswert ist, dass die bisweilen immer noch vernachlässigte Nachhaltigkeitsstrategie der Suffizienz die Hauptrolle spielt. Anhand von ineinander verzahnten 16 Thesen, die jeweils inhaltliche Aspekte rund um Suffizienz fokussieren, wird die Notwendigkeit dieser Nachhaltigkeitsstrategie in einem kondensiert zusammengetragenen wissenschaftlichen Diskurs dargelegt. Das Diskussionspapier bietet dabei einen umfassenden Blick auf die im Rahmen der planetaren Grenzen erforderliche Rolle von Suffizienz im Zusammenspiel von Natur und Kultur. Die Thesen entfalten sich bewusst nicht entlang einer linearen Logik, sondern spannen Bögen innerhalb thematisch gruppierter Blöcke:

Das Fundament: Warum Nachhaltigkeit ohne Suffizienz nicht möglich ist 
These 1: Suffizienz ist für eine Stabilisierung der Erde innerhalb planetarer Grenzen unerlässlich.
These 2: Suffizienz ist Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben aller in planetaren Grenzen.

Die Zusammenhänge: Fünf Thesen für ein systemisches Verständnis von Suffizienz 
These 3: Suffizienz ist notwendiger Teil einer Strategie, um schädliche Eigendynamiken der Technosphäre einzuhegen.
These 4: Suffizienz kann den Bedarf an Rohstoffen reduzieren und zu ihrer langfristigen Verfügbarkeit beitragen. 
These 5: Die Verbreitung suffizienter Praktiken erfordert auch strukturellen Wandel. 
These 6: Ressourcenintensive Lebensstile gefährden die Freiheit anderer und es gibt keinen moralischen Anspruch, dies zu ignorieren. 
These 7: Suffizienz konfrontiert die Gesellschaft mit den Widersprüchen der westlichen Moderne. 

Vier fachliche Perspektiven: Suffizienz in Ökonomie, Kreislaufwirtschaft, Recht und Kultur
These 8: Suffizienz erfordert ein zukunftsfähiges Wohlfahrtsverständnis und ein vorsorgeorientiertes Wirtschaftssystem. 
These 9: Eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft setzt Suffizienz voraus.
These 10: Eine Politik der Suffizienz ist verfassungsrechtlich möglich und unter bestimmten Bedingungen sogar geboten.
These 11: Kultureller Wandel ist Voraussetzung für und Resultat von Suffizienzpolitik. 

Die Herausforderungen: Fünf Thesen zu Chancen von und Hindernissen für Suffizienz 
These 12: Suffizienz kann Baustein eines gelingenden Lebens sein.
These 13: Ökonomische Analysen zu Ökologie und Verteilungsgerechtigkeit bereichern den Suffizienzdiskurs.
These 14: Suffizienzpolitik wird auf gesellschaftliche Widerstände treffen. 
These 15: Suffizienzpolitik muss sozial gerecht gestaltet werden und kann Ungleichheit verringern. 
These 16: Es bedarf einer Verständigung auf zentrale Handlungsfelder für Suffizienzmaßnahmen. 

Lösungen brauchen Dialog und Akzeptanz

Das knapp 100-seitige Dokument erlegt sich bereits zu Beginn selbst die Grenze auf, das „Warum” jedoch nicht das „Wie” zu erörtern. Es geht den Autor*innen darum, evidenzbasiert die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung von Suffizienz neben Effizienz und Konsistenz zu diskutieren. Es geht dem Diskussionspapier nicht darum, finale Lösungen zu präsentieren, sondern einen Debattenbeitrag zu leisten und zu einer pluralen Debatte hinsichtlich einer nachhaltigen Zukunftsfähigkeit und einem zeitgemäßen Wohlfahrtsverständnis anzuregen. 

Dabei zeigt die Lektüre des inhaltlich verdichteten Diskussionspapiers eindrücklich eine wiederkehrende Herausforderung in der Wissenschaftskommunikation sowie allgemeinen Bürgerbeteiligung: Wie gelingt es, komplexe Zusammenhänge zugleich inhaltlich tiefgehend zu behandeln und laienfreundlich darzustellen, sodass eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung ohne unzulässige Simplifizierungen möglich wird. 

