Suffizienzorientierte Lebensstile – ein Interview mit Dr. Elisabeth Dütschke und Dr. Sabine Preuß

Suffizienz ist neben Effizienz und Konsistenz eine der drei gleichrangigen Nachhaltigkeitsstrategien. Im Gegensatz zu den beiden stärker technisch und regulatorisch ausgerichteten Strategien setzt Suffizienz beim Bewusstsein und Handeln jedes Einzelnen an. Sie lädt uns ein, unsere etablierten Konsum- und Verhaltensmuster kritisch zu reflektieren und Neues zu erproben. Dennoch braucht es entsprechende Rahmenbedingungen, um suffiziente Lebensstile Realität werden zu lassen. Welche das sind, wird gegenwärtig im mehrjährigen, länderübergreifenden Forschungsvorhaben FULFILL erforscht.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie forschen gerade im Rahmen des mehrjährigen Projekts FULFILL zum Thema Suffizienz. Bitte erläutern Sie uns kurz, worum es in Ihrem Vorhaben geht.

Dr. Preuß: FULFILL ist eine Abkürzung für den langen Projektnamen „Fundamentale Dekarbonisierung durch Suffizienz und Lebenstilveränderungen“. Aus dem Titel kann man schon erahnen, um was es geht: Wir schauen uns an, wie CO₂-Emissionen durch Veränderungen im Lebensstil und Suffizienz verringert werden können. Suffizienz kann grob beschrieben werden als „mit weniger besser leben“. Das Projekt ist international ausgerichtet, sodass wir nicht nur in Deutschland repräsentative Befragungen in der Allgemeinbevölkerung und Interviews mit Suffizienz-Initiativen durchführen, sondern dies auch in Frankreich, Italien, Dänemark, Lettland und Indien machen. Aber natürlich schaffen wir das nicht alleine. Wir sind ein Forschungskonsortium mit acht Partnern aus der Wissenschaft wie das Fraunhofer ISI, das Wuppertal Institut, EURAC und der Universität Politecnico di Milano, aber auch Think-Tanks und NGOs wie négaWatt, Jacques Delors Institut, Inforse und Zala Briviba.

Dr. Dütschke: Im weiteren Verlauf des Projektes werden auch noch umfangreiche Analysen folgen, mit welchen Politikmaßnahmen sich Suffizienz vorantreiben lässt. Und es wird noch eine umfangreiche Bewertung zu wirtschaftlichen Auswirkungen und Klimawirkungen gemacht.

DUS: In Ihrem Forschungsdesign behandeln Sie u. a. regulatorische und infrastrukturelle Maßnahmen, um suffizientes Verhalten zu ermöglichen. Wieso brauchen individuelle Verhaltensveränderungen eigentlich derartige politische Weichenstellungen?

Dr. Preuß: Weil es oftmals ohne sie nicht möglich ist. Wenn ich beispielsweise keine Möglichkeit habe, mein Fahrrad am Arbeitsplatz sicher abzustellen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich für den Weg zur Arbeit ins Auto statt aufs Fahrrad steige, sehr viel größer – auch wenn mir das Fahrradfahren gesundheitlich und mental guttun würde. Das ist nur ein Beispiel von vielen.

Dr. Dütschke: Das geht dann für viele andere Bereiche ähnlich weiter: Um auf den Trockner zu verzichten, braucht es geeignete Möglichkeiten, die Wäsche aufzuhängen – sei es im Außenbereich oder im Waschkeller. Damit verbunden ist dann aber auch die wichtige Frage, wer das im Haushalt übernimmt. In den meisten Fällen sind die Frauen dafür zuständig – hier gilt es weiterzudenken, dass Suffizienz nicht zulasten bestimmter Bevölkerungsgruppen geht.

DUS: Wenn es um ökonomische Verhaltensänderungen geht, stehen Entscheider*innen traditionell Anreiz- und Sanktionsinstrumente zur Verfügung. Welche Instrumente braucht es für eine aktive Suffizienzpolitik?

