Buchrezension „Transformationsdesigns – Wege in eine zukunftsfähige Moderne“ von Bernd Sommer und Harald Welzer

Einleitung

Das von Bernd Sommer und Harald Welzer verfasste Buch „Transformations Design – Wege in eine zukunftsfähige Moderne“ behandelt die Notwendigkeit von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Transformationen für eine lebenswerte Zukunft.

Bernd Sommer, der den Forschungsbereich Klima, Kultur und Nachhaltigkeit am Flensburger Norbert Elias Center leitet und Harald Welzer, ein bekannter Soziologe, Autor und Professor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, setzen sich in ihrem Buch mit Fragen der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse auseinander. Sie zeigen auf, wo derzeit die Probleme der Wachstumswirtschaft und Konsumgesellschaft liegen, aber schlagen zugleich Wege vor, diese Probleme langfristig zu überwinden. Deutlich wird vor allem die Dringlichkeit sozialökologischer Transformationsprozesse, um die Ausbeutung von endlichen Ressourcen und klimatische Katastrophen zu stoppen. Das Buch ist 2014 im oekom Verlag erschienen und interessant für alle, die einen praktischen Leitfaden zur Nachhaltigkeitstransformation wollen sowie eine theoretische Analyse derzeitiger Gesellschaftsprozesse.

Hinführung zum Thema

Bernd Sommer und Harald Welzer machen im ersten Teil des Buches deutlich, dass die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form unter den sich dramatisch verändernden Umweltbedingungen nicht länger fortbestehen kann. Die größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie „erhöhte Ressourcenkonkurrenz, geopolitische Machtverschiebungen, Extremwettereignisse oder steigende Nahrungs- und Energiepreise“ (S. 15) sind mittelfristig zu bewältigen.

Problematisch ist vor allem der Glaube an den Wachstumsmythos: Es würde so gewirtschaftet, als gäbe es unendlichen Wachstum und eine unbegrenzte Anreicherung von natürlichen Ressourcen. Noch haben wir laut den Autoren allerdings die Wahl, ob diese Veränderung eine Transformation „by design“ oder „by disaster“ wird. Transformationsdesign biete eine Möglichkeit, die Transformationsprozesse unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wohlergehens zu gestalten.

Es seien also grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz notwendig, um die Zukunftsfähigkeit der Moderne zu gewährleisten. Doch wie könnten diese Prozesse konkret aussehen? Die Autoren erklären, wie die Veränderungen auf globaler, gesellschaftlicher und individueller Ebene stattfinden könnten.

Problemlage

Um einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken, stehen folgende drei Aspekte im Zentrum der Betrachtung: Umverteilung, Verzicht und Deprivilegierung.

Damit auch in Zukunft alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, müsse „die kapitalistische Wachstumswirtschaft überwunden werden“ (S.48). Doch an dieser Stelle kommt die Frage auf, ob damit auch ein Verlust des heutigen Zivilisierungsniveaus und Lebensstandards einhergeht. Die Autoren sind sich einig: „Will man soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im globalen Maßstab erreichen, müssen in den reichen Ländern die privilegierten Bewohnerinnen und Bewohner auf materiellen Wohlstand verzichten und sich andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln“ (S.52). Denn das ökonomische System, unter dem wir in den industrialisierten Ländern profitieren, funktioniere nur durch Ausbeutung – der Natur und der Entwicklungsländer, auf deren billige Arbeitskräfte wir angewiesen sind. Dies wird im Buch auch anhand einer Studie der Entwicklungsökonomin Kate Raworth deutlich: „Nur 11 Prozent der globalen Bevölkerung sind für etwa 50 Prozent des Kohlendioxidausstoßes verantwortlich, während 50 Prozent der Menschen nur 11 Prozent emittieren“ (S.42). Die Schlussfolgerung ist laut den Autoren eine Deprivilegierung derzeitig privilegierter Menschen (S.51).

Auch wenn die Autoren in diesem Abschnitt ausführlich darstellen, warum eine Deprivilegierung und Umverteilung sinnvoll für die Allgemeinheit wäre, erklären sie meiner Meinung nach unzureichend, wie die Deprivilegierung in der Praxis umsetzbar wäre und was für negative Folgen sie mit sich bringen könnte. Wie kann man privilegierte Menschen dazu bringen, dass sie freiwillig ihre Lebensstandards senken? Welche Konflikte könnten daraus entstehen? Diese Fragen lassen die Autoren weitgehend unbeantwortet.

Soziologische Betrachtung der Problematik

Es erfolgt eine soziologische Analyse zur Eigendynamik gesellschaftlicher Entwicklungen mit der zentralen Feststellung, dass gesellschaftlicher Wandel vielen unberechenbaren Faktoren unterliegen kann. Da alle gesellschaftlichen Akteure ihre eigenen Interessen verfolgen, konkurrieren deren Handlungen und Absichten fortlaufend. Dadurch entstünden Dynamiken, die sich nicht aus den einzelnen Handlungen der Akteure erklären lassen. Die Autoren zeigen also auf, dass soziale Veränderungsprozesse im Grunde unterschiedlichen Logiken folgen, die nicht immer vorhersehbar sind und dass aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen Konflikte zwischen Akteuren der Gesellschaft entstehen können. Auch wenn die Analyse interessante Einsichten bietet, ist der Bezug zum Transformationsdesign hierbei nicht immer offensichtlich. Die Theorien werden leider nur kurz angeschnitten, um als Leser*in ein umfangreiches Verständnis zu bekommen. Für nur 10 Seiten ist eine Einführung in komplexe soziologische Theorien sehr ambitioniert.

Weiterfolgend zeigen die Autoren zunächst Beispiele von Transformationsdesigns, und stellen dann ein Gesellschaftsdesign, die Heterotopie, vor. Allerdings scheint diese Reihenfolge etwas verwirrend, da man nach den soziologischen Betrachtungen, direkt an das neue Gesellschaftsdesign anknüpfen könnte, um die theoretischen Erkenntnisse in der Praxis verständlicher zu machen. Doch die Autoren gehen nach den soziologischen und gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen im darauffolgenden Kapitel erst auf individuelle Beispiele von Transformationsvisionen und -umsetzungen ein.