Ein erster Schritt zur öffentlichen Debatte mit Fachpublikum wurde bereits mit einer Online-Veranstaltung des SRU Ende April gelegt, die Raum für Diskussionsbeiträge von Akteuren aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft bot. Die fehlenden Antworten auf die Frage des „Wie“ wurden dabei wiederholt durch teilnehmende Impulsgeber*innen während der Veranstaltung angemerkt, insb., da sie die Vermittlung des „Warum“ in den letzten Jahrzehnten als erfolgsarmes Unterfangen resümieren. Zwar hält das Diskussionspapier dafür – wie gesagt – bewusst wenig konkrete Handlungsempfehlungen bereit, legt jedoch schlüssig und eindrücklich dar, dass notwendige Maßnahmen nur auf demokratischen Wege zu finden sind. Dafür wird es jedoch auch weiterhin erheblicher Anstrengungen bedürfen, um die komplexen wissenschaftlichen Erkenntnisse niederschwellig in die Gesellschaft zu tragen und eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für substantielle Veränderungen zu erreichen. 

Da die Zeit mehr denn je drängt, ist zu hoffen, dass dieser Austausch nur der Auftakt für einen verstetigten, umfassenden und inklusiven Dialogprozess ist – ganz im Sinne der formulierten abschließenden Diskussionseinladung der Autor*innen des vorgestellten Papiers.

Das Diskussionspapier des Sachverständigenrats für Umweltfragen steht hier zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Fachgespräch zu Suffizienz als Nachhaltigkeitspolitik

Der diesjährige deutsche Erdüberlastungstag am 2. Mai steht kurz bevor ­– zwei Tage früher als letztes Jahr. Immer mehr wissenschaftliche Studien zeigen auf, dass eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs unumgänglich ist, um ein gutes Leben innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen zu ermöglichen. Dieser Bedarf spiegelt sich in den aktuellen politischen Nachhaltigkeitsstratgien allerdings noch nicht wider.

Vor diesem Hintergrund hat das Ökumenische Netzwerk Klimagerechtigkeit vergangenen Herbst ein Positionspapier „Eine Strategie des Genug“ veröffentlicht. Auf dessen Basis fand am 10. April 2024 ein einstündiger Austausch im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung im Paul-Löbe-Haus statt und wurde zugleich online übertragen. Im Anschluss an eine Kurzvorstellung der zentralen Anliegen des Positionspapiers wurden dessen politischen Implikationen diskutiert.

Das Ökumenische Netzwerk tritt in dem von 60 Organisationen unterzeichneten Positionspapier mit zwei konkreten Forderungen an die Politik heran:

1. Suffizienz soll als zentrales Nachhaltigkeitsprinzip neben Effizienz und Konsistenz anerkannt und in einer Bundestags-Enquete-Kommission diskutiert werden.

2. Suffizienz soll als fester Bestandteil der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie verankert werden.

Um dem Thema Suffizienz politisch gerecht zu werden, wird vorgeschlagen, das Querschnittsthema als 7. Transformationsbereich „Soziale Innovationen/Suffizienz“ an die Arbeit in den Ministerien anzugliedern. Als Aufgaben leiten sich daraus für alle Transformationsbereiche Maßnahmen mit dem Ziel der absoluten Verbrauchsreduktion sowie eine Einbeziehung von Suffizienz in die Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzen ab. Zur Entwicklung erfolgreicher Suffizienzmaßnahmen legt das Ökumenische Netzwerk außerdem die Initiierung eines „Nationalen Forschungsprogramms Suffizienz“ nahe. In dessen Rahmen könnten z. B. Studien dazu dienen, ein besseres Verständnis der Wirksamkeit einer erfolgreichen Kommunikation von Suffizienzpolitiken zu liefern. Langfristig steht die große Frage im Raum, wie das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden kann, um das nachhaltige Funktionieren der gesellschaftlichen Systeme zu sichern.