Dr. Preuß: Basierend auf den Ergebnissen aus FULFILL wissen wir das noch nicht genau, denn die Forschungsarbeiten dazu laufen gerade noch (das Projekt läuft bis September 2024). Aus anderen Forschungsprojekten wissen wir jedoch, dass ein Mix aus Push- und Pull-Maßnahmen sinnvoll erscheint. Aus psychologischer Sicht sollten Push-Maßnahmen, also Sanktionen, vor allem dann genutzt werden, wenn es um essenzielle oder gar fatale Entscheidungen bzw. Verhaltensveränderungen geht – und das tut es ja beim Klimawandel, zumindest langfristig. Aber natürlich sollten auch Anreize umgesetzt werden, um die Menschen nicht nur durch Verbote zu suffizienten Lebensstilveränderungen zu leiten. Diese Pull-Maßnahmen haben meist eine höhere Akzeptanz in der breiten Bevölkerung (im Vergleich zu Push-Maßnahmen), sind aber oft weniger effektiv, was tatsächliche Verhaltensveränderungen angeht.

Dr. Dütschke: In Frankreich gibt es für so eine Maßnahmenkombination gerade ein gutes Beispiel. Dort werden Kurzstreckenflüge verboten, wenn es alternativ eine Direktverbindung mit einem Hochgeschwindigkeitszug gibt.

DUS: Eine ergänzende Frage zu politischen Instrumenten: Aktuell wird im Zuge einer Stärkung der demokratischen Strukturen der EU viel über dialogische Bürgerbeteiligung gesprochen. Welche Bedeutung messen Sie dieser im Rahmen einer aktiven Suffizienzpolitik bei?

Dr. Dütschke: Ich denke, Suffizienz unterscheidet sich hier nicht von anderen Bereichen. Ein umfassender gesellschaftlicher Wandel wird nur gelingen, wenn er von und mit der Gesellschaft entwickelt wird. Das geschieht über bestehende demokratische Prozesse, aber auch über neue Formate.

Dr. Preuß: Auch hier gilt es natürlich wieder alle Bevölkerungsgruppen abzuholen und niemanden außen vorzulassen.

DUS: FULFILL wird länderübergreifend umgesetzt. Können Sie länderspezifische Unterschiede ausmachen? Und welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus im Hinblick auf die Frage, auf welcher föderalen Ebene Suffizienzpolitik ansetzen sollte?

Dr. Dütschke: Was die individuellen Lebensstile angeht, finden wir interessanterweise einige ähnliche Muster über die Länder hinweg, etwa was den Zusammenhang zwischen Einkommen und Ressourcenverbrauch angeht. Die strukturellen Faktoren und die politischen Rahmenbedingungen sind jedoch unterschiedlich. Hier sind wir aber noch mitten in der Analyse.

DUS: Zum Abschluss noch eine persönliche Frage: „Damit gutes Leben einfacher wird“, heißt ein bekanntes Buch zum Thema Suffizienz von Uwe Schneidewind. Welchen Ratschlag würden Sie unseren Leser*innen geben, um ihr Leben suffizienter zu gestalten?

Dr. Preuß: Wirklich zu hinterfragen, ob ich das brauche und warum – egal, ob es um das neue Oberteil, den Flug nach Mallorca, den Umzug in die sehr viel größere Wohnung oder im Supermarkt um die Avocado aus Mexiko geht. Oft sind uns unsere Bedürfnisse gar nicht richtig bewusst. Was wir wirklich brauchen, wird manchmal deutlich, wenn jede*r reflektiert, was er oder sie auf einer einsamen Insel definitiv für sich brauchen würde. Für manche mag es das Make-up sein, für andere vielleicht ein gutes Buch oder Musik und für wieder andere gar nichts – für viele vermutlich das Handy, um mit den Liebsten in Kontakt zu bleiben. Darüber hinaus ist auch der suffiziente Umgang mit Zeit etwas, das mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Ich persönlich – ohne es mit wissenschaftlichen Artikeln untermauern zu können – kann einen Trend erkennen zu einer Reduktion der Arbeitszeit und dem Wunsch nach gemeinsamer Zeit, beispielsweise das gemeinsame Arbeiten im Garten oder ein gemeinsamer Zoobesuch als Geburtstagsgeschenk  – ganz weg von materiellen Dingen.