Kulturelle Transformationsdesigns und Heterotopie

Zahlreiche Beispiele verdeutlichen, wie Transformationsdesigns in der Praxis umzusetzen ist. Denn ein Transformationsdesign, so die Autoren, sei nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, die „die Umgestaltung des Vorhandenen, das Verschwinden von Überflüssigem, die Vermeidung von Aufwand, die Reduktion von Energie und Material“ (S.115) beinhaltet. Es gehe also darum, nicht „unablässig hinzukommende Dinge zu gestalten, sondern jene Dinge, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen“ (S.116). Vorgestellt wird beispielsweise die Nutzungsinnovation, welche „ausschließlich auf vorhandenen Strukturen baut und diese einer anderen Nutzungen zuführt“ (S.118). Dies basiere auf dem Prinzip von „Reduce, Reuse, Recycle“ (siehe Suffizienspyramide). „Reduce meint die Vermeidung von (künftigem) Abfall, reuse die Weiterverwendung, recycle die materielle Umformung“ (S. 127). Die Autoren führen zur Veranschaulichung Interviews mit Künstlern, Städteentwicklern und Architekten, die auf Umgestaltung statt Neuerrichtung setzen. Diese Transformationsdesigner wollen sich dabei statt an der Marktwirtschaft, an einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Gesellschaft orientieren. Deutlich wird auch, dass Verzicht und Reduzierung nicht unangenehm sein müssen, sondern sogar einen großen Mehrwert darstellen können – sowohl auf individuell-persönlicher als auch auf strukturell-politischer Ebene. Die Autoren geben konkrete Handlungsanweisungen, wie jeder einzelne eine nachhaltigere Lebensweise führen kann. Zudem stellen sie aber auch ein zukunftsfähiges Gesellschaftsdesign vor: die Heterotopie. Gemeint ist damit eine „soziale Organisation des Weniger“ (S.173). Dabei sei das Ziel die erreichten zivilisatorischen Standards der heutigen Welt beizubehalten, während die gesellschaftliche Lebensweise nachhaltig umgestaltet werden würde. Diese Veränderung erfordere einen Pfadwechsel. Es sollten nicht mehr die konventionellen Wege gegangen werden, sondern neue Wege gefunden werden, die nachhaltigere Perspektiven eröffnen. Zentral sei dabei auch die Rolle der Politik. Die Transformationen müssten sich aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollziehen.

Fazit

Beim Lesen des Buches lässt sich feststellen, dass die kritische Beleuchtung derzeitiger Probleme den beiden Autoren sehr gut gelingt. Die Darstellung der fatalen ökologischen Folgen unserer Wirtschafts- und Lebensweise werden in diesem Buch sehr deutlich.

Auch die Einbettung des Themas in einen soziologischen Kontext ist angesichts der vorgeschlagenen radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse angebracht, obwohl die Betrachtungen nicht leicht in den Aufbau des Buches einzuordnen sind. Zudem schaffen es die Autoren in einem sachlichen Schreibstil den Inhalt verständlich zu erklären. Sie nennen Beispiele, die Transformationsdesign gut veranschaulichen und teilweise auch eine persönliche Handlungsanregung bieten. Insgesamt regt das Buch zum Nachdenken an und macht dem Lesenden die Notwendigkeit von radikalen Veränderungen für eine lebenswerte Zukunft deutlich. Das Transformationsdesign schlägt Konsumalternativen und Verhaltensänderungen im Sinne von Suffizienz vor. Jede*r kann mit nachhaltigem Verhalten im eigenen Leben beginnen und es wird zugleich verständlich, dass in der Gesellschaft viele Transformationen stattfinden müssen. Die Autoren erreichen damit all jene Menschen, denen Umweltschutz und eine nachhaltigere Zukunft am Herzen liegt. Empfehlenswert wäre das Buch aber auch für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger und Führungspersonen, um gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben. Eine Umgestaltung der Gesellschaft hin zu mehr Suffizienz ist möglich, das Transformationsdesign der Autoren kann dazu beitragen.

Suffizienz und aktuelle Herausforderungen in der Coronakrise – ein Interview mit Jörg Göpfert

Im Rahmen eines Interviews sprachen wir mit dem Studienleiter Jörg Göpfert der Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V. über Suffizienz und aktuelle Herausforderungen in der Coronakrise.

Sie arbeiten als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e. V. und sind in dieser Eigenschaft auch als Redakteur der Zeitschrift „Briefe. Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde“ tätig. In der aktuellen Ausgabe dieser Zeitschrift schreiben Sie: „Der Klimawandel könnte tatsächlich das Ende der Selbstverständlichkeiten bedeuten […].“ Was meinen Sie damit?

Jörg Göpfert: Die Corona-Krise hat die Verletzlichkeit des Menschen und seiner gesellschaftlichen Sub- und Sicherungssysteme deutlich gemacht. „Normale“ Verhaltensweisen wie das Händeschütteln sind zum Risiko und Feiern zur Gefahr geworden. Sogar Oster- und Weihnachtsgottesdienste fielen aus. Der Heidelberger Theologe Philipp Stoellger hat die Corona-Krise deshalb als „Riss“ bezeichnet, der einen „gravierenden Lebensweltwandel“ mit sich bringe1 . Er spricht vom „Ende von Wirklichkeiten, in denen wir selbstverständlich lebten“. Das war und ist für viele eine erschreckende Erfahrung. Es lässt sich aber davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie – ähnlich wie frühere Pandemien – vorübergehen wird. Irgendwann werden alle, die nicht an ihr sterben, immun geworden sein – mit oder ohne Impfung. Das wird vielleicht einige Jahre dauern, aber dann können die Überlebenden aufatmen und zur „Normalität“ zurückkehren.

