Maßvolles Wirtschaften: Unternehmerische Strategien für eine nachhaltige Zukunft

In einer Welt, in der wir uns den planetaren Grenzen immer weiter nähern und die zunehmend von Konsum und Expansion geprägt ist, gewinnt das Konzept der Suffizienz und des maßvollen Wirtschaftens immer mehr an Bedeutung. Das Forschungsteam rund um Dr. Maike Gossen von der TU Berlin geht in dem Projekt „Maßvoll wirtschaften: Unternehmerische Strategien für gemeinwohlorientierte Konsum- und Produktionsmuster“ der Frage nach, wie verbreitet Strategien und Geschäftsmodelle sind, die den Ressourcenverbrauch durch Konsum und Produktion reduzieren. Ziel ist es, herauszufinden, welche Herausforderungen bei der Umsetzung von maßvollem Wirtschaften und welche Skalierungsansätze in der Praxis existieren.

Maßvolles Wirtschaften bedeutet, dass Unternehmen ihre Produktion und ihr Angebot auf das notwendige Maß begrenzen und ressourcenschonende Lebensstile erleichtern. Sie sind nicht auf maximales Wachstum und Profit ausgerichtet, sondern legen ihren Fokus auf das Gemeinwohl und eine nachhaltige Nutzung von Ressourcen. Nachhaltige Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden in Interviews und einer breiten Online-Befragung sowohl auf ihre internen Strategien wie die Begrenzung von Wachstumszielen und Produktionsvolumen als auch auf ihre externen Strategien wie das Vorhandensein von Reparaturangeboten und den Vertrieb langlebiger Produkte zur Förderung von Suffizienz untersucht.

Die Konflikte an der Schnittstelle zwischen suffizienzorientierten Geschäftspraktiken und Wachstumszwängen spielen dabei eine bedeutende Rolle, da das Streben nach ständigem Wachstum tief in der Wirtschaftsstruktur verankert ist und in direktem Widerspruch zu den Zielen des maßvollen Wirtschaftens steht. Die im Forschungsprojekt erstellte Literaturanalyse ergab, dass es für Unternehmen mit einem suffizienzorientierten Geschäftsmodell schwierig ist, sich gegen konventionelle Unternehmen zu behaupten, da Expansion und Gewinnmaximierung inhärente Triebkräfte des gegenwärtigen Wirtschaftssystems darstellen. Zusätzlich ist die Konsumkultur in vielen westlichen Ländern ein Hindernis, da sie von Materialismus und Überfluss geprägt ist und immer wieder neue Produkte und Dienstleistungen fordert, die oft nur von kurzer Lebensdauer sind. Viele suffizienzorientierte Unternehmen sehen diese Konsumkultur kritisch und nutzen ihre Kommunikation und Reichweite, um ein Bewusstsein für verantwortungsvollen Konsum zu schaffen.

Best-Practice-Beispiele

Obwohl maßvolles Wirtschaften erst wenig verbreitet ist, gibt es einige Beispiele die zeigen, dass es möglich ist, suffizienzorientiert wirtschaftend erfolgreich zu sein. Neben Fairphone und Patagonia vertreibt auch der Outdoor-Ausrüster Vaude langlebige Produkte, die sich durch Reparierbarkeit auszeichnen und bietet einen Mietservice für Outdoor Equipment. Auch Abonnement-Modelle als Beitrag zur Kreislaufwirtschaft sind denkbar, wie mit dem Programm Cyclon von der Schuhmarke ON.

Notwendige politische Unterstützung

Für eine breitere Implementierung suffizienzorientierter Geschäftsmodelle ist jedoch politischer Wille erforderlich. Im derzeitigen Markt sind nachhaltige Unternehmen oft benachteiligt , da konventionelle Unternehmen von Subventionen und steuerlichen Vorteilen profitieren. Eine politische Förderung könnte beispielsweise durch steuerliche Anreize für nachhaltige Geschäftsmodelle oder durch gesetzliche Maßnahmen wie Reparaturboni oder längere Produktgarantien möglich sein. Solche Anreize würden es Unternehmen erleichtern, auf langfristige, ressourcenschonende Produktionsmethoden umzusteigen. Darüber hinaus würde eine verstärkte Regulierung von nicht-nachhaltigen Praktiken durch Steuern auf Materialimporte oder den Transportweg helfen, die Rahmenbedingungen für suffizienzorientierte Geschäftsmodelle zu verbessern.

Fazit: Suffizienz als zukunftsfähiges Geschäftsmodell

Das Konzept der Suffizienz bietet Unternehmen die Möglichkeit nicht nur den Ressourcenverbrauch zu verringern, sondern auch eine nachhaltigere und gemeinwohlorientierte Wirtschaft zu fördern. Indem sich Unternehmen für Suffizienz und die Produktion langlebiger Produkte entscheiden, zeigen sie, dass sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind.

Am 25.11. hielt Dr. Maike Gossen im Rahmen der Ringvorlesung zum Klimaschutz an der TU Berlin einen Vortrag zum Thema „Unternehmerische Strategien zur Förderung von Suffizienz“. Die vollständige Vorlesung kann hier und auf YouTube angeschaut werden.

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Literaturverzeichnis

Halstenberg, Barbara (2024): Weniger ist mehr –
Interview mit Dr. Maike Gossen und Laura Niessen zu Suffizienz und Unternehmen. Technische Universität Berlin, keine Angabe. URL: https://www.tu.berlin/news/interviews/potenziale-suffizienzorientierter-unternehmen (letzter Aufruf: 16.12.2024, 16:09 Uhr).

