Suffizienz im Quartier – Anregungen für kommunale Akteure

Brände in Kalifornien, Überschwemmungen in Saudi-Arabien, im vergangenen Sommer Starkregen in Deutschland – die Klimakrise ist in den Nachrichten und unserer Umgebung allgegenwärtig. Viele Menschen verspüren den Wunsch, ein suffizienteres Leben zu führen, das sich innerhalb der planetaren Grenzen bewegt und unsere Erde schützt. 

Doch die Vorstellung, den gesamten Alltag und das eigene Konsumverhalten radikal auf den Kopf zu stellen, hält viele davon ab, es zu versuchen. Die Aussicht, sich spontan drastisch verändern zu müssen, wirkt überfordernd und abschreckend. Dabei können bereits kleine Veränderungen und Aktionen im eigenen Kiez einen Beitrag zur ökologischen Transformation unserer Städte leisten. Die steigende Umweltqualität trägt wiederum zu einer höheren Lebensqualität im Quartier bei und gemeinsame ehrenamtliche Anstrengungen fördern zugleich das soziale Miteinander sowie den lokalen Zusammenhalt.

Kommunen als Ermöglicher
Nicht immer kann dies jedoch vollständig selbstorganisiert gelingen. Sicherlich man kann sich in der Nachbarschaft, mit Freund*innen und Bekannten über eine zukunftsgerechte Reiseplanung austauschen oder Gartengeräte gemeinsam nutzen. Doch sobald es noch handfester werden soll, braucht es schnell dauerhafte Räumlichkeiten oder Flächen und eine grundlegende Ressourcenausstattung, um Mikroprojekte wie bspw. einen Gemeinschaftsgarten im Quartier dauerhaft umzusetzen. Hier können kommunale Akteure wie Fachämter, aber auch Wohnungsbaugesellschaften und lokale Organisationen eine wichtige Rolle einnehmen und gleichzeitig selbst von den Ergebnissen profitieren.

Anregungen und konkrete Projektvorschläge, wie diese „Rolle eines Ermöglichers“ aussehen kann und welche kommunalen Akteur*innen dafür infrage kommen, bietet die kürzlich erschienene Handreichung SUPRA-STADT-Toolbox. Sie wurde im Rahmen des gleichnamigen Projektes vom Institut für Energie und Umweltforschung Heidelberg (IFEU) entwickelt.

Sie stellt fünf Projektideen detailliert vor, mit denen ein Beitrag zu einer partizipativen sozial-ökologischen Transformation im Quartier geleistet werden kann. Dabei wird anschaulich erklärt, welche Akteur*innen als Initiator*innen und Träger*innen des Projektes infrage kommen, wer die Zielgruppen und Profiteur*innen des Vorhabens sein können, wie die Vorhaben exemplarisch umgesetzt werden können und mit welchem Ressourcenaufwand zu rechnen ist.

Suffizienz im Quartier stärken 
Exemplarisch sollen nachfolgend drei Beispiele aus der Handreichung zur Verdeutlichung vorgestellt werden:

Gemeinsam Gärtnern im Quartier ist ein längerfristig angelegtes Projekt. Im Rahmen von Workshops und Mitmachaktionen rund um den naturnahen Anbau erlernen die Teilnehmenden grundlegende gärtnerische Kompetenzen und betätigen sich gemeinsam beim Bestellen von Beeten, Unkraut jäten und natürlich der Ernte. Ziel ist es einerseits, unmittelbaren Zugang zu frischen und gesunden Lebensmitteln wie Obst und Gemüse zu ermöglichen. Andererseits werden tragfähige Strukturen durch die weitgehend selbstorganisierte Bewirtschaftung der genutzten Flächen geschaffen, der soziale Zusammenhalt,  die nachbarschaftliche Vernetzung und das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei den Beteiligten gestärkt. Das Projekt kann von Wohnungsgesellschaften, kommunalen Akteur*innen und Ämtern aber auch Stadtentwicklungsbüros ins Leben gerufen und betreut werden.

Fahrrad fahren ist gesund und gut bekanntlich gut für die Umwelt. Doch was tun, wenn der alte Drahtesel defekt ist? Die Idee der Rad-Checks setzt hier an. Sie fördern nachhaltige Mobilität, indem im Quartier kostenlose, regelmäßige Reparaturangebote für Fahrräder gemacht werden. Die Teilnehmenden lernen unter Anleitung von Freiwilligen, selbstständig kleinere Reparaturen durchzuführen, wodurch sie nicht nur Geld sparen, sondern auch neue Fähigkeiten erwerben. Neben dem Spaß am Selbermachen steht auch bei diesen Aktivitäten der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund – denn das informelle Lernen stärkt zugleich den Zugehörigkeitssinn im Quartier. 

Das Format der Klimanachbarschaft umfasst eine mehrteilige Veranstaltungsreihe, die Themen wie nachhaltige Ernährung, Mobilität, Energie und Konsum aufgreift. Ziel ist es, den Teilnehmenden zu zeigen, wie sie ressourcenschonendes Verhalten in ihren Alltag integrieren können. Beispiele aus der Praxis reichen von Repair-Cafés über Workshops zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung bis hin zu Mitmachaktionen wie der „Naturwerkstatt“, in der Kinder spielerisch nachhaltige Praktiken entdecken. Ein zentrales Element der Klimanachbarschaft sind regelmäßige offene Treffen, wie etwa ein Klimacafé, das Raum für Austausch und Reflexion bietet. Hier können Nachbar*innen auch praktische Tools wie CO₂-Fußabdruckrechner nutzen, um ihren eigenen Beitrag zum Klimaschutz zu ermitteln. Die Veranstaltungen können beispielsweise von Vereinen oder Akteur*innen des Bildungsbereichs durchgeführt und individuell auf die Bedarfe im jeweiligen Kiez angepasst werden.

Gemeinsam mehr bewegen
Die in der Publikation SUPRA-STADT-Toolbox vorgestellten Projektideen sind ein schöner Beleg für die Möglichkeiten, die Kommunen mit relativ wenig Ressourcenaufwand haben, um Menschen im Quartier bei der Erprobung suffizienter Verhaltensveränderungen zu unterstützen. Sie zeigen zudem, dass derartige Vorgaben eine doppelte Rendite erwirtschaften: Sie stärken den sozialen Zusammenhalt und leisten einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Ein Gewinn für die Kommunen und ihre Bewohner*innen.

Gutes Leben, fair verteilt: Warum Suffizienz uns weiterbringt

Der Januar 2025 war der wärmste jemals global gemessene. Die ermittelte Durchschnittstemperatur lag 1,75 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Dass es sich hierbei nicht um einen Ausreißer handelt, zeigt ein kürzlich erschienener Bericht des Expertenrats für Klimafragen. Er macht deutlich, dass die bisherigen deutschen Maßnahmen nicht ausreichen werden, um die Klimaziele zu erreichen. Dies führt eindrücklich vor Augen, dass es neuer Ansätze und Strategien bedarf. Doch wie könnten diese aussehen?

Einen möglichen Lösungspfad skizziert die Arbeit des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), einem unabhängigen Gremium, das die Bundesregierung in umweltpolitischen Fragen berät. Dieser veröffentlichte im März 2024 dazu ein Thesenpapier mit dem Titel „Suffizienz als „Strategie des Genug“: Eine Einladung zur Diskussion“

Basierend auf der oben genannten Veröffentlichung hielten Mitarbeiter*innen bzw. Mitglieder des SRU unlängst zwei Vorträge. Am 27. Januar sprach