ÜBER DIE INTERVIEWPARTNERINNEN

Dr. Elisabeth Dütschke ist Diplom-Psychologin und forscht seit fast 15 Jahren am Fraunhofer ISI in Karlsruhe zur gesellschaftlichen Perspektive auf die Energiewende. Sie koordiniert das interdisziplinäre Geschäftsfeld Akteure und Akzeptanz in der Transformation des Energiesystems.

Dr. Sabine Preuß hat in Psychologie promoviert und erforscht seit 2019 am Fraunhofer ISI den „Faktor Mensch“ in der Energiewende. Sie untersucht Verhaltens- und Einstellungsänderungen sowie die Akzeptanz von Technologien und Politiken – mit einem besonderen Fokus auf Energiegerechtigkeit und diversen Bevölkerungsgruppen.

Zusammen leiten Dr. Dütschke und Dr. Preuß das Forschungsprojekt FULFILL.

Dr. Sabine Preuß (links) und Dr. Elisabeth Dütschke (rechts)

Aktionswoche „Entrümpeln! – Befreit in den Frühling“

Ältere Semester kennen noch die in den 90er Jahren bekannte Fernsehshow Glücksrad. Kandidat*innen deckten nacheinander Buchstaben auf und versuchten, verdeckte Wörter schnellstmöglich zu erraten. Vokale mussten dabei zulasten eines Teils des möglichen Gewinns gekauft werden und so hieß es oft: „Ich kaufe ein E und möchte lösen“. Um vier „E’s“ geht es auch beim Thema Suffizienz: Entkommerzialisierung, Entflechtung, Entschleunigung und Entrümpelung. Letztere stand passend zum Frühlingsanfang im Mittelpunkt einer Aktionswoche der Deutschen Umweltstiftung.

E wie Entrümpeln

Zu entrümpeln kann die ideale Gelegenheit sein, um unser Konsumverhalten und die Überflussgesellschaft, in der wir leben, zu hinterfragen. Es ist die Chance, einen Blick auf das Wesentliche zurückzugewinnen und sich von „unnötigem“ Ballast zu befreien. Also einfach alles in die Tonne? Auf keinen Fall! Das Statistische Bundesamt meldete eine Rekordmenge an Haushaltsabfällen, darunter ein klarer Anstieg an Sperrmüll. Das geht auch anders! Auf den Social-Media-Kanälen gab es dazu während der Aktionswoche jeden Tag spannende Beiträge. Sie reichten von der Frage, inwiefern wir unser Glück an Besitztümer binden, über die Vorstellung von Entrümpelungsmethoden auf Basis der Suffizienzpyramide bis hin zum Aufräumen des inneren Zuhauses. Dabei waren alle Interessierten eingeladen, sich einzubringen und die Kampagne mit ihren Erfahrungen und Ansichten zu bereichern.

Der Frühling als Symbol für Wandel – in diesem Verständnis sollte die Aktionswoche Suffizienz als Gefühl des „guten Lebens“ der Community auf eine greifbare und aktive Art näherbringen und zum eigenen Handeln ermutigen. Dabei sollte gegenseitiges Lernen im Mittelpunkt stehen und auf das Wissen jedes und jeder Einzelnen aufgebaut werden. Auf einer digitalen Miro-Plattform wurden die Teilnehmenden entlang der Aktionstage geführt und dazu eingeladen, ihre Gedanken mit Kommentaren und Post-its hinzuzufügen. Nach und nach entstand im Laufe der Aktionswoche eine kleine „Miro-Welt“, die sich aus Fragestellungen, Ideensammlungen und Stimmungsbildern zusammensetzt.