Bei der Klimakrise ist das anders. Sollte die Menschheit es nicht schaffen, die Erwärmung der Erdatmosphäre zu stoppen und die globale Durchschnittstemperatur auf einen Wert zu begrenzen, der maximal 1,5 bis 2 Grad über dem vorindustriellen liegt, ist mit massiven Veränderungen zu rechnen. Wetterextreme würden weiter zunehmen, Wüsten würden wachsen, und viele Inseln und Küstenregionen würden vom steigenden Meeresspiegel überflutet werden. Vor allem aber würde sich der globale Wasserkreislauf – zu Lande und in der Luft – massiv verändern. Dann kämen auf die Wirtschafts- und Sozialsysteme Belastungen zu, die weit größer sein dürften, als die jetzigen durch die Corona-Krise. Und dann droht tatsächlich das Ende der „Selbstverständlichkeiten“. Dann stehen nicht nur Reisen oder Einkäufe in Baumärkten zur Disposition, sondern womöglich auch die Rundumversorgung mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Transportmöglichkeiten. Eine Überwindung dieses Dauerstresses würde Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern, wenn sie überhaupt möglich wäre.

In dem Zusammenhang sprechen Sie auch von Suffizienz. Welchen Stellenwert hat die Thematik für die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.?

Einen großen. Seit Jahren bemühen wir uns, das Thema „Große Transformation“, wie es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen nannte2 , im gesellschaftlichen Diskurs voranzubringen. Und dazu gehört ganz wesentlich die Suffizienz, also das Auskommen mit weniger. Denn mit Effizienz und Konsistenz allein wird eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise nicht möglich sein. Effizienz, also das Herstellen einer bestimmten Menge an Waren oder Dienstleistungen mit weniger Materialaufwand als zuvor, wird oft durch eine Ausweitung des Angebots überkompensiert. Die LEDs sind ein Beispiel. Sie verbrauchen zwar weniger Strom als herkömmliche Glühlampen, lassen sich aber für neue Zwecke verwenden. Plötzlich ist es möglich – und erschwinglich – die gesamte Hausfassade in eine funkelnde Weihnachtswelt zu verwandeln. Bei der Konsistenz wird versucht, umweltbelastende Materialien durch umweltverträglichere oder endliche Ressourcen durch nachwachsende zu ersetzen. Ein guter Ansatz. Aber der kompostierbare Computer dürfte schwer realisierbar sein, und falls doch, wären sehr große Anbauflächen nötig, um die benötigten Rohstoffmengen bereitzustellen. Fruchtbare Böden sind aber ein knappes Gut und geraten auch durch den Klimawandel massiv unter Druck. Folglich gibt es für die Menschheit nur zwei Strategien: entweder die Zahl der Menschen drastisch zu reduzieren oder den Verbrauch jedes Einzelnen und aller zusammen. Letzteres wird nur mit Hilfe einer sehr intelligenten Kombination von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gelingen.

Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Akzeptanz eines „Weniger“ ein?

Lange Zeit war Suffizienz ein Tabu. Und im politischen Raum ist es das immer noch. Denn eine Strategie des „Weniger“ ist mit einer wachstumsorientierten Wirtschaft und einer ebensolchen Politik schwer vereinbar. Erfreulich ist aber, dass das Interesse an Suffizienz sowohl in der Wissenschaft als auch in der Zivilgesellschaft zunimmt. Das zeigt zum Beispiel der Aufruf „Für eine klima- und naturverträgliche, sozial gerechte Lebens- und Wirtschaftsweise: Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch reduzieren“3. Er wurde mit den Unterschriften von 200 Personen aus der Wissenschaft und ihrem Umfeld herausgegeben. Mehr als 3000 weitere Bürgerinnen und Bürger haben ihn inzwischen unterzeichnet. Es gibt ein „Forschungsnetzwerk Suffizienz“ und viele neuere Publikationen zum Thema. Auch das aktuelle Heft unserer Zeitschrift „Briefe“ ist ihm gewidmet4. All das zeigt: Suffizienz ist im Kommen. Sie braucht aber noch mehr Unterstützung, damit sie auch in die Praxis umgesetzt werden kann. Dafür kommt es nicht nur auf den guten Willen einzelner an, sondern auch auf die richtigen politischen Rahmensetzungen, also eine Suffizienzpolitik. Und die braucht gesellschaftlichen Druck und gesellschaftliche Mehrheiten.

Welche Chancen sehen Sie, dass sich junge Menschen heute für ressourcenschonende und damit suffiziente Lebensweisen begeistern?

Die Chancen sind größer denn je, weil ein Umdenken bereits begonnen hat. Viele, vor allem jüngere Menschen reduzieren ihren Fleischkonsum. Auch das Auto ist für sie kein Muss mehr, besonders in größeren Städten. Die Bewegung „Fridays For Future“ setzt sich für Suffizienz ein. Und eine große Zahl junger Menschen wählt inzwischen Berufe im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes sowie der Nachhaltigkeit. Die Zahl der Ausbildungsangebote ist enorm gewachsen. Als ich 1978 mit meinem Studium begann, war ich einer der ersten in Deutschland, die „Technischen Umweltschutz“ studieren konnten. Heute gibt es ganze Hochschulen, die dem Thema Nachhaltigkeit gewidmet sind, etwa die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde in Brandenburg. Es gibt ein bundesweites studentisches „netzwerk N“, das Hochschulen nachhaltiger machen will. Nicht auszudenken, was möglich wird, wenn all diese gut ausgebildeten, hoch motivierten jungen Menschen eines Tages im Berufsleben stehen und Entscheidungen treffen. Hoffentlich finden viele von ihnen auch den Weg in die Politik. Denn dort werden nach wie vor wichtige Weichen gestellt.