Gossen, Maike (2024): Unternehmerische Strategien zur Förderung von Suffizienz. Technische Universität Berlin, 25.11.2024. URL: https://www.youtube.com/watch?v=q2JXCSvoF_c (letzter Aufruf: 16.12.2024, 12:09 Uhr).

Suffizienz in der Philosophiegeschichte

Wir kennen die drei großen Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Effizienz kommt aus dem technisch-ökonomischen Bereich und versucht den gleichen Output bei reduziertem Ressourceneinsatz zu realisieren. Auch Konsistenz verfolgt einen eher technischen Ansatz. Sie versucht, neue Stoffe zu entwickeln, die sich für eine Kreislaufwirtschaft eignen. Prominent ist die Cradle-to-Cradle Bewegung, bei der nicht die Konsumreduktion im Mittelpunkt steht, sondern die Errichtung eines Kreislaufs, in dem sich möglichst alle genutzten Produkte bewegen und in dem wenig bis keine Abfälle anfallen. 

Suffizienz geht einen anderen Weg. Sie versucht nicht, neue Wege für die Befriedigung von Bedürfnissen zu finden, sondern sie hinterfragt diese Bedürfnisse selbst (vgl. Eser 2015, 94). Sie kommt aus einer moralisch-philosophischen Denkrichtung. In der Nachhaltigkeitsstrategie ist die Suffizienz deutlich jünger als die Effizienz. Während Effizienz auf die Zeit der industriellen Revolution zurückgeht, entwickelte sich Suffizienz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt jedoch: Suffizienz ist kein neues Konzept. Schon in der Philosophie der Antike war Suffizienz, wenn auch nicht unter diesem Namen, ein prominentes Thema. Damals gab es Denker, die einen – nach heutigen Maßstäben – nachhaltigen Lebensstil propagierten. Welche Strömungen und Theorien über die Suffizienz sich im Lauf der Geschichte entwickelt haben, soll Inhalt dieses Beitrags sein. Dabei werden nur einige, besonders wichtige Schlaglichter gezeigt, denn das volle Ausmaß der philosophischen Geschichte der Suffizienz würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Von der Antike zur Aufklärung: Die philosophischen Wurzeln der Suffizienz

Wir beginnen unseren Rundgang durch die Geschichte in der Antike. Eine der einflussreichsten philosophischen Schulen der Antike ist die der Stoa. Die Strömung ist eudaimonistisch ausgerichtet, das heißt, die ‚Frage nach dem guten Leben‘ steht im Zentrum ihres philosophischen Schaffens (vgl. Schnor 2015, 15). In der Philosophie der Stoa erreicht man das gute Leben vor allem durch Selbstbeherrschung und Lossagung von äußeren Einflüssen wie materiellen Besitztümern. Das Festhalten an Tugenden wie Weisheit, Mut, Gerechtigkeit und Besonnenheit steht im Zentrum. Noch heute begegnet uns die Lehre der Stoa, wenn wir das gleichmütige, beherrschte Verhalten eines Menschen als ‚stoisch‘ bezeichnen. Auch wenn Suffizienz als Begriff nicht in der Stoa verwendet wird, finden sich in der von ihr formulierten, genügsamen Lebensweise, die wenig Güter beansprucht, doch zahlreiche Anknüpfungspunkte. Sie entsagt nicht jeglichem Luxus, betont aber „materielle (…) Einfachheit“ (Schild 2021, 104), die Gefahr von Unbegrenztheit, und das Streben, nicht in Abhängigkeit von weltlichen Dingen, die sich jenseits der Tugenden befinden, zu geraten (vgl. Schnor 2015, 35).

Ein paar Jahrhunderte später, in der christlichen Theologie, die unseren „westlichen Gesellschaften prägend zugrunde liegt und sich auch durch die Narrative der Umweltbewegung zieht“ (Dallmer 2020, 177), spielt die Askese, also die Entsagung von weltlichen Gütern und die freiwillige Begrenzung von Bedürfnissen, eine zentrale Rolle im religiösen und philosophischen Denken. Versteht man die Askese als eine „Kunst und Technik (…) kontrollierter Lebensführung“ (Macho 2007, 1), wird sie nicht erlitten wie eine Krankheit, sondern “geübt und praktiziert wie die Verwendung eines Werkzeugs oder das Spiel eines Musikinstruments” (ebd.). Schon ab dem 4. Jahrhundert finden sich im katholischen Katechismus die vier Kardinaltugenden, wovon eine die Mäßigung ist. Diese taucht auch auf bei Thomas von Aquin, einem der bedeutendsten christlichen Philosophen des Mittelalters (Balthasar 2021). Mit der zur gleichen Zeit beginnenden Entstehung der Klöster entwickelte sich aus dem Konzept der Askese eine Lebensführung, die dem heutigen Verständnis von Suffizienz schon recht nahekommt. 

Klösterliche Gemeinschaften entwickelten neben persönlicher Enthaltsamkeit auch Praktiken der Selbstversorgung, die heute durchaus als nachhaltig bezeichnet werden könnten: Sie bauten Lebensmittel an, stellten Werkzeug und Kleidung selbst her und lebten weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen. Franz von Assisi nimmt hierbei eine wichtige Rolle ein. Als Begründer des Franziskanerordens legte er mit den Grundstein für ein christliches Suffizienzverständnis. In seiner zweiten Enzyklika ‚Laudato si‘ spricht der aktuelle Papst Franziskus im Jahr 2015 über Franz von Assisi als Vorbild „für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie“ (Heimbach-Steins/Lienkamp 2015, 159). 