Ausschnitt aus dem Miro-Board „Befreit in den Frühling“

Lebhafte Debatte in der „Miro-Welt“

Mit weit über 150 Beiträgen ist eine Sammlung aus inspirierenden Gedanken, Ideen und Tipps entstanden. Jeder Aktionstag wurde einem speziellen Thema gewidmet. So ging es zunächst um die Empfindung von materiellem und immateriellen Glück. Die Beiträge der Teilnehmer*innen zeigten, dass meist Lebenssituationen und -umstände, besonders bezüglich Freund*innen, Familie, Gesundheit und finanzieller Sicherheit, eine deutlich wichtigere Rolle spielen als materielle Güter. Es zeigte sich zudem, dass die Leitfragen „Was ist genug?“ und „Was macht mich dauerhaft zufrieden?“ hilfreiche Wegweiser sein können, um sich den eigenen Bedürfnissen bewusster zu werden. Anschließend ging es um Methoden der Entrümpelung. Diskutiert wurde u. a. nach welchen Faktoren Menschen entscheiden, welche Dinge losgelassen werden und welche nicht. Außerdem wurde diskutiert, ob getroffene Entscheidungen beim Entrümpeln nachhaltig Einfluss auf das Konsumverhalten nehmen.

Einfach rausschmeißen? Auf keinen Fall!

Endlich hat man sich entschieden, von welchen Dingen man sich trennen möchte. Doch was soll nun mit Ihnen passieren? Wertvolle Hinweise auf diese Frage lieferte während der Aktionswoche stetig die Suffizienzpyramide. Denn Vieles ist zu gut für die Schrotthalde und häufig sind Einzelteile verbrauchter oder aussortierter Güter wertvolle Bauteile für anstehende Reparaturen.

Interessierte reflektierten daher gemeinsam die eigenen Konsum- und Verhaltensweisen und entwickelten Ansätze, um ihren Lebensstil suffizienter zu gestalten. Auf den untersten beiden Stufen der Suffizienzpyramide geht es bekanntlich darum, Besitztümer möglichst lange zu benutzen und sie ggf. einem alternativen Verwendungszweck zuzuführen. Das bedeutet vor allem: reparieren, umfunktionieren und so viel wie möglich selbst herstellen. Viele gute Ideen kamen zusammen und hauchten so dem einen oder anderen ausgemusterten Gegenstand ein zweites Leben ein. So wurden bspw. aus Bierdeckeln Ohrringe und alte Kalenderseiten zu Geschenkpapier.

Die beiden mittleren Stufen der Suffizienzpyramide beschäftigen sich mit dem Tauschen und Leihen von Dingen. Vom Leihlokal, über Kleidertausch-Apps bis hin zum Aushang im eigenen Innenhof – viele Ideen und best practices wurden gesammelt und diskutiert. Munter tauschten sich die Beteiligten dabei über bereits erlebte analoge und digitale Formate wie Flohmärkte oder Leihbörsen in Ihrer Region aus. Es war beeindruckend, zu sehen, wie viele Initiativen es verteilt in ganz Deutschland gibt.

Die letzten zwei Stufen der Pyramide thematisieren Second-Hand- und Neukäufe von Gütern. An dieser Stelle drehte sich die Diskussion während der Aktionswoche sehr stark um den (Weiter-)Verkauf gebrauchter Dinge. So wurde deutlich, dass gerade Möbel auch bei jahrelanger Nutzung häufig nahezu keinem Verschleiß unterliegen und ohne Weiteres eine Zweit- oder Drittnutzung erfahren können. Zugleich wurden vor dem Hintergrund eigener, teilweise negativer Erfahrungen jedoch auch Bedenken gegenüber Tausch- und Leihplattformen geäußert. Es sollte daher noch wirksamere Mechanismen geben, um Betrug und kriminellen Energien sowohl auf Käufer- als auch Verkäuferseite wirksam begegnen zu können, bspw. indem Transparenz und wirksame Garantien geschaffen werden.