[1] Philipp Stoellger: „Eröffnung: Corona als Riss der Lebenswelt. Zur Orientierung über Naherwartungen, Enttäuschungsrisiken und Nebenwirkungen“; in Benjamin Held et al. (Hrsg.): „Corona als Riss: Perspektiven für Kirche, Politik und Ökonomie“, Heidelberg: heiBOOKS, 2020 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 1). Kostenloser Download: https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/reader/download/701/701-3-90267-1-10-20200916.pdf

[2] https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation

[3] https://bereit-zum-wandel.de/aufruf/

[4] https://ev-akademie-wittenberg.de/sites/default/files/publikationen/briefe_2020-4.pdf

ÜBER Den INTERVIEWPARTNEr

Jörg Göpfert, geboren 1960 in Berlin, ist Absolvent des Studiengangs Dipl.-Ing. für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. An der Deutschen Journalistenschule in München wurde er zum Redakteur ausgebildet. Seit 1988 ist er freier Umwelt- und Wissenschaftsjournalist und seit vielen Jahren Kommunikations- und Medientrainer für Wissenschaftler/-innen. Im Januar 2000 begann seine Tätigkeit an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Lutherstadt Wittenberg. Als Studienleiter im Bereich Umwelt & Soziales ist er Mitbegründer des Netzwerks „Ökumenischer Prozess ‚Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten‘“ und einer von zwei Redakteuren der Zeitschrift „Briefe. Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde“, einer der ältesten Umweltzeitschriften in Deutschland. Seine jüngste Publikation: „Es reicht. Von der Last und Leichtigkeit der Suffizienz“, in Brigitte Bertelmann, Klaus Heidel (Hrsg.): „Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit“, oekom verlag, München 2018.

© Jörg Göpfert

Suffizienzorientierung – ein Interview mit Josephine Tröger

Suffizienz stellt eine grundsätzliche Verhaltensänderung der Menschen und ein stärkeres Bewusstsein für unseren Konsum in den Mittelpunkt. Für viele ist sie deswegen immer noch die unbeliebteste Nachhaltigkeitsstategie. Wir haben mit der Umweltpsychologin Josephine Tröger über Suffizienz gesprochen und wie ein Paradigmenwechsel durch kollektive Wirksamkeit und Einzelleistungen funktionieren kann.

Deutsche Umweltstiftung: Sie promovieren an der Universität Koblenz-Landau im Bereich der Umweltpsychologie zu Suffizienzorientierung. Was ist eigentlich Umweltpsychologie und was können wir uns unter Suffizienzorientierung vorstellen?

Josephine Tröger: Umweltpsychologie ist eine Teildisziplin der Psychologie, die sich mit Mensch-Umwelt- Interaktionen beschäftigt. Das heißt, sie versucht zu analysieren, wie die Umwelt auf den Menschen wirkt und wie wir Menschen auf die Umwelt wirken, welche Auswirkungen das auf psychische Aspekte wie Kognition, Emotion, und Verhalten hat. Sie ist eine sehr anwendungsorientierte Teildisziplin der Psychologie, in der eigentlich jede Form von Mensch-Umwelt-Interaktionen behandelt werden kann – von Architekturpsychologie bis Mensch-Maschine-Interaktion und der zentralen Frage nach dem Schutz und den Umgang mit unseren Lebensgrundlagen. Was die Umweltpsychologie sehr besonders macht, ist die große Interdisziplinarität. Sie nutzt Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen und vernetzt, um einen Beitrag etwa zur Lösung der Klimakrise zu leisten. Das ist teilweise sehr herausfordernd, bietet aber auch reichlich Chancen. Ein Projekt wie die sozial-ökologische Transformation ist nur zu bewerkstelligen, wenn viele Disziplinen zusammenarbeiten und -denken

Suffizienzorientierung beschreibt suffizientes Verhalten als „Änderungen in Konsummustern, die helfen, innerhalb der ökologischen Tragfähigkeit der Erde zu bleiben, wobei sich Nutzenaspekte des Konsums ändern“ (Heyen et al. 2013, S. 7)[1]. Die Suffizienz ist die Nachhaltigkeitsstrategie, welche die Endlichkeit der Ressourcen der Erde (auch „planetare Grenzen“ genannt) als oberstes Gut anerkennt und hier eine absolute Grenze, an dem sich z.B. wirtschaftliche Prozesse ausrichten sollen, respektiert. Die Suffizienz hat damit eine große Verwandtschaft mit dem Konzept der starken Nachhaltigkeit.

Als Suffizienzorientierung würde ich die Einstellung und Bereitschaft beschreiben, den Lebensstil an den eben diesen planetaren Grenzen auszurichten. Dabei spielt die Erkenntnis eine Rolle, dass Konsumreduktion einen wesentlichen Beitrag zur Überwindung der sozial-ökologischen Krise liefert.

Eine Abgrenzung zu den anderen Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz und Konsistenz ist wissenschaftlich sinnvoll. In der Praxis und im tatsächlichen Handeln spielen natürlich Wechselwirkungen und Interdependenzen eine Rolle. 

Deutsche Umweltstiftung: Für viele Menschen ist Suffizienz die anstrengendste und unbeliebteste Nachhaltigkeitsstrategie. Warum fällt suffizientes Handeln so schwer?

Das hat aus meiner Sicht vor allem zwei wesentliche Gründe: Zum einen lassen wir uns gern von außen leiten und erzählen, was wichtig ist und was zu einem scheinbar glücklichem Leben gehöre: vom persönlichen Umfeld, von vorherrschenden Normen und Werten, vermittelt durch so etwas wie Werbung. Konsum und Statussymbole spielen gegenwärtig eine große Rolle in unserer Gesellschaft. Andere Formen von Wohlstand, wie Zeit, Sozialleben, Familie, Selbstverwirklichung oder sonstige immaterielle Güter spielen kaum eine Rolle. Sie sind zwar privat wichtig, aber es gibt wenige öffentliche und sichtbare Strukturen, die diesen Bereichen eine hohe Bedeutung zuweisen. In der Wertschätzung und Belohnung von Care-Arbeit wird so etwas ersichtlich. Oder man zeigt seinen beruflichen Erfolg vielleicht lieber mit einem teuren Auto als mit viel Freizeit. Dabei würde ein Verzicht auf ein Auto viel Freizeit bringen, weil man für das dafür nötige Geld auch nicht mehr arbeiten müsste. Die Frage was wirklich wichtig ist, welche individuellen Bedürfnisse im nicht materiellen Sinne vorhanden sind und befriedigt werden müssen, ist ein wichtiger Aspekt von Suffizienz.