Suffizienz in Religion und Gesellschaft: Von klösterlicher Askese bis zur Romantik

Interessanterweise finden sich auch in den anderen Weltreligionen, zum Beispiel dem Buddhismus, Ansätze, die ein suffizientes Leben jenseits von Eigennutz und Besitzdenken empfehlen. In der Lehre des achtfachen Pfades (auch mittlerer Weg genannt) werden Entschleunigung, Großzügigkeit und Selbstbegrenzung praktiziert (vgl. Folkers 2015, 9), die nicht nur Restriktion mit sich bringen, sondern das Potenzial in sich tragen, Kreativität und Produktivität freizusetzen (vgl. ebd., 10). Diese Perspektive zeigt eine spannende Parallele zur christlichen Idee der Bedürfnislosigkeit und verdeutlicht, wie in ganz verschiedenen Kulturen die Idee der Suffizienz zur Erreichung spiritueller Ziele verfolgt wurde und wird.

Anknüpfend an die christliche Tradition gehen wir als Nächstes in die Romantik mit ihrem prominenten Vertreter Jean-Jacques Rousseau. Er wirkte im 18. Jahrhundert und gilt als wichtiger Vordenker der Aufklärung und der Französischen Revolution. Im Kontext der Suffizienz argumentiert Rousseau mit der Idee der Einfachheit, der Romantisierung des Land- gegenüber des Stadtlebens und dem Ideal der Autarkie und Naturverbundenheit (vgl. Dallmer 2020, 70f; 165). Etwa 100 Jahre später, 1854, veröffentlicht Henry David Thoreau mit seinem Buch Walden ein Werk, in dem die Rückkehr zur Natur und das Entkommen aus einem Zustand, „in dem wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind” (Napp 2022) eine zentrale Rolle einnimmt. Thoreau gilt bis heute als Vorbild diverser Protestbewegungen, darunter der 68er-Bewegung, dem Civil Rights Movement oder auch Extinction Rebellion (vgl. ebd.). 

Suffizienz im 20. und 21. Jahrhundert: Nachhaltigkeit neu gedacht

Mit zunehmender Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter anderem geprägt durch die Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970ern, der Veröffentlichung der Studie Die Grenzen des Wachstums 1972, des Montreal-Protokolls 1987 sowie der Rio-Konferenz 1992 nahm die Idee der Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie neue Fahrt auf. Die Werke Small is beautiful von Ernst Schumacher (1973) und Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas (1979) ebnen den Weg für das Konzept der Suffizienz, wie wir es heute kennen. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Suffizienz erstmals 1993 von Wolfgang Sachs verwendet: „‘Effizienzrevolution’ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ‘Suffizienzrevolution’ begleitet wird. Nichts ist schließlich so irrational, als mit einem Höchstmaß an Effizienz in die falsche Richtung zu jagen.” (Sachs 1993, 2). Heute gelten vor allem Manfred Linz (Weder Mangel noch Übermaß, 2004), Serge Latouche (Farewell to Growth, 2009) und Niko Paech (Befreiung vom Überfluss, 2012) als bekannte Fürsprecher des Suffizienzkonzepts. 

Kritische Reflexion: Grenzen und Potenziale der Suffizienz heute und morgen

Ob nun aus Sicht der antiken Stoa, des mittelalterlichen Christentums oder aufklärerischer Philosophen, die Idee der Suffizienz muss stets auch kritisch betrachtet werden, ist sie doch nach wie vor ein äußerst idealistisches und voraussetzungsreiches Konzept, um den multiplen Krisen unserer Zeit entgegenzutreten. Sie schafft potenziell Raum für „autoritäre (Ökodiktatur) oder auch sozialdarwinistische Lösungen, wenn der Wert der Natur über den des (einzelnen) Menschen gestellt wird” (Dallmer 2020, 178). Mag die Suffizienz auch normativ plausibel sein, mangelt es doch „an Belegen, dass jemals eine Gesellschaft nach ihren Werten gelebt hat und die Menschen dies mehrheitlich als gutes Leben definiert haben” (ebd., 176). Deshalb muss Suffizienz stets mit realistischen politischen Umsetzungsmodellen zusammen gedacht werden. Diese Modelle zu finden und umzusetzen, gilt im Zuge des Fortschreitenden multipler ökologischer Krisen als eine der zentralen Aufgaben des 21. Jahrhunderts.

Literaturverzeichnis

Balthasar, Susanne (2021): Bescheidenheit – Die Wiederentdeckung der Mäßigung. Deutschlandfunk Kultur, 12.06.2021. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/bescheidenheit-die-wiederentdeckung-der-maessigung-100.html

Dallmer, Jochen (2020): Glück und Nachhaltigkeit. transcript Verlag, Bielefeld. 

Eser, Uta (2015): Glück und Suffizienz. In: Schloßberger, Matthias (Hrsg.): Die Natur und das gute Leben, BfN-Skripten 403 Potsdam. S. 93-97. 

Folkers, Manfred (2015): Suffizienz und Zufriedenheit – Buddhistische Motive für eine Kultur des Genug. Rohfassung eines Vortrags in der „Ringvorlesung zur Postwachstumsökonomie“ am 14.01.2015. URL: http://www.postwachstumsoekonomie.de/wp-content/uploads/2015-01-14_Folkers-Suffizienz-und-Zufriedenheit.pdf 

Heimbach-Steins, Marianne/ Lienkamp, Andreas (2015): Die Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus – Auch ein Beitrag zur Problematik des Klimawandels und zur Ethik der Energiewende. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 56 (2015), Aschendorff Verlag, Münster. 