Suffizienzpyramide

Zum Abschluss der Aktionswoche wurde das innere Zuhause thematisiert. Denn allzu oft erschlagen uns Reizüberflutungen aus unterschiedlichsten Quellen: Smartphones sind omnipräsent, viele Freizeitangebote konkurrieren um Aufmerksamkeit und kaum einer kommt noch an Serienstreaming, YouTube und Social Media vorbei. Die Folge ist ungewollter Stress im Privaten anstatt Zufriedenheit, Entschleunigung und Ruhe. Manchmal hilft es an dieser Stelle, die eigene „geistige Haustüre“ auch mal bewusst zu schließen, um sich der wirklich wichtigen Dinge bewusst zu werden. Die Beteiligten diskutierten dazu passende Strategien wie beispielsweise das Hören von Musik oder das Führen eines Tagebuchs.

Befreit in den Frühling – was nehmen wir mit?

Die Aktionswoche der Deutschen Umweltstiftung war ein großer Erfolg, denn sie hat der Community einen Raum geboten, sich rege und tiefgreifend auszutauschen. Es entstand digital eine freundschaftliche Atmosphäre des gemeinsamen Lernens. Der partizipative Charakter der Aktionswoche fand Anklang bei allen Beteiligten. Die Interaktion auf Miro ermöglichte es den Teilnehmenden, ihre Ideen visuell zu organisieren, sie mit anderen zu teilen und sie gemeinsam weiterzuentwickeln. Die Plattform ermöglichte es, auf die Ideen und Gedanken anderer zu reagieren, Kommentare zu hinterlassen und gemeinsam an der Entwicklung von Inhalten zu arbeiten. Diese Form der digitalen Zusammenarbeit förderte eine offene und kreative Atmosphäre, in der die Teilnehmenden in der Lage waren, aktiv mitzugestalten. Schauen Sie sich gerne die Ergebnisse der Diskussion hier noch einmal detailliert an.

Abschließend möchten wir allen Beteiligten für ihre Beiträge und die Bereitschaft danken, gemeinsam mit uns #BefreitindenFrühling zu starten.

Suffizienz in Unternehmen – ein Interview mit André Jäger

Effizienz, Konsistenz und Suffizienz sind drei Strategien für mehr Nachhaltigkeit. Während die ersten beiden in der Wirtschaft zunehmend mehr Aufmerksamkeit erfahren, fristet Suffizienz oft ein stiefmütterliches Dasein. Dass dies nicht so sein muss, zeigt der Ingenieur und systemische Berater André Jäger in seinem kürzlich erschienenen Buch „Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Potenziale, Chancen und Risiken am Beispiel der Gemeinwohl-Ökonomie“.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Worin liegt die Quintessenz Ihrer Arbeit?

A. Jäger: Suffizienz wird im Nachhaltigkeitsdiskurs als komplementäre und gleichrangige Strategie zu Effizienz und Konsistenz gesehen und stellt die Frage nach einem verantwortlichen Lebensstil. Dieser wird zumeist Privathaushalten und Individuen als verantwortliche Gesellschaftsmitglieder in Verbindung mit ihrem Konsumverhalten zugeschrieben.