Diskussion zum Verhältnis von Suffizienzpolitik und Freiheit

In der Debatte mit Mitgliedern des Parlamentarischen Beirats zeigten sich die unterschiedlichen politischen Zugänge zum Thema Suffizienz. Sorgen um die nachhaltigkeitspolitisch begründete Einschränkung von Gestaltungsfreiheiten der Bürger*innen begegneten Sorgen um Freiheitseinschränkungen in Folge der multiplen Krisen.

Die eingeladenen Sachverständigen betonten in ihren Reaktionen auf die Beiträge, dass Suffizienz bereits für viele Bürger*innen gelebter Alltag ist. Sie verwiesen hierbei auch auf Studien, die eine mehrheitliche Akzeptanz von Suffizienzmaßnahmen nahelegen, beispielsweise eine Auswertung der vorgeschlagenen Nachhaltigkeitsmaßnahmen elf europäischer Bürger*innenräte. Parallel wurde ein Mangel an politischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen herausgestellt, die suffizientes Verhalten zur einfachen, bequemen und günstigen Variante befördern. Carina Zell-Ziegler vom Öko-Institut betonte an dieser Stelle die Bedeutung aktuell bestehender Preisverzerrungen zu Lasten der Nachhaltigkeit: „Ich würde noch hinzufügen, dass ja die Preise im Moment auch nicht die ökologischen Schäden widerspiegeln und dass auch eine Abschaffung von umweltschädlichen Subventionen eigentlich Teil einer Suffizienzpolitik sein müsste […], um die wahren ökologischen Kosten zu zeigen und damit erst mal eine Preistransparenz zu schaffen für die ökologischen Schäden, die mit dem Konsum einhergehen.“

In der Kommunikation empfiehlt das Ökumenische Netzwerk, mit Positiv-Beispielen zu motivieren und Chancen zum gemeinsamen Lösen sozialer und ökologischer Probleme aufzuzeigen. In ihrer Arbeit ist es ihnen wichtig den informativen Austausch in einem Miteinander zu führen, erzählte Isabell Rutkowski von Bund katholische Jugend. Ein zentrales Element sei es dabei, die Ängste vieler Menschen wahrzunehmen und politisch widerzuspiegeln. Astrid Hake vom Ökumenischen Netzwerk beschrieb ein Ping-Pong-Spiel zwischen dem Bedarf von kulturellen Veränderungen in der Wahrnehmung von Genügsamkeit und den benötigten politischen Rahmenbedingungen. Der aktive kulturelle Wandel soll die Resilienz stärken und eben jenen Ängsten vor Skeptikern der Suffizienzpolitik vorbeugen: Einer Gesellschaft im Krisenmodus mit reduziert verfügbaren, rationierten Ressourcen. Jörg Göpfert von der Evangelischen Akademie reagierte auf die seitens des AFD-Vertreters geäußerte Befürchtung einer rationierenden Planwirtschaft: „Dieses Zuteilungsmodell das ist ja eben das denkbar für uns unschönste Szenario. Das wird aber auf [die Menschheit] zukommen, wenn wir nicht den Weg, den wir jetzt beschreiten, verlassen und versuchen ihn doch verträglicher zu gestalten. Und deswegen regen wir ja diese Debatte an.“

Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung hat den Impuls zur Diskussion von Suffizienzpolitiken erfreut aufgenommen und Interesse an einem weiteren Austausch zu diesem Thema geäußert. Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat kürzlich ein Diskussionspapier mit 16 Thesen zu Suffizienz als „Eine Strategie des Genug“ veröffentlicht und eine öffentliche Diskussionsveranstaltung angestoßen.

Insgesamt lässt sich die Veranstaltung folglich als kompakter und konstruktiver Austausch einordnen. Es lässt sich an dieser Stelle hoffen, dass aufgrund der akuten Dringlichkeit der ökologischen Herausforderungen dies nur der Auftakt für eine Reihe zeitnah folgender Formate ist, die die Bedeutung von Suffizienz ins politische Rampenlicht rücken. Denn da gehört sie hin.