Zum anderen sind viele Infrastrukturen in unserer Gesellschaft so geschaffen dass sie suffizienzorientiertes Verhalten nicht belohnen. Nehmen wir das Beispiel Lebensmittelkonsum: Konventionelle Lebensmittel im Supermarkt sind gerade deswegen billiger als die ökologischen Biolebensmittel, weil in konventionellen Lebensmitteln der ökologische Schaden, den diese verursachen, nicht eingepreist ist. Kaufe ich die ökologischen Lebensmittel spüre ich vor allem erst einmal, dass ich mehr Geld ausgebe als die meisten anderen. Das kann sich oft nach einem kurzfristigen Verlust anfühlen – zwar zugunsten eines großen Ganzen, aber für den Industrie und Verbraucher nicht gleichmäßig in die Pflicht genommen werden. Industrie und Verbraucher zahlen für die ökologischen Kosten der Produkte nicht – der Schaden wird ausgelagert. Zukünftige Generationen – und auch wir selbst – werden dafür auf die eine oder andere Art in den nächsten Jahren aufkommen müssen.

Deutsche Umweltstiftung: Kann ein Paradigmenwechsel hin zu Suffizienz funktionieren? Wenn ja, wie wäre dies möglich?

Davon bin ich überzeugt! Die Klimakrise zwingt jetzt schon viele Menschen vor allem auf der Südhalbkugel zu einem unfreiwilligen und ungerechten Konsumverzicht. Und auch wir werden mit dem Fortschreiten der ökologischen Probleme immer größere Einschnitte erleben. Das ist die fatalistische Sichtweise: wer die Natur abschafft wird von der Natur abgeschafft. Es gibt aber auch Grund zum Optimismus. Beispielsweise zeigt gerade die Corona-Krise dass viele Menschen bereit sind, ihr Verhalten zu ändern und auch tatsächlich zu verzichten, wenn ihnen ein guter Grund und größere Zusammenhänge aufgezeigt werden, und Änderung vor allem nicht nur an der Eigenverantwortung hängt, sondern Strukturen verändert werden, auf die ein*e Einzelne*r nur wenig Einfluss hat. 

Außerdem sehe ich, dass sich Suffizienz-Praktiken langsam in Lebenswelten einschleichen. Über Suffizienz wird mehr gesprochen als noch vor wenigen Jahren. Der Druck auf die Gesellschaft, sich zu verändern wächst, da die Folgen der Klimakrise auch stärker vor Ort sichtbar werden. Die Frage ist, ob Veränderung in den nächsten Jahren mehr durch Evolution oder Eruption entsteht, und welche Einflüsse eben von außen notwendig sind. 

Deutsche Umweltstiftung: Welche Tipps können Sie geben, um suffizientes Verhalten mehr in den eigenen Alltag zu integrieren?

Die gerade angesprochenen Strukturen sind ein wichtiger Treiber suffizienten Verhaltens. Als einzelner hat man vermeintlich wenig Einfluss auf diese. Allerdings werden diese auch nur von einzelnen Menschen geschaffen. Ist man durch seinen Beruf beispielsweise in der Lage Entscheidungen zu treffen, die dazu führen, dass sich am besten mehrere Menschen suffizienter verhalten können? Oder kann man Prozesse so verändern, dass sie dann zu einem Weniger an tatsächlichem Ressourcenverbrauch führen? Kann man der Chefin oder dem Chef vorschlagen, dass Pendler*innen die mit dem Rad oder den ÖPNV zur Arbeit kommen, einen Zuschuss bekommen? Oder kann man seiner Gemeinde vor Ort vorschlagen, die Radwege auszubauen? Politisches Engagement ist meines Erachtens ein Schlüssel für Veränderung, weil es Druck ausübt und potentiell neue Strukturen schafft, in denen sich Menschen leichter umweltgerecht verhalten können. Und wir alle sind mal mehr mal weniger an der Schaffung solcher Umstände und Strukturen beteiligt. Diese Macht der Mitgestaltung zu erkennen und einzusetzen, ist sehr wichtig. Am Besten schließt man sich noch mit Freund*innen, die ein ähnliches Interesse haben, zusammen. Das gibt das Gefühl kollektiver Wirksamkeit und hat große Erfolgsaussichten, weil eben bereits mehr Menschen für eine Sache einstehen.

Das andere ist und bleibt das individuelle Verhalten in den verschiedenen Alltagssituationen – am Regal im Supermarkt, zu Hause vorm PC wenn der nächste Einkauf auf einer Online-Plattform lockt, oder bei der Urlaubsplanung. Auch hier gilt es, die eigenen Bedürfnisse zu überdenken und sich von äußeren Einflüssen, die zum Konsum animieren, ein Stück weit zu befreien. – Und sich selbst Fragen zu stellen, wie: Muss ich meinen Kollegen wirklich (m)einen neuen SUV vorführen? Oder um was geht es mir eigentlich, wenn ich Anerkennung von meinen Kolleg*innen haben möchte? Würden diese mich tatsächlich belächeln, wenn ich mit dem Rad zur Arbeit käme – oder sehen sie mich dann vielleicht sogar als Vorbild und lassen sich anstecken? Ein anderer Aspekt ist auch, dass es bei vielen Konsumgewohnheiten ja gar nicht nur um die ökologischen Kosten alleine geht, sondern auch die privaten und monetären. Will ich wirklich so viel Geld für einen Flug nach Übersee ausgeben? Brauche ich wirklich einen neuen Laptop oder tut es nicht auch ein gebrauchter für weniger Geld? Viele Menschen nehmen Schulden auf sich, um den ganzen Konsum überhaupt erst zu ermöglichen. Das zwingt wiederum an Arbeitsverhältnissen festzuhalten, die nicht erfüllend sind. Das Gefühl zu wenig Geld zu haben, oder unfrei zu sein weil man sich darauf angewiesen fühlt, Einkommen von gewissen Höhen erzielen zu müssen, sind Dinge die unglücklich und auf lange Sicht sogar krank machen. Das hat Forschung zu Themen wie Zeitwohlstand und Wohlbefinden zeigen können. An der Aussage „Weniger ist Mehr“ scheint also schon etwas Wahres dran zu sein – auch wenn Suffizienz genauso heißt: Weniger ist weniger. Punkt.