Die Arbeit untersucht Suffizienz als praktisches Instrumentarium für privatwirtschaftliche Organisationen und gibt Impulse für die Erschließung suffizienten Handlungsrepertoires von Unternehmen. Damit steht die Anschlussfähigkeit von Suffizienz in einem vom Wachstumsparadigma und Rentabilitätslogik bestimmten Marktmechanismus auf dem Prüfstand. Als Quintessenz liefert die Untersuchung in der Praxis fundierte Beispiele, dass suffiziente Strategien in Unternehmen der freien Marktwirtschaft möglich sind. Voraussetzung ist das Vorhandensein von Motivation in den Unternehmen, suffiziente Praktiken auch dann umzusetzen, wenn sie zunächst der Marktlogik als Widerspruch erscheinen.
Umgesetzte Suffizienzstrategien bringen – bezogen auf die unterschiedlichen Strategien und Unternehmen – individuelle Chancen und Risiken mit sich, auf die entsprechend reagiert und mit denen ein individueller Umgang gefunden werden muss. Die ökonomische Nachhaltigkeit muss vorhanden sein (Finanzierung); in den meisten Fällen bedeutet Suffizienz einen Mehraufwand. Im Idealfall entstehen wiederum Potenziale, und deren Umsetzung bewirkt weitere Inspirationen auch für andere Unternehmen (transformatorische Wirkung).

DUS: Herr Jäger, in Ihrem kürzlich erschienen Buch erörtern Sie Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Sie konzentrieren sich methodisch auf Unternehmen, die dem Bereich der Gemeinwohl-Ökonomie zugeordnet werden. Woran liegt das?

A. Jäger: Für eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung sind Unternehmen ausgewählt worden, die bereits in signifikanter Weise Suffizienzstrategien umgesetzt haben und diese auch praktizieren. Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) weisen in der GWÖ-Bilanz explizit Suffizienz als ein Abfragekriterium auf. Das bedeutet nicht automatisch, dass Suffizienzstrategien in GWÖ-Unternehmen auch vorhanden sind. Aufgrund einer erweiterten Haltung zu sozial-ökologischen Fragestellungen in GWÖ-bilanzierten Unternehmen sind günstigere Voraussetzungen geschaffen, um auf Suffizienzstrategien zu treffen. Um verwertbare Ergebnisse zu generieren, sind solche Unternehmen ausgewählt worden, die im GWÖ-Bericht mindestens vier Suffizienzstrategien ausdrücklich thematisieren oder bei denen mindestens eine Strategie vorhanden ist, die den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens in bedeutender Weise prägt.
Zwei der interviewten Unternehmen sind GWÖ-nahestehend, wofür eine umfassende Behandlung der Stakeholder mit Werten der GWÖ-Matrix nötig war.
Die befragten Unternehmen und Ansprechpartner*innen sind im Klartext benannt, d. h. nicht anonymisiert. Das ermöglicht eine bessere Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse, und die Interviewpartner*innen können persönlich kontaktiert werden.
Alle befragten Unternehmen sind im produzierenden Gewerbe tätig und stehen nicht im Wettbewerb zueinander.
Ein weiterer Grund für die Wahl von Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie besteht in der zusätzlichen Befragung von Berater*innen der GWÖ aus der Metaperspektive (zuzüglich einer Expertin auf dem Gebiet der Suffizienz), die die Ergebnisse als Expert*innen weiter fundieren.

DUS: Die überwiegende Mehrheit aller Firmen folgt weiterhin dem Postulat einer streng marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik. Sie schließen in Ihrem Buch eine pauschale Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse auf diesen Bereich aus. Sehen Sie dennoch für einzelne Aussagen einen Transferspielraum?

A. Jäger: Die Forschungsergebnisse basieren auf Unternehmen des produzierenden Gewerbes der Gemeinwohl-Ökonomie und damit auf einer einheitlichen Datengrundlage. Dennoch handelt es sich bei den Suffizienzstrategien um stark unternehmensspezifisch individuell geprägte Lösungen. Es ist in jedem Einzelfall zu prüfen, inwieweit die Strategien auf andere Unternehmen (auch abseits der Gemeinwohl-Ökonomie) übertragbar sind. Bei identischer Suffizienzstrategie kann diese bei einem anderen Unternehmen jedoch zu einer anderen Chancen- und Risikobewertung führen und eine angepasste Umsetzung erfordern.  