Die Aufzeichnung der Veranstaltung des parlamentarischen Beirats vom 10. April 2024 können Sie sich hier im Nachhinein anschauen.

Suffizienzorientierte Lebensstile – ein Interview mit Dr. Elisabeth Dütschke und Dr. Sabine Preuß

Suffizienz ist neben Effizienz und Konsistenz eine der drei gleichrangigen Nachhaltigkeitsstrategien. Im Gegensatz zu den beiden stärker technisch und regulatorisch ausgerichteten Strategien setzt Suffizienz beim Bewusstsein und Handeln jedes Einzelnen an. Sie lädt uns ein, unsere etablierten Konsum- und Verhaltensmuster kritisch zu reflektieren und Neues zu erproben. Dennoch braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, um suffiziente Lebensstile Realität werden zu lassen. Welche das sind, wird gegenwärtig im mehrjährigen, länderübergreifenden Forschungsvorhaben FULFILL erforscht.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie forschen gerade im Rahmen des mehrjährigen Projekts FULFILL zum Thema Suffizienz. Bitte erläutern Sie uns kurz, worum es in Ihrem Vorhaben geht.

Dr. Preuß: FULFILL ist eine Abkürzung für den langen Projektnamen „Fundamentale Dekarbonisierung durch Suffizienz und Lebenstilveränderungen“. Aus dem Titel kann man schon erahnen, um was es geht: Wir schauen uns an, wie CO₂-Emissionen durch Veränderungen im Lebensstil und Suffizienz verringert werden können. Suffizienz kann grob beschrieben werden als „mit weniger besser leben“. Das Projekt ist international ausgerichtet, sodass wir nicht nur in Deutschland repräsentative Befragungen in der Allgemeinbevölkerung und Interviews mit Suffizienz-Initiativen durchführen, sondern dies auch in Frankreich, Italien, Dänemark, Lettland und Indien machen. Aber natürlich schaffen wir das nicht alleine. Wir sind ein Forschungskonsortium mit acht Partnern aus der Wissenschaft wie das Fraunhofer ISI, das Wuppertal Institut, EURAC und der Universität Politecnico di Milano, aber auch Think-Tanks und NGOs wie négaWatt, Jacques Delors Institut, Inforse und Zala Briviba.

Dr. Dütschke: Im weiteren Verlauf des Projektes werden auch noch umfangreiche Analysen folgen, mit welchen Politikmaßnahmen sich Suffizienz vorantreiben lässt. Und es wird noch eine umfangreiche Bewertung zu wirtschaftlichen Auswirkungen und Klimawirkungen gemacht.

DUS: In Ihrem Forschungsdesign behandeln Sie u. a. regulatorische und infrastrukturelle Maßnahmen, um suffizientes Verhalten zu ermöglichen. Wieso brauchen individuelle Verhaltensveränderungen eigentlich derartige politische Weichenstellungen?

Dr. Preuß: Weil es oftmals ohne sie nicht möglich ist. Wenn ich beispielsweise keine Möglichkeit habe, mein Fahrrad am Arbeitsplatz sicher abzustellen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich für den Weg zur Arbeit ins Auto statt aufs Fahrrad steige, sehr viel größer – auch wenn mir das Fahrradfahren gesundheitlich und mental guttun würde. Das ist nur ein Beispiel von vielen.

Dr. Dütschke: Das geht dann für viele andere Bereiche ähnlich weiter: Um auf den Trockner zu verzichten, braucht es geeignete Möglichkeiten, die Wäsche aufzuhängen – sei es im Außenbereich oder im Waschkeller. Damit verbunden ist dann aber auch die wichtige Frage, wer das im Haushalt übernimmt. In den meisten Fällen sind die Frauen dafür zuständig – hier gilt es weiterzudenken, dass Suffizienz nicht zulasten bestimmter Bevölkerungsgruppen geht.

DUS: Wenn es um ökonomische Verhaltensänderungen geht, stehen Entscheider*innen traditionell Anreiz- und Sanktionsinstrumente zur Verfügung. Welche Instrumente braucht es für eine aktive Suffizienzpolitik?