Und zuletzt ist es wichtig, sich konkrete Pläne zu machen, sich Zeit zu nehmen, zu überlegen, wann, wie, wo, mit welchen Hilfsmittelnkann ich mich suffizienter verhalten. Wie sieht diese konkrete Handlungsalternative aus und was brauche ich, damit ich nicht in alte Muster zurück falle? Das ist wie mit allen Zielen im Leben: Wenn man sie wirklich erreichen will, muss man sich einen Plan dafür machen. 

Deutsche Umweltstiftung: In unserem Schulwettbewerb „Einfach machen – Die Suffizienzdetektive“ haben wir Schüler*innen der Sekundarstufe 1 dazu aufgefordert, ein eigenes Konzept für eine ressourcensparsamere Lebens- und Freizeitgestaltung zu entwerfen. Inwieweit schätzen Sie, sind Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren (fünfte bis zehnte Klasse) bereit, ihr Verhalten anzupassen und damit auf Konsum bzw. Komfort zu verzichten? 

Grundsätzlich sehe ich es so: Junge Menschen sind kreativ und einfallsreich. Wenn ich mir die FridaysforFuture anschaue, sind Kinder um einiges revolutionärer als wir denken und ihnen lange zugetraut haben. Sie sind bereit, die notwendigen Veränderungen selbst mitzutragen (Koos et al, 2019)[1]. Das ist etwas Beeindruckendes und sollte ein Apell an die Erwachsenen sein, die Maßnahmen umzusetzen, die es für eine lebenswerte Zukunft braucht!

Meine Haltung zu Wettbewerben ist allerdings etwas kritisch: Sie bieten zwar die Möglichkeit, sich mit einem Thema auseinander zu setzen, bergen aber die Gefahr durch kurzfristige Anreize, die langfristigere intrinsische Motivation zu unterbinden. Das heißt: Für die Belohnung strengen sich die Kids an, sie fokussieren sich auf das Produkt, aber setzen sich beispielsweise nicht mit den individuellen Hürden in ihrem persönlichen Umfeld auseinander. Das ist aber wichtig, damit die Kinder ihre Ideen zum suffizienteren Leben erfolgreich umsetzen und sich wirksam fühlen. Wichtig wäre es deshalb, Projekte so zu gestalten, dass vorhandenes Interesse und die intrinsische Motivation auch langfristig gestärkt werden.

Ein anderer Aspekt ist, dass Kinder leider oft einen begrenzteren Handlungsspielraum haben. Sie kaufen nicht für die Familie ein oder entscheiden über den Stromanbieter. In Bezug auf umweltgerechtes Leben hat sich im Kontext von Familie gezeigt, dass Rollenmodelle und Vorbilder sehr wichtig sind. Das heißt, Kinder werden die Ideen, die sie – etwa in so einem Wettbewerb – gewonnen haben, leichter umsetzen können, wenn die Eltern beim genügsameren Leben mitmachen. Es kann aber auch sein, dass die Kinder viel Überzeugungsarbeit in ihrem sozialen Umfeld leisten müssen. Sie können ihre Eltern dann herausfordern und anstecken, gemeinsam etwas zu verändern. – Den Mut der Kinder hierfür zu stärken und Ideen zu entwickeln, wie das gehen könnte, sollte Teil eines solchen Projekts sein.


[1]Heyen, D. ; Fischer, C.; Grießhammer, R.; Wolff, F.; Brunn, C.; Keimeyer, F.; Barth, R. (2013), Für eine Politik der Suffizienz, Politische Steuerung als notwendiger Baustein einer suffizienten Gesellschaft. Freiburg, Öko-Institut. Online abrufbar unter: https://www.oeko.de/oekodoc/1837/2013-506-de.pdf

[2]Sebastian Koos und Elias Naumann (2019): Vom Klimastreik zur Klimapolitik. Die gesellschaftliche Unterstützung der „Fridays for Future“-Bewegung und ihrer Ziele. Forschungsbericht. Konstanz: Universität Konstanz. http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-2-1jdetkrk6b9yl4.

Über die Interviewpartnerin

Josephine Tröger ist seit Dezember 2017 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der AG Sozial, Wirtschafts- und Umweltpsychologie an der Universität Koblenz-Landau. Seit März 2019 ist sie zudem Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Überprüfung des NBS- Gesellschaftsindikators zum Bewusstsein für Biologische Vielfalt sowie Entwicklung eines alternativen Messverfahrens“ am Steinbeis-Transferzentrum Interventions- und Evaluationsforschung.

© Josephine Tröger

Suffizienz an Hochschulen – Eine Good-Practice-Sammlung

Wie wird Suffizienz an Hochschulen bereits umgesetzt? Was lässt sich aus existierenden Projekten lernen und wie könnte man diese noch weiterführen? Diesen Fragen gehen Dr. Michael Flohr und Lucas Markus in ihrer Good-Practice-Sammlung „Suffizienz an Hochschulen im ländlichen Raum“ nach. Indem sie untersuchen, wie Suffizienz an Hochschulen gelingen kann, setzen sie einen Gegenpunkt zur bequemen aber zugleich riskanten Wette auf eine alleinig effiziente Zukunft. 