Macho, Thomas (2007): Über Askese. In: Künste der Verneinung, 153. 10.18452/1724 URL: https://edoc.hu-berlin.de/server/api/core/bitstreams/c8963262-a92e-4ca3-852c-fad51a15d5f9/content

Sachs, Wolfgang (1993): Die vier E’s – Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil. URL: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/66/file/66_Sachs.pdf

Schild, Kirstin (2021): Resonanz durch Suffizienz – Wie eine suffiziente Lebensweise Resonanz und somit ein gutes Leben befördert. Inauguraldissertation, Universität Bern.
URL: https://boristheses.unibe.ch/3028/1/21schild_k.pdf 

Schnor, Jannik (2015): Suffizienz und die Frage nach dem guten Leben – Betrachtungen von Suffizienz mithilfe von Konzeptionen des guten Lebens von Epikur und der Stoa. Leuphana Schriftenreihe Nachhaltigkeit und Recht, Leuphana Universität Lüneburg. URL: https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/ifus/professuren/energie-und-umweltrecht/Schriftenreihe/NR_-_Nr._11__Schnor___Suffizienz__Epikur-Stoa.pdf

Rezension: „Zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Transformation“

Das Buch „Zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Transformation“ von Petra Müller setzt sich mit Einflussfaktoren suffizienter Lebensstile auseinander.  Vor dem Hintergrund der massiven Auswirkungen unserer Lebensroutinen und Konsummuster auf die ökologische Tragfähigkeit der Erde beleuchtet die Autorin die Motivation von Menschen, sich für einen reduzierten Lebensstil zu entscheiden. Mittels narrativer Interviews arbeitet sie heraus, welche Beweggründe und Motive diese von ihr als „Pioniere“ bezeichneten Menschen haben, wer sie sind und was sie auszeichnet. 

Eine fundierte theoretische Grundlage für suffiziente Lebensstile

Dazu geht sie in den ersten beiden Kapiteln auf die theoretischen Grundlagen ein und bietet einen umfangreichen Überblick über den Stand der Forschung. Sie erörtert umfassend den Begriff der Suffizienz und ordnet ihn in die übergeordnete Nachhaltigkeitsdebatte ein. Dabei macht sie deutlich, dass Suffizienz mehr ist als bloß „Weniger“ und präsentiert wissenschaftliche Ansätze, die zum einen zeigen, dass herkömmliche eindimensionale Wohlstandsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt den komplexen Gegebenheiten nicht gerecht werden. Zum anderen geht sie auf Gegenentwürfe wie das Konzept der 4 E’s (Entschleunigung, Entflechtung, Entkommerzialisierung und Entrümpelung) von Wolfgang Sachs ein. Die Darstellung beschränkt sich dabei nicht nur auf die theoretische Betrachtung der Konzepte, sondern bietet auch einen kursorischen Überblick von empirischen Postwachstumsansätzen, in denen das Konzept der Suffizienz eine zentrale Bedeutung innehat. Aufgrund ihres eingangs formulierten Erkenntnisinteresses spielt dabei die individuelle Ebene eine große Rolle. Sie beschließt folgerichtig die theoretische Einführung mit einer Überblicksdarstellung, was unter suffizienten Lebensstilen zu verstehen ist und was diese ausmacht. 

Ein methodisch überzeugendes Vorgehen

Ehe im vierten Kapitel die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung präsentiert werden, widmet die Autorin zunächst der Darstellung des methodischen Vorgehens ein eigenes Kapitel. Hier wird besonders deutlich, dass es sich bei der Publikation um eine Dissertation handelt. Detailliert wird u. a. auf die methodologischen Grundlagen, den Prozess der Datenerhebung und die in der Auswertung vorgenommene Typenbildung eingegangen. 

Vielschichtige Handlungstypen und ihre gesellschaftliche Relevanz

Die Auswertungsergebnisse der narrativen Interviews stellt die Autorin im vierten Kapitel vor. Anhand einer komplexen Kategorisierung wird es ihr möglich, vier Handlungstypen hinsichtlich der Zielsetzung eines suffizienten Lebensstils zu bilden. Diesen als Selbstfürsorger, Trittbrettfahrer, Inspiratoren und Transformatoren bezeichneten Typen ist gemein, dass ihnen suffiziente Lebensstile wichtig sind, jedoch variieren ihre dazu wirkenden Orientierungsmuster zwischen einer individuell-alternativen und einer kollektiv-kollaborativen Wertorientierung. Diese Orientierungsmuster gewinnt die Autorin ebenfalls im Rahmen der Auswertung, indem sie als Bezugssystem zunächst eine Binnen- und eine Außenperspektive hinsichtlich der treibenden Faktoren für einen suffizienten Lebensstil erkennt und anschließend im Interview erfragte Belastungsfaktoren damit in Verbindung setzt. Darunter versteht die Autorin negative Lebensaspekte wie bspw. das Gefühl von Einsamkeit, eine empfundene hohe Belastung im Job (Binnendimension) oder artikulierte Gesellschaftskritik bzw. Wahrnehmungen von sozialer Ungerechtigkeit (Außendimension). Diese verdichtet sie sodann methodisch zu zwei grundlegenden Orientierungsmustern suffizienter Lebensstile: einer vorrangig individuell-alternativen Wertorientierung sowie einer stärker kollektiv-kollaborativen Wertorientierung. Auf Basis dieses Konzepts wird es ihr schließlich möglich, vier Handlungstypen suffizienter Lebensstile zu identifizieren, die sich aus der Kombination von Binnen- und Außendimension sowie den beiden weitergeleiteten Orientierungsmustern ergeben: 

    • Selbstfürsorger kennzeichnet demnach ein vorwiegend individuelles Orientierungsmuster und eine starke Innenausrichtung,  

    • Inspiratoren ein individuelles Orientierungsmuster und eine starke Außenausrichtung,

    • Trittbrettfahrer ein kollektives Orientierungsmuster und eine vorherrschende Innenausrichtung sowie schließlich

    • Transformatoren ein kollektives Orientierungsmuster in Verbindung mit einer dominierenden Außenausrichtung. 