Dr. Preuß: Basierend auf den Ergebnissen aus FULFILL wissen wir das noch nicht genau, denn die Forschungsarbeiten dazu laufen gerade noch (das Projekt läuft bis September 2024). Aus anderen Forschungsprojekten wissen wir jedoch, dass ein Mix aus Push- und Pull-Maßnahmen sinnvoll erscheint. Aus psychologischer Sicht sollten Push-Maßnahmen, also Sanktionen, vor allem dann genutzt werden, wenn es um essenzielle oder gar fatale Entscheidungen bzw. Verhaltensveränderungen geht – und das tut es ja beim Klimawandel, zumindest langfristig. Aber natürlich sollten auch Anreize umgesetzt werden, um die Menschen nicht nur durch Verbote zu suffizienten Lebensstilveränderungen zu leiten. Diese Pull-Maßnahmen haben meist eine höhere Akzeptanz in der breiten Bevölkerung (im Vergleich zu Push-Maßnahmen), sind aber oft weniger effektiv, was tatsächliche Verhaltensveränderungen angeht.

Dr. Dütschke: In Frankreich gibt es für so eine Maßnahmenkombination gerade ein gutes Beispiel. Dort werden Kurzstreckenflüge verboten, wenn es alternativ eine Direktverbindung mit einem Hochgeschwindigkeitszug gibt.

DUS: Eine ergänzende Frage zu politischen Instrumenten: Aktuell wird im Zuge einer Stärkung der demokratischen Strukturen der EU viel über dialogische Bürgerbeteiligung gesprochen. Welche Bedeutung messen Sie dieser im Rahmen einer aktiven Suffizienzpolitik bei?

Dr. Dütschke: Ich denke, Suffizienz unterscheidet sich hier nicht von anderen Bereichen. Ein umfassender gesellschaftlicher Wandel wird nur gelingen, wenn er von und mit der Gesellschaft entwickelt wird. Das geschieht über bestehende demokratische Prozesse, aber auch über neue Formate.

Dr. Preuß: Auch hier gilt es natürlich wieder alle Bevölkerungsgruppen abzuholen und niemanden außen vorzulassen.

DUS: FULFILL wird länderübergreifend umgesetzt. Können Sie länderspezifische Unterschiede ausmachen? Und welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus im Hinblick auf die Frage, auf welcher föderalen Ebene Suffizienzpolitik ansetzen sollte?

Dr. Dütschke: Was die individuellen Lebensstile angeht, finden wir interessanterweise einige ähnliche Muster über die Länder hinweg, etwa was den Zusammenhang zwischen Einkommen und Ressourcenverbrauch angeht. Die strukturellen Faktoren und die politischen Rahmenbedingungen sind jedoch unterschiedlich. Hier sind wir aber noch mitten in der Analyse.

DUS: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: „Damit gutes Leben einfacher wird“, heißt ein bekanntes Buch zum Thema Suffizienz von Uwe Schneidewind. Welchen Ratschlag würden Sie unseren Leser*innen geben, um ihr Leben suffizienter zu gestalten?

Dr. Preuß: Wirklich zu hinterfragen, ob ich das brauche und warum – egal, ob es um das neue Oberteil, den Flug nach Mallorca, den Umzug in die sehr viel größere Wohnung oder im Supermarkt um die Avocado aus Mexiko geht. Oft sind uns unsere Bedürfnisse gar nicht richtig bewusst. Was wir wirklich brauchen, wird manchmal deutlich, wenn jede*r reflektiert, was er oder sie auf einer einsamen Insel definitiv für sich brauchen würde. Für manche mag es das Make-up sein, für andere vielleicht ein gutes Buch oder Musik und für wieder andere gar nichts – für viele vermutlich das Handy, um mit den Liebsten in Kontakt zu bleiben. Darüber hinaus ist auch der suffiziente Umgang mit Zeit etwas, das mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Ich persönlich – ohne es mit wissenschaftlichen Artikeln untermauern zu können – kann einen Trend erkennen zu einer Reduktion der Arbeitszeit und dem Wunsch nach gemeinsamer Zeit, beispielsweise das gemeinsame Arbeiten im Garten oder ein gemeinsamer Zoobesuch als Geburtstagsgeschenk  – ganz weg von materiellen Dingen.