Übersichtskarte suffizienter Initiativen an Hochschulen, die in der Good-Practice-Sammlung aufgeführt werden, © Dr. Michael Flohr

Suffizienz im ländlichen Raum

In Deutschland ist grundsätzlich auffällig, dass vor allem kleinere und mittlere Hochschulen nachhaltige Maßnahmen umsetzen. Ländliche Räume haben gewisse Merkmale, die Suffizienz befördern können. Überschaubare Sozialgefüge und enge Netzwerke führen beispielsweise dazu, dass solidarische Aktivitäten wie Tauschen leichter umgesetzt werden können, als das in der Anonymität von Großstädten der Fall ist. Außerdem können gerade ländliche Räume zu Reallaboren werden, um gewohnte Wachstumspfade zu verlassen und neue, suffiziente Wege zu erproben. Das geschieht, indem neue Lebens-, Lern- und Arbeitsformen gewagt werden. Ländliche Hochschulen haben daher häufig eine Innovations- und Vorbildfunktion inne.

Suffizienz – Orientierung am rechten Maß

Suffizienz meint, das „richtige“ und „notwendige“ Maß von Ressourcenverbrauch anzustreben, sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene. Häufig werden die 4 E’s nach Wolfgang Sachs genutzt – Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung und Entrümpelung – um sich am richtigen Maß zu orientieren. 

Bei der Entschleunigung geht es um das richtige Maß an Zeit. Der Rhythmus soll angepasst und damit langsamer und zuverlässiger werden – im Verkehrsbereich, in der Arbeitswelt und in den Produktzyklen von Gütern. So werden Qualität und Langlebigkeit erzielt. Entflechtung meint das richtige Maß für den Raum. Globales und regionales Wirtschaften soll neu aufgeteilt werden, zum Beispiel durch eine Regionalisierung der Lebensmittelproduktion und der Energieversorgung. Entrümpelung bezeichnet das richtige Maß an Besitz hin zu „einfacher“ und „weniger“. Dabei geht es vor allem darum, Gerümpel gar nicht erst entstehen zu lassen, indem zum Beispiel Güter langlebig und reparierbar produziert werden. Das vierte E, die Entkommerzialisierung, betrifft das richtige Maß für den Markt. Der zunehmenden Kommerzialisierung soll entgegengewirkt werden, indem Menschen zu Glück jenseits von Konsum befähigt werden. 

Die vier E‘s wurden im Paper genutzt, um Ansätze und Projekte nach ihrem primären Fokus geordnet darzustellen. Im Folgenden wird zu jedem „E“ ein Beispiel einer Hochschule vorgestellt, welche ein suffizientes Projekt im jeweiligen Bereich umsetzt. 

Entschleunigung

Lebenswelt Campus der Leuphana Universität Lüneburg © Leuphana Universität Lüneburg

Einen Fokus auf Entschleunigung setzt das Projekt „Lebenswelt Campus“ der Leuphana Universität Lüneburg. Studierende, Lehrende, Verwaltungsmitarbeitende und die Hochschulleitung versuchen in diesem Projekt, den Campus so zu gestalten, dass alle sich wohlfühlen, miteinander ins Gespräch kommen und sich unterstützen können. Zunächst wurde dafür der Campus zu einem verkehrsberuhigten Raum gemacht. Nachfolgend sollen die Straßen entsiegelt werden, um einen Campuspark zu gestalten. Diverse Nutzungsanforderungen an den Campus sollen in das neu entwickelte Konzept einbezogen werden. Dazu gehören unter anderem Orte zum Verweilen, Repräsentativität, Biodiversität, Lehre, Lernen, Bewegungen, essbarer Campus und Barrierefreiheit. Der partizipative Prozess und ein langfristiger Blick auf die Gestaltung des Campus zeigen neben dem gemeinsam genutzten Raum, der reduzierten Abgasbelastung und angebautem Obst, Gemüse und Kräutern auf dem Campus die deutlichen Bezüge zur Suffizienz. Das Projekt könnte gut an andere Hochschulen übertragen werden, wobei Themen und Schwerpunkte von der jeweiligen Hochschule selbst gesetzt werden können. Aber auch für die Universität Lüneburg geht es noch weiter mit der Entschleunigung: „Das Projekt Lebenswelt Campus lebt davon, dass sich die Ideen weiterentwickeln und mit allen Stakeholdern abgestimmt realisiert werden. So sind wir gespannt und offen, was in den nächsten Jahren noch kommt.“

Entflechtung

Klimaschutz-Mensa des Studentenwerks Schleswig-Holstein © Studentenwerk Schleswig-Holstein

Das Studentenwerk Schleswig-Holstein wirkt mit einer „Klimaschutz-Mensa“ auf dem Campus Flensburg im Bereich der Entflechtung. Ein wachsendes Angebot an vegetarischen und veganen Gerichten und Maßnahmen zur Energieeinsparung und Müllvermeidung wurden seit 2018 erfolgreich umgesetzt. Auch in diesem Projekt arbeiten Studierende, Hochschulleitung, Lehrende und Verwaltungsmitarbeitende zusammen für eine suffizientere Hochschule. Mitarbeitende der Mensa werden regelmäßig geschult, sodass sich Auswahl und Qualität an vegetarischen und veganen Gerichten vergrößert. Regionale Produkte und kurze Transportwege werden bevorzugt. Außerdem werden mit einem Stand in der Mensa Studierende für das Thema Klimaschutzmanagement sensibilisiert. Durch gute Öffentlichkeitsarbeit rund um das Thema Nachhaltigkeit und ein attraktives Angebot klimagerechter Speisen konnte auf dem Campus Flensburg Genuss verbunden mit Klimaschutz zu moderaten Preisen in die Mensa gebracht werden. Übertragen werden kann das Konzept der Klimamensa auf jede Hochschule mit Mensabetrieb.

Entrümpelung

CREAPOLIS Makerspace der Hochschule Coburg © CREAPOLIS Makerspace

An der Hochschule Coburg wurde von Lehrenden der „CREAPOLIS Makerspace“ geschaffen, eine offene Werkstatt, wo sowohl digitale als auch anaolge Werkzeuge geteilt werden. Dem ganzen liegt die Idee zugrunde eine neue Art von Begegnungsplattform für die Hochschule und Region Coburg zu schaffen. Ein Erfolg zeichnet das Repair Café, welches zweimal im Monat angeboten wird und sich großer Beliebtheit erfreut. Darüber hinaus bietet das Projekt Bürger*innen, Initiativen und Unternehmen Infrastruktur in Form von Räumlichkeiten, um Vorhaben umzusetzen und (in Kooperation) nachhaltige Innovationen entstehen zu lassen. Für die Entwicklung ähnlicher Projekte an anderen Orten wird das Wissen zum Makerspace bereits genutzt. Darüber hinaus ist in Planung, einen Arbeitsbericht zu veröffentlichen, der es neuen Projektstarter*innen noch einfacher macht. 