Gelungen an der lesenswerten und analytisch überzeugenden Darstellung ist vor allem die konsequente Einbettung der Sichtweisen von Befragten. Die umfangreiche Integration von Zitaten bei der Entwicklung der methodischen Bausteine erleichtert es Leser*innen, die Entwicklung der einzelnen Kategorien zu verstehen und nachzuvollziehen. 

Insgesamt verdeutlicht das Buch einmal mehr den ökologischen und persönlichen Mehrwert von Suffizienz. In Anlehnung an ein wohlbekanntes Sprichwort lässt sich nach seiner Lektüre sagen: Viele individuelle Wege führen in die gemeinsame Suffizienz. 

Buchinformationen
Autor*in: Petra Müller
Titel: Zwischen Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Transformation. Einflussfaktoren für suffiziente Lebensstile
Verfasser*in: Petra Müller
Verlag: Oekom
ISBN: 978-3-98726-042-1
Softcover, 300 Seiten
Erscheinungstermin: 04.04.2024

Nachhaltiges Gemeinwohl im Quartier

Neben Ressourcensparsamkeit befasst sich Suffizienz stets auch mit der Frage nach einem guten Leben. Diese wird in Deutschland immer mehr zu einer nach der Ausgestaltung lebenswerter Städte, denn die Urbanisierung hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen: So lag der Anteil der Stadtbewohner*innen 1990 noch bei 70 Prozent und wuchs binnen rund 30 Jahren bis 2022 auf 77,7 Prozent.

Ein gordischer Knoten

Stadtplaner*innen stellt dies regelmäßig vor schwierige Aufgaben. Fast überall gibt es Flächenkonkurrenzen, die durch widerstreitende Vorstellungen zum städtischen Idealbild befeuert werden. Konflikte um das vermeintliche Gemeinwohl, eine gerechte Lastenverteilung und die besten Lösungen im Sinne der Gesamtheit oder zumindest der Mehrheit der Gesellschaft lassen sich fast täglich in den Nachrichten sehen. Häufig geht es dabei um Maßnahmen, die für sich genommen gut klingen: Nur wenige Menschen werden es zunächst ablehnen, wenn man ihnen eine Verbesserung der Luftqualität, bessere Mobilitätsangebote, neuen Wohnraum oder weitere Einkaufsmöglichkeiten verspricht.

Doch nahezu immer gehen diese Lösungen zu Lasten einzelner Personen oder Akteursgruppen und lassen sich vor allem nicht gleichzeitig realisieren. Bei der Planung und Gestaltung von Städten geht es mithin immer auch um die Verwendung knapper Ressourcen, Akzeptanz für gefundene Lösungen und den Ausgleich divergierender Interessen. Nicht umsonst schrieb der Schriftsteller Gerd Heyse: „Auf der Suche nach dem Schlaraffenland sollte man sich ausreichend mit Proviant versorgen.“

Partizipation im Fokus: ein Gemeinwohl-Index für das Quartier

Gerade weil sich Gemeinwohl schwierig bestimmen lässt und Ressourcen überall knapp sind, sollte erfolgreiche Kommunalentwicklung die Betroffenen und ihre Interessen frühzeitig und umfassend einbeziehen. Wie das gelingen kann, zeigt ein Quartiersentwicklungsprojekt in Münster: Dort wurde 2019 laut eigener Aussage unter dem Motto „Gemeinsam Stadt machen – statt machen lassen!“ der bundesweit erste Quartier-Gemeinwohl-Index (QGI) entwickelt. Mittlerweile wurden auf seiner Basis bereits über 80 Projekte im Viertel ausgewählt und realisiert. Der Index ist dabei in einem mehrstufigen Beteiligungsprozess mit Menschen aus dem Quartier entstanden und wird stetig weiterentwickelt. Dies reflektiert die Erkenntnis, dass Gemeinwohl kein starres Gebilde ist, sondern sich Themen und Präferenzen mit der Zeit verändern können. Aktuell besteht der QGI aus 16 Themen, die die unterschiedlichen Aspekte des alltäglichen Lebens im Viertel adressieren. Sie reichen bspw. von Verkehr und Wohnen über Bildung, Gesundheit und Gerechtigkeit bis hin zu Vernetzung, Nachbarschaft oder Älter werden im Viertel.

Erweitert wurde der QGI zuletzt um ein Gemeinwohl-Barometer. Das im Rahmen eines Citizen-Science-Projektes entwickelte Instrument hat zum Ziel, den Zustand des Gemeinwohls im Quartier zu einem bestimmten Zeitpunkt abzubilden und so kommunalen Akteur*innen aus Zivilgesellschaft, Politik und Verwaltung als Richtungsweiser zu dienen.

Und wie steht es mit der Nachhaltigkeit?