ÜBER DIE INTERVIEWPARTNERINNEN

Dr. Elisabeth Dütschke ist Diplom-Psychologin und forscht seit fast 15 Jahren am Fraunhofer ISI in Karlsruhe zur gesellschaftlichen Perspektive auf die Energiewende. Sie koordiniert das interdisziplinäre Geschäftsfeld Akteure und Akzeptanz in der Transformation des Energiesystems.

Dr. Sabine Preuß hat in Psychologie promoviert und erforscht seit 2019 am Fraunhofer ISI den „Faktor Mensch“ in der Energiewende. Sie untersucht Verhaltens- und Einstellungsänderungen sowie die Akzeptanz von Technologien und Politiken – mit einem besonderen Fokus auf Energiegerechtigkeit und diversen Bevölkerungsgruppen.

Zusammen leiten Dr. Dütschke und Dr. Preuß das Forschungsprojekt FULFILL.

Dr. Sabine Preuß (links) und Dr. Elisabeth Dütschke (rechts)

Projektarbeit zu Suffizienz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE)

Im Wintersemester 2021/22 haben Studierende mögliche Lösungswege für mehr Nachhaltigkeit und weniger Leistungsdruck an der HNEE formuliert. Auf Ihrem Plakat (siehe Bild 1) zeigen sie anhand verschiedener Bereiche des Hochschulsystems, inwiefern diese im Rahmen der 4 E’s der Suffizienz angepasst werden könnten.

Suffizienz meint in dem Kontext, das „richtige“ und „notwendige“ Maß von Ressourcenverbrauch anzustreben, sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene. Häufig werden die vier E’s nach Wolfgang Sachs genutzt – Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung und Entrümpelung – um sich am richtigen Maß zu orientieren.

Bild 1: Suffizienz an der HNEE

Wie sind die vier E´s an der HNEE umsetzbar?

Die Studierenden sehen das größte Potenzial zur Verbesserung der Strukturen in den Bereichen Vernetzung, Bürokratieab- und umbau und der Material-Ressourceneinsparung.

Vernetzung: Die Intensivierung der Vernetzung, d. h. verbesserter Austausch und Kontakt zwischen den Hochschulangehörigen, sowie der Ausbau von fachübergreifenden Lehrveranstaltungen, soll zu Entschleunigung führen. Um das zu bewerkstelligen, sei es notwendig, reale Orte am Standort der Hochschule zu schaffen. Das können sein (1) Silence Space für Ruhe und Achtsamkeit; (2) Aufenthaltsräume, Cafés etc. zum Austausch und für Pausen; (3) Orte der Beratung für Familien und internationale Studierende und Burn-Out-Prävention; und (4) Food-Sharing und Schenkschränke als Orte nach dem Common-Prinzip. Diese Orte sollten gleichermaßen für alle Hochschulangehörigen zugänglich sein.

Bürokratieab- und umbau: Entflechtung werde insbesondere durch Bürokratieabbau erzeugt, indem Zugang zu den Angeboten für alle Menschen z. B. mit Familie, Job und anderen Sondersituationen ermöglicht wird. Die Umstrukturierung, vorwiegend die Vereinfachung der Bürokratie, führe dazu, dass der Transferprozess von Informationen intensiviert wird. Das bedeute, dass transferiertes Wissen z. B. im Rahmen von Amtswechseln in Gremien vereinfacht zugänglich ist.

Material-Ressourceneinsparung: Die Wiederverwendung und Einsparung von Materialien und Ressourcen wird als Maßnahme der materiellen Entrümplung vorgestellt. Eine Umfrage hat ergeben, dass die Studierenden Möglichkeiten der Einsparung vor allem in den Bereichen Heizung/Wärme, Druckerpapier, Wasser, Lehrinhalte und Strom sehen. An der HNEE gibt es bereits einen Beschaffungsleitfaden, welcher den Materialkauf und die Frage „Wann wird etwas weggeworfen?“ regelt. Die Studierenden fordern zudem die Einsparung von z. B. Labormaterialien.