Entkommerzialisierung

Klimamap der Europa-Universität Flensburg, Quelle: Screenshot KlimaMap Flensburg,  https://klimaschutz.campus-flensburg.de/?page_id=3210

Vom Klimaschutzmanagement der Universität Flensburg wurde die „Klimaschutzmap“ ins Leben gerufen. Diese beschreibt eine Online Karte mit über 250 Einträgen in neun Kategorien. Ziel ist es, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich in Flensburg für Klimaschutz eingesetzt werden kann. Aufgenommen sind Repair Cafés, Secondhand-Läden, Foodsharing-Angebote, Unverpackt-Läden und vieles mehr. Eine Besonderheit dieses Projektes ist, dass es nicht nur Hochschulmitglieder erreicht, sondern darüber hinaus auch von Interessierten Bürger*innen genutzt werden kann. Eine KlimaMap mit Angeboten zum klimafreundlichen Handeln kann grundsätzlich mit genügend Engagement ganz einfach ins Leben gerufen werden. Wichtig ist, die Klimaschutzmap kontinuierlich zu pflegen, da sich in einigen Kategorien Angaben laufend ändern, wie beispielsweise die Anzahl an Stromtankstellen in der Stadt.

Fazit

Die vier vorgestellten Projekte bilden nur eine kleine Auswahl an Beispielen aus der Good Practice Sammlung zu Suffizienz an Hochschulen. Vom Umweltcampus der Hochschule Trier über Foodsharing an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt bis hin zu einem Fahrradverleihsystem an der Hochschule Emden-Leer gibt es noch viele weitere spannende Projekte zu Suffizienz zu entdecken. Der Projektinitiator vom Fahrradverleihsystem sagt als Tipp für alle, die selbst ein Nachhaltigkeitsprojekt starten wollen: „Einfach loslegen!“ 

Wer gerne erstmal Ideen sammeln, sich inspirieren lassen oder weitere wertvolle Tipps erhalten möchte, findet all dies ausführlich im besagten Paper. Neben der Good Practice Sammlung gibt es noch weitere Beiträge. Zum Beispiel geben zwei Umweltpsychologinnen im Interview Anregungen, wie studentische Initiativen andere Menschen an der Hochschule von einem suffizienten Projekt überzeugen können.

Quellen

https://www.researchgate.net/publication/342991904_Suffizienz_an_Hochschulen_im_landlichen_Raum

Das Schweizer Klimabündnis und die Suffizienz-Toolbox für Gemeinden

Das Klimabündnis Europa wurde 1990 gegründet und ist seitdem zu einem bedeutenden umwelt- und energiepolitischen Akteur herangewachsen, in dem über 1700 europäische Städte und Gemeinden agieren. Ihr Ziel ist es, regionale Antworten auf den globalen Klimawandel zu finden und Suffizienz auf lokaler Ebene zu fördern.

Die Schweizer Mitglieder haben sich 1995 noch einmal gesondert zum Klimabündnis Schweiz zusammengeschlossen, die 18 Mitglieder und 1,3 Millionen Einwohner*innen machen rund 15% der Schweizer Bevölkerung aus. Sie haben sich verpflichtet, zusätzliche klimaschonende Maßnahmen zu ergreifen und möchten sicherstellen, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens in der Schweiz eingehalten werden.

Das Klima- Bündnis Schweiz hat unter anderem das Ziel, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten.

Ein weiteres Ziel ist, mit der öffentlichen Hand Rahmenbedingungen zu schaffen, die ressourceneffiziente und suffiziente Lebensstile begünstigen. Durch ihre Nähe zur Bevölkerung haben Städte und Gemeinden verschiedene Möglichkeiten, eine ökologische Lebens- und Wirtschaftsweisen zu fördern: sie können Initiativen aus der Bevölkerung unterstützen, durch planerische und gesetzliche Vorgaben einen geeigneten Entwicklungsrahmen festlegen und selber eine Vorbildrolle übernehmen.

Dazu wurde zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Pusch, einer Schweizer Stiftung für praxisnahe Umweltbildung, und EBP, einem Unternehmen für Umweltforschung, die Suffizienz-Toolbox ins Leben gerufen. Diese liefert Ideen und Tipps, wie Gemeinden die Weichen für eine ressourcenschonende und lebenswerte Zukunft stellen können. Dies geschieht durch eine Kombination aus Vorschlägen und Beispielen aus der Praxis. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, ein Verzeichnis mit Anlaufstellen zur Reparatur alter Elektrogeräte anzulegen und bereits existierende Verzeichnisse zur Inspiration verlinkt. Darüber hinaus gibt es noch die Kategorien Konsumgüter, Raumnutzung, Energie, Ernährung, Mobilität, und Partizipation, die einen umfassenden Überblick über relevante Umweltschutzbereiche bieten. Natürlich soll die Toolbox nicht nur Gemeinden zur Verfügung stehen, sondern auch Bürger*innen einladen, sich zu engagieren und ihre Stadt aktiv mitzugestalten. Neben den verbesserten Rahmenbedingungen für ökologische Lebensweisen werden Einwohner*innen so für das Thema sensibilisiert.

Solche Initiativen sind eine wichtige Brücke, um international beschlossene Klimaschutzmaßnamen lokal zu verankern und die Bevölkerung von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. Durch den Mitmach-Aspekt werden Umweltschutzmaßnamen greifbarer und verdeutlichen, dass auch Einzelpersonen etwas verändern können.

Falls ihr euch selber auch von der Toolbox inspirieren lassen möchtet, findet ihr diese hier, mehr Informationen über das Schweizer Klimabündnis sind hier.