Spannend ist an dieser Stelle die Frage, welche Bedeutung die Bewohner*innen des Hansaviertels Nachhaltigkeit im Allgemeinen und Suffizienz im Besonderen beimessen. Die Antwort lautet: eine bemerkenswert große. So findet sich Nachhaltigkeit als eines der 16 Hauptthemen wieder und wird bspw. über eine Wildbienenkampagne, ein Klimawäldchen oder eine Maßnahme zur Verbreitung von Balkonkraftwerken praktiziert. Darüber hinaus finden sich in den umgesetzten Projekten und den von den Anwohner*innen formulierten Visionen zu den genannten Themen in vielfältiger Weise Bezüge zur Strategie der Suffizienz. Dabei geht es um Ressourcensparsamkeit und die Veränderung etablierter Konsum- und Alltagsmuster. So sollen eine Reihe von Projekten wie bspw. ein gemeinsames Lastenreparaturrad oder gemeinsame Aufenthalts- und Freizeitbereiche ein ressourcenschonendes Miteinander fördern.

Ein best practice, das Schule macht?

Das Hansaviertel in Münster ist ein schönes Beispiel dafür, dass sich der Mut zu trialogischen Prozessen lohnen und neue kommunale Gestaltungskräfte freisetzen kann. Zumindest in diesem Fall korrespondiert die entwickelte Gemeinwohlvorstellung der Menschen im Quartier zudem mindestens in Teilen mit den Erfordernissen einer sozial-ökologischen Transformation. Da sich Gemeinwohl jedoch stets aus den Interessen der Menschen vor Ort bzw. den darauf basierenden Aushandlungsprozessen entwickelt, bleibt abzuwarten, inwieweit dies auch bei einem etwaigen Transfer des Ansatzes in andere Quartiere der Fall sein wird.

Grün statt grau – zur Bedeutung der Einhaltung des 30-Hektar-Ziels​

Bis 2050 werden voraussichtlich zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Wo einst natürlicher Boden lag, entstehen immer mehr Gebäude, Straßen und städtische Infrastruktur. Auch in Deutschland wird immer mehr Fläche bebaut und Boden versiegelt, obwohl die Bevölkerung nicht im gleichen Maße wächst (vgl. IÖR 2018). Durch den enormen Zuwachs an Flächenverbrauch geht nicht nur die endliche Ressource des natürlichen Bodens verloren, dies wirkt sich auch negativ auf die Umwelt und das Klima aus. Um diesem Problem entgegenzuwirken, muss der Bedarf an Nutzfläche sinken. Wie das Ziel von „weniger“ an Fläche erreicht werden kann, beschreiben verschiedene Suffizienzansätze im Bereich der Raumplanung.

In diesem Beitrag soll zunächst erklärt werden, worin das Problem des hohen Flächenverbrauchs besteht, woher dieser hohe Bedarf kommt und welche Auswirkungen er hat. Daraufhin werden suffizienzbasierte politische Ansätze zur Verringerung der Siedlungs- und Verkehrsfläche genannt und exemplarische Best-Practice-Beispiele aus der kommunalen Praxis vorgestellt.

Das Problem

Es handelt sich bei natürlichen Böden um eine sehr kostbare, aber auch endliche Ressource, die geschützt werden muss (vgl. IÖR 2018; TAB 2005). In seinem natürlichen Zustand bildet der Boden einen der weltweit größten Kohlenstoffspeicher und trägt damit besonders zum Erhalt und Schutz des Klimas bei (vgl. Niebert 2015). 

Durch die Versiegelung des Bodens, also die luft- und wasserdichte Abdeckung durch Bebauung, Betonierung, Asphaltierung oder anderweitige Befestigung, kann dieser kein CO₂ mehr aufnehmen (vgl. UBA 2024). Die wertvolle klimaregulierende Funktion des Bodens geht durch die Versiegelung verloren. Außerdem wird so deutlich mehr Wärme absorbiert, die natürliche Bodenfruchtbarkeit beeinträchtigt und das Versickern von Niederschlägen verhindert, wodurch sich weniger Grundwasser bildet (vgl. IÖR 2018; UBA 2024).

Dennoch nehmen die Flächeninanspruchnahme und die Versiegelung des Bodens immer weiter zu. Zwar hat die Zunahme im Laufe der letzten 20 Jahre deutlich abgenommen, trotzdem ist die Siedlungs- und Verkehrsfläche in Deutschland zwischen 2018 und 2021 durchschnittlich um 55 Hektar pro Tag gewachsen (vgl. Statistisches Bundesamt 2023a). Dies entspricht einem täglichen Flächenverbrauch von etwa 72 Fußballfeldern (vgl. BMUV 2023).

Damit geht auch für Tiere und Pflanzen wertvoller Boden verloren, der hohe Flächenverbrauch führt zur Zerschneidung der Landschaft, zur Veränderung des Lokalklimas und zu erhöhten Luftschadstoff- und CO₂-Emissionen (vgl. NABU o.J.).

Politische Maßnahmen

Die deutsche Bundesregierung hat dieses Problem durch das 30-Hektar-Ziel aufgegriffen. Bis 2030 soll demnach sichergestellt werden, dass täglich weniger als 30 Hektar neue Fläche für Siedlungen und Verkehr genutzt werden (vgl. Deutsche Bundesregierung 2018; UBA 2018b). Bis 2050 soll die Inanspruchnahme der Fläche pro Tag sogar bei Netto-Null liegen und eine Flächenkreislaufwirtschaft angestrebt werden (vgl. BMUV 2023; UBA 2022). Das heißt, Flächen müssten recycelt bzw. entsiegelt und renaturiert werden (vgl. IÖR 2018).