Wie kann der Leistungsdruck an der Hochschule verringert werden?

Neben der materiellen Suffizienz fokussierten die Studierenden auch den sozialen Bereich der Suffizienz. Laut einer Umfrage empfinden 11,38 Prozent der Studierenden, Lehrenden und Mitarbeitenden der Hochschule sehr starken und 45,51 Prozent der Befragten starken Leistungsdruck. Können Ansätze der Suffizienz dem Empfinden hoher Belastung und Leistungsdruck entgegenwirken?

Zur Verbesserung der Lebensqualität an der Hochschule brauche es grundlegende Rahmenbedingungen, die Entschleunigung sowie Entkommerzialisierung hervorrufen. Da Stress auf subjektiver Wahrnehmung beruht, dürfen die Maßnahmen jedoch nicht zu spezifisch formuliert sein. Nachjustieren könnte die HNEE etwa, indem flexible Möglichkeiten der Zeiteinteilung geschaffen werden. Die Auswahl zwischen Voll- und Teilzeit sollte frei wählbar sein und das Angebot von Prüfungszeiträumen müsse ausgebaut werden. Zudem sind das Vertrauen und die Wertschätzung zwischen den Hochschulangehörigen essentiell, um das Gefühl des Leistungsdrucks zu vermindern.

Fazit/Ausblick

Um ein optimales Maß zwischen Einsparung und Verzicht zu finden, sollte Suffizienz in der Hochschulpolitik und -kultur offen besprochen werden. Eine Suffizienzstrategie kann dazu beitragen, die Lebensqualität für alle an der Hochschule zu verbessern. In einem Interview mit Studierenden aus dem Projekt wird deutlich, an welchen Stellen die HNEE bereits Suffizienz praktiziert und wo es Verbesserungsbedarf gibt.

Veröffentlichungen zum Thema Suffizienz an der HNEE

Allan Dietz (2021): Die Gewaltfreie Kommunikation als Ansatz zur Förderung von suffizientem Handeln an Hochschulen. Eine Fallstudie zur Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE). Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

Radka Geißler (2022): Mehr ist weniger. Suffizienz an der HNEE. Online unter URL: https://www.ackerdemiker.in/post/mehr-ist-weniger-suffizienz-an-der-hnee (Abruf: 13.10.2022).

Marcel Pfeifer (2022): Konzeptvorschlag zur Entwicklung einer Suffizienz-Strategie für die HNEE. Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde.

Suffizienz im Lichte der ökologischen Nachhaltigkeit im Koalitionsvertrag

Seit Jahrzehnten warnen Wissenschaftler*innen vor dem zunehmend negativen Einfluss des menschlichen Handelns auf den Planeten. Parallel demonstrieren immer mehr Menschen regelmäßig für eine ökologische Wende. Der Ruf nach mehr klimapolitischer Initiative seitens der Politik war im letzten Wahlkampf dementsprechend deutlich zu vernehmen. Umweltverbände und Klimaaktivist*innen wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg sprachen noch wenige Tage vor der Wahl davon, dass es sich ökologisch betrachtet um eine Jahrhundertwahl handle.

Dementsprechend hoch war die Erwartungshaltung vieler, dass sich mit der neuen Regierung nun endlich etwas ändern wird. Am 24. November war es dann soweit und die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen stellte ihren Koalitionsvertrag vor.

Aber wie viel Umweltschutz steckt jetzt eigentlich im neuen Koalitionsvertrag?

Kurz gesagt: Hinter allen Versprechen und Zielen steckt, wie so oft, die gleiche alte Denkweise: Man fokussiert sich lediglich auf Aspekte der populären Nachhaltigkeitsstrategien: der Effizienz und Konsistenz. Dies alleine wird jedoch nicht ausreichen, um das 1,5 Grad Ziel zu erreichen. Daher sollten wir uns bereits heute auf die Suche nach Alternativen machen. Eine davon ist Suffizienz.