Die Komplexität ist am besten an Beispielen veranschaulicht: Ein Suffizienzansatz auf Basis von Open-Source funktioniert z. B. bei einem Unternehmen im Lebensmittelbereich, das wie Cola vom Premium-Kollektiv die Rezeptur offenlegt. Sie nehmen damit eine mögliche Rezepturkopie nicht nur in Kauf, sondern fördern auch diese, wenn der Leitgedanke eines sozial-ökologisch-nachhaltigen Wirtschaftens in ähnlicher Weise angestrebt und umgesetzt wird.

Eine erhebliche Gefahr stellt jedoch die gleiche Open-Source-Strategie bei einer neu gegründeten Genossenschaft dar, weil etablierte Unternehmen diese Produktentwicklung in kopierter und adaptierter Form schneller auf den Markt bringen und damit eine Verdrängung des ursprünglichen genossenschaftlichen Produktes stattfindet. Es lohnt sich, über einen Strategie-Transfer nachzudenken und genauer zu analysieren, welche Chancen, Risiken und Potenziale damit einhergehen. Ein Beispiel für eine starke Strategie ist das Aussetzen von Verhandlungen in Lieferketten durch einen Runden Tisch, an dem alle Beteiligten ihre zu kompensierenden Aufwände mit dem Ziel offenlegen, ein für alle Beteiligten stimmiges Ergebnis zu erreichen. Folglich bedeutet das den Verzicht auf einen maximalen Gewinn zugunsten einer vertrauensvollen und freundschaftlichen Basis mit fairer Bezahlung für alle. Das ist zum Beispiel in der Berliner Großbäckerei Märkisches Landbrot Realität.
Eine Übertragung z. B. auf die Lieferkette eines DAX-Konzerns der Automobilindustrie mag gewagt erscheinen, doch als Gedankenexperiment ist es in dieser Hinsicht reizvoll und lohnenswert, um auszuloten, wo die Grenzen der Machbarkeit liegen. Ein Transfer auf andere mittelständische Unternehmen mit übersichtlichen Lieferketten erscheint andererseits vielversprechender.

DUS: In der Theorie stellen Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gleichrangige Strategien dar. In der Praxis lesen wir von Green Growth und immerwährender Prosperität in einer Circular Economy. Ist da überhaupt Platz für Suffizienz?

A. Jäger: Green Growth oder die Green Economy zielen auf eine Entkopplung des materiellen Wohlstandes vom Ressourcenverbrauch hin.

Diese Funktionsweise wird in der Fachliteratur kontrovers diskutiert und teilweise verneint. Einer der Gründe für die Ablehnung ist die häufig eintretende Überkompensation von Effizienz- und Konsistenzgewinnen: Eingesparte Ressourcen werden durch Mehrverbrauch oder Verschiebungen in andere Bereiche überkompensiert, auch bekannt als Rebound- Effekt.
Bei Suffizienz geht es darum, den unmittelbaren und einseitigen Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und Lebensqualität zu entkoppeln. Und hier liegt der entscheidende Punkt: Zielführend ist weniger ein enges Suffizienzverständnis von Verbot und Verzicht, sondern ein Hin zu etwas Neuem mit einem erweiterten Verständnis eines unternehmerischen und gesellschaftlichen Wirtschaftens. 

Die Untersuchung bezieht sich auf Beiträge von Wirtschaftsunternehmen zur Suffizienz als eine der Nachhaltigkeitsstrategien. Hier geht es um ein anderes unternehmerisches Handeln, was zunächst der marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik widerspricht und doch mit entsprechenden Chancen und Risiken auch im Sinne einer ökonomischen Nachhaltigkeit funktioniert. Eine andere Prozessgestaltung und Haltung, beispielsweise ein Runder Tisch mit Konsensabsprache statt Verhandlung, führt in erster Linie zu einem Verzicht auf maximalen Gewinn. Die Folge ist eine stabile Zusammenarbeit aller Stakeholder auf einer vertrauensvollen Basis mit einem anderen Klima der Wertschätzung. Hier ließe sich in klassischer Weise Suffizienz wiederum mit Rentabilitätslogiken begründen (Reduktion auf ökonomische Nachhaltigkeit durch stabile Prozesse und Lieferketten). Entscheidend ist, dass es um die Qualität eines guten Lebens für alle geht, also eine Haltungsfrage, die ein Buen Vivir nicht nur fördert, sondern der eine Motivation für Veränderungen zugrunde liegt. Hier ist das „Gute Leben“ Motivation und Ziel statt eine Begründungslogik für ein weiter wie bisher.

Meiner Einschätzung nach ermöglicht Suffizienz im unternehmerischen Kontext weitreichende Möglichkeiten der Gestaltung eines gelingenden Miteinanders sowie einer anderen Art des Arbeitens und Wirtschaftens mit neuen Möglichkeiten zur Lösung sozial-ökologischer Fragestellungen.

Selbst wenn Green Growth und eine immerwährende Prosperität in einer Circular Economy möglich sein sollten und damit die planetaren Grenzen eingehalten würden, wäre hiermit lediglich die reine Ressourcenwirtschaft auf unserem Planeten abgedeckt. Das wäre ein Aufrechterhalten des Status quo, ein Weitermachen wie bisher. Mit den oben geschilderten darüber hinausgehenden Fragestellungen ist Suffizienz nicht zu ersetzen, sondern immer komplementär.

DUS: Zum Abschluss noch eine private Frage: Wie stark und in welchen Bereichen prägt der Suffizienzgedanke Ihren Alltag?

A. Jäger: Ich persönlich nutze materielle Gegenstände eher längerfristig und hatte seit meiner Kindheit weniger das Verlangen, stets das Neuste besitzen zu wollen. Dafür nutze ich vielmehr ausgesuchte und auch höherwertige Gegenstände.

Vor ein paar Jahren bin ich privat auf Linux als Betriebssystem umgestiegen, welches ich als Teil von Open Source lieber unterstütze als die verbreiteten gängigen Betriebssysteme. Inwieweit das als Suffizienz bezeichnet werden kann, ist noch zu diskutieren. Open-Source-Entwicklung im Softwarebereich beruht in Teilen auf Spenden und birgt noch viel Potenzial.

Bei meiner Kleidung achte ich auf Siegel oder besorge diese möglichst im nachhaltigen Handel mit einer längerfristigen Nutzung. An Grenzen komme ich beim Reisen. Innerhalb der Nachbarländer fahre ich mittlerweile grundsätzlich mit dem Zug. Eine Herausforderung stellt sich, weiter entfernte Orte zu erreichen.

Prägend war für mich ein dreijähriges Arbeiten und Leben in einem Benediktinerkloster. Aus dem Blickwinkel eines bewussteren Umgangs mit Ressourcen würde ich die Zeit im Rückblick auch als suffizienzprägend bezeichnen, auch wenn das Wort in diesem Kontext nicht genutzt wurde.

Für mich persönlich ist Entschleunigung wichtig; oft steht diese allerdings im Gegensatz zu den Anforderungen des Alltags. Doch sind es Inseln, die sich in meinem Leben immer wieder verwirklichen. Diese bestärken mich darin, dass Suffizienz als Komplementäransatz ein lohnenswerter Weg ist. 

ÜBER DEN INTERVIEWPARTNER

André Jäger arbeitete als Maschinenbau-Ingenieur mehrere Jahre für eine Softwareberatung in Japan und anschließend als systemischer Berater in der Begleitung von Menschen und Teams. Drei Jahre Leben und Arbeiten in einem Benediktinerkloster gaben ihm den Impuls, im anschließenden MBA-Studiengang das Thema Suffizienz im Unternehmenskontext näher zu erforschen. Derzeit arbeitet er als Personalleiter in einem mittelständischen Unternehmen.

André Jäger