Eine solche Entsiegelung von Flächen ist zwar möglich, jedoch aufwendig und mit hohen Kosten verbunden. Zudem kann die Wiederherstellung fruchtbarer Böden sehr lange dauern (vgl. UBA 2024). Des Weiteren scheint die Erreichung des 30-Hektar-Ziels bis 2030 bei Betrachtung des anhaltend hohen Flächenverbrauchs nicht realistisch (vgl. NABU 2020). Sowohl für die einzelnen Jahre als auch im 4-Jahres-Mittelwert von 2018 bis 2021 ist das Ziel zur Flächeneinsparung für 2020 deutlich verfehlt worden (vgl. UBA 2023a). Schließlich ist kritisch zu sehen, dass das Erreichen des 30-Hektar-Ziels eigentlich für 2020 vorgesehen war. Infolge der absehbaren Zielverfehlung wurde es 2018 in der leicht veränderten Formulierung „unter 30 Hektar pro Tag“ auf 2030 verschoben (vgl. NABU o.J.; RNE 2007).  

Wofür wird die Fläche genutzt?

Ein Großteil der in Anspruch genommenen Fläche wird für Siedlungen und Verkehr genutzt. 2021 lag der Anstieg der neu genutzten Fläche für Wohnungen, Siedlungen und Gewerbe bei 39 Hektar pro Tag, etwa 8 Hektar pro Tag stieg die Nutzung für den Ausbau des Verkehrs (vgl. Statistisches Bundesamt 2023b). Von 1992 bis 2022 ist die Fläche für Siedlungen und Verkehr um 28,8 Prozent angestiegen (vgl. UBA 2023a). 

Mit 14.159 Quadratkilometern entfällt dabei der Großteil der Fläche auf die Wohnbaufläche (vgl. Statistisches Bundesamt 2023c). Bemerkenswert ist an dieser Stelle ein wachsender Flächenverbrauch pro Kopf: Während die deutsche Bevölkerung von 2011 bis 2020 um 3,5 Prozent gewachsen ist, stieg die Wohnfläche im selben Zeitraum um 6,5 Prozent (vgl. Architektenkammer Baden-Württemberg 2022). 

Politische Stellschrauben zur Verringerung des Flächenverbrauch

Um dem 30-Hektar-Ziel näherzukommen, wird eine konsequente Weiterentwicklung von praxisnahen, politischen, rechtlichen, informatorischen und ökonomischen Instrumenten des Flächensparens benötigt (vgl. TAB 2005). Darunter fallen z. B. Entsiegelungs- und Renaturierungskonzepte, die Erneuerung der Grundsteuer und das Schaffen regionaler Kooperationen (vgl. BMUV 2023; TAB 2005; UBA 2022). Generell wird eine dreistufige Handlungsempfehlung zur Vermeidung von neuer Flächenversiegelung vorgeschlagen, die dem Bestandsschutz, der Bestandssanierung und -entwicklung einen klaren Vorrang einräumt. Erst wenn die Erhaltung und Erneuerung von Beständen ausgeschöpft sind, sollte eine vertikale Bestandserweiterung stattfinden. Der Neubau bietet folglich nur die letzte Möglichkeit (vgl. Deutscher Städtetag 2021; UBA 2023b). Auch die Förderung von innovativen Ansätzen wie der Flächenkontingentierung gehört dabei in die öffentliche Diskussion (vgl. BMUV 2023; UBA 2018b; UBA 2022). Hierbei soll der Handel mit begrenzten Flächenzertifikaten für die Steuerung der Flächeninanspruchnahme sorgen und die Bebauung neuer Flächen begrenzen (vgl. IÖR 2018; UBA 2018a).

Hinsichtlich bestehender Siedlungsflächen sollte der Innenentwicklung von Städten der Vorzug gegenüber ihrer Außenentwicklung gegeben werden. Statt auf Neubauten in Randgebieten der Städte zu setzen, sollten folglich zunächst die Potenziale im Inneren ausgeschöpft werden, indem Brachflächen, Freiflächen und Baulücken genutzt werden (vgl. BMUV 2023; NABU o.J.; RNE 2007; UBA 2022). Das Verhältnis von Innen- zu Außenentwicklung sollte bei mindestens 3:1 liegen, während sich das Potenzial der Innenentwicklung auf geschätzte 120.000 bis 165.000 Hektar beläuft (vgl. IÖR 2018; UBA 2018b).

Außerdem braucht es verstärkt die Bereitschaft zum Flächenrecycling, also die Weiter- und Umnutzung bereits genutzter Flächen und von Leerständen (vgl. Architektenkammer Baden-Württemberg 2022; BBSR 2023; BMUV 2023; IÖR 2018; RNE 2007; UBA 2022). Eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung geht davon aus, dass in Deutschland 350 bis 380 Millionen Quadratmeter Bürofläche zur Verfügung stehen, die mit geringem Aufwand umgenutzt werden könnten. Dadurch würden 100.000 neue Wohneinheiten pro Jahr entstehen. Die Wiederbelebung von Leerständen könnte zur Schaffung von 18.000 Wohneinheiten pro Jahr führen, die Aufstockung von Parkhäusern, Einzelhandels- und Verwaltungsgebäuden könnte weitere 49.000 Wohneinheiten schaffen (vgl. BBSR 2023). Von Anfang an sollten flexible Grundrisse geplant werden, um eine Umgestaltung von Gebäuden zu vereinfachen (vgl. Architektenkammer Baden-Württemberg 2022; BBSR 2023).

Auch im Verkehr sollte der Neubau von Bundesfernstraßen und neuen Verkehrsinfrastrukturen reduziert und stattdessen bestehende Strukturen erneuert und verbessert werden. Darüber hinaus sollten Subventionen wie die Pendlerpauschale, die die Außenentwicklung begünstigen, abgebaut werden (vgl. UBA 2022).