Suffizienz findet sich aber mit keinem Wort im Koalitionsvertrag wieder.

Die Deutsche Umweltstiftung fordert daher schon lange ein Umdenken in Politik und Gesellschaft hin zu mehr Suffizienz. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Umweltstiftung Jörg Sommer mahnt:

„Wir besitzen, plündern, verkaufen und zerstören Ökosysteme, die uns nicht gehören – und nennen das erfolgreiches Wirtschaften. Die Menschheit hat sich verheddert, verwirtschaftet und verzockt. Wirtschaften ist nichts anderes als der Umgang mit begrenzten Ressourcen. Soziale Gerechtigkeit kann daher auch nur mit und in der Natur gelingen. Oftmals ist das Mantra der digitalen Welt jedoch: „Wachsen, wachsen, wachsen!“.

Jörg Sommer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Umweltstiftung

Um allen Menschen ein “Gutes Leben” innerhalb der planetaren Grenzen zu ermöglichen, braucht es dringend eine kritische Debatte über Glück und Wohlstand. Es soll dabei nicht um Selbstkasteiung und Askese gehen, sondern um die bewusste gemeinsame Auseinandersetzung mit der Frage, welche materiellen und immateriellen Dinge zu einem guten Leben beitragen. Es geht dabei um ein gesundes Maß an Genügsamkeit.

Vor diesem Hintergrund engagiert sich die Deutsche Umweltstiftung seit Jahren für mehr Suffizienz in der Gesellschaft und hat dazu eine Reihe von Projekten und Kampagnen erfolgreich durchgeführt:

Die mehrmonatige Crossmedia-Kampagne “#kaufnix – Schluss mit unbedachtem Konsum” sprach sich 2019 gegen grenzenloses Wachstum und unbedachten Konsum aus. Es war das klare Ziel des Vorhabens, aktuell vorherrschende Konsummuster zur Diskussion zu stellen, die ein maßloses Wirtschaftswachstum beflügeln. Dazu stellte die Deutsche Umweltstiftung in Zusammenarbeit mit zahlreichen renommierten Gastautor*innen und Interviewpartner*innen wie Niko Paech, Angelika Zahrnt und Claudia Kemfert das Konzept der Suffizienz als Lösungsansatz für eine nachhaltige Zukunft vor.

Im Jahr darauf folgte der Schulwettbewerb „Einfach machen – Die Suffizienzdetektive“. Schulklassen, Schüler*innengruppen und Arbeitsgemeinschaften der Sekundarstufe 1 sollten existierendes Wissen rund um das Thema „ressourcensparende Lebens- und Freizeitgestaltung” auf positive Weise bearbeiten. Mittels bestehender Best Practices und niederschwelliger Informationen entwickelten junge Menschen eigene Aktionen für ressourcenschonende Lebensweise im Alltag.

Die vielen Projekte der Schüler*innen und Beiträge von Expert*innen zeigen, dass Suffizienz eine spannende und beachtenswerte Alternative zu etablierten Denkmustern darstellt. Sie begegnet der Problematik planetarer Grenzen durch Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen und einem neuen Blick auf die Welt.

Entsprechend argumentieren auch die Autoren Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer des kürzlich veröffentlichten und viel beachteten Ökohumanistischen Manifests, indem sie das tradierte Denken hinterfragen, das unsere multiplen Krisen verursacht hat. Sie setzen ihm ihre im positiven Sinne radikale Philosophie des Ökohumanismus entgegen.

Ihr leidenschaftliches und Mut machendes Manifest verknüpft die Akzeptanz der planetaren Grenzen mit dem Ziel einer gerechten Welt. Es rückt den Menschen und seine Stärken in den Mittelpunkt der Debatte um die Ökologie und unsere Zukunft.

Es bleibt zu hoffen, dass viele Regierungsmitglieder ihr Buch zur Kenntnis nehmen und dieses neue Verständnis Einzug in die Politik der kommenden vier Jahre erhält.