Kommunen machen es vor

Dass es auch anders geht, zeigen eine Reihe von Beispielen, die Böcker et al. (2020) im Rahmen der Publikation „Wie wird weniger genug? Suffizienz als Strategie für eine nachhaltige Stadtentwicklung” zusammengetragen haben.

Zum einen können Kommunen eine aktive Bodenpolitik praktizieren, wie es die Städte Ulm und Tübingen tun. Durch das vorausschauende Ankaufen von Flächen sichert sich die Stadt Ulm weitreichende Gestaltungs- und Handlungsmacht. In Tübingen werden Grundstücke und Baurechte anhand des besten Konzeptes statt des höchsten Preises vergeben. Auf diese Weise wirken die Kommunen noch stärker gestalterisch an der Stadtgestaltung mit und können sich für sozial und ökologisch nachhaltige und vor allem flächensparende Lösungen auf diesen Arealen entscheiden (vgl. Böcker et al. 2020). 

Zum anderen können Städte durch eine bewusste Quartiersentwicklung zur Schonung des Flächenverbrauchs beitragen, wie es das Beispiel eines Wohnquartiers in Flensburg zeigt. Bei der Entwicklung wurde dort dezidiert ein geringer Ressourcen- und Flächenverbrauch angestrebt, indem möglichst wenig Fläche versiegelt wird, Frei- und Dachflächen multifunktional genutzt werden, auf flexible Grundrisse geachtet wird und eine geringe Pro-Kopf-Wohnfläche zur Verfügung steht (vgl. BBSR 2023; Böcker et al. 2020; Stadt Flensburg 2023). 

Auch in anderen Bereichen, wie dem Verkehr oder dem Einzelhandel, können Kommunen Maßnahmen ergreifen. In der Stadt Siegen wurde z. B. ein jahrelang existierender Parkplatz für etwa 200 Pkw zurückgebaut und ein begrüntes Flussufer geschaffen. Die Stadt Ravensburg hingegen hat beschlossen, den Einzelhandel nicht am Stadtrand anzusiedeln. Stattdessen soll die Attraktivität der Innenstadt, z. B. durch ein kostenloses Busangebot und vergünstigte Parkplätze, gesteigert werden. Infolgedessen werden leerstehende Gebäude wieder genutzt und es müssen keine neuen Flächen in Anspruch genommen werden (vgl. Böcker et al. 2020).

Akzeptanz von Veränderung

Unbestreitbar ist das politische Ziel einer Verminderung des Flächenverbrauchs ökologisch richtig und wichtig. Doch obwohl es gute Ansätze und Beispiele gibt, gestaltet sich die praktische Umsetzung vielerorts wie so häufig schwierig. Einige politische Stellschrauben und Ansätze wurden dazu in diesem Beitrag umrissen. Ausgehend vom Status quo scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Zielvorstellung, in weniger als 30 Jahren eine Flächenkreislaufwirtschaft zu erreichen, illusorisch. Umso mehr ist jedoch zu hoffen, dass zügig überall in der Republik suffizienzgetriebene Flächennutzungskonzepte Einzug erhalten, die nicht nur punktuelle Leuchtturmprojekte realisieren, sondern systematische und stetige Prozesse im Sinne eines schonenden Umgangs mit der Ressource Boden ermöglichen. 

Insbesondere der anhaltend große Wohnflächenverbrauch zeigt an dieser Stelle deutlich, dass es mehr denn auch auf die individuelle Bereitschaft der Bürger*innen ankommen wird, die eigenen Lebensroutinen zu hinterfragen und Veränderungen zuzulassen.

Literaturverzeichnis

Architektenkammer Baden-Württemberg (2022): Suffizienz: Schlüssel zu mehr nachhaltigem Wohnraum. online unter: https://www.akbw.de/themen/nachhaltigkeit-klima/suffizienz-schluessel-zu-mehr-nachhaltigem-wohnraum. (letzter Aufruf: 19.02.2024, 16:09 Uhr).

Böcker, Maike/ Brüggemann, Henning/ Christ, Michaela/ Knak, Alexandra/ Lage, Jonas/ Sommer, Bernd (2020): Wie wird weniger genug? Suffizienz als Strategie für eine nachhaltige Stadtentwicklung. online unter: https://www.nachhaltige-zukunftsstadt.de/downloads/Wie_wird_weniger_geung_2021.pdf. (letzter Aufruf: 22.02.2024, 16:46 Uhr).

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (2023): Unterstützung von Suffizienzansätzen im Gebäudebereich. online unter: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/bbsr-online/2023/bbsr-online-09-2023-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=2. )letzter Aufruf: 21.02.2024, 13:08 Uhr).

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) (2023): Flächenverbrauch – Worum geht es? online unter: https://www.bmuv.de/themen/nachhaltigkeit/strategie-und-umsetzung/reduzierung-des-flaechenverbrauchs#:~:text=T%C3%A4glich%20werden%20in%20Deutschland%20rund,engeren%20Wortsinn%20nicht%20%22verbrauchen%22. (letzter Aufruf: 15.02.2024, 16:13 Uhr).

Deutsche Bundesregierung (2018): Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie. Aktualisierung 2018. online unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975274/1546450/65089964ed4a2ab07ca8a4919e09e0af/2018-11-07-aktualisierung-dns-2018-data.pdf?download=1. (letzter Aufruf: 22.02.2024, 9:15 Uhr). 

Deutscher Städtetag (2021): Nachhaltiges und suffizientes Bauen in den Städten. online unter: https://www.staedtetag.de/files/dst/docs/Publikationen/Weitere-Publikationen/2021/handreichung-nachhaltiges-suffizientes-bauen.pdf. (letzter Aufruf: 21.02.2024, 17:20 Uhr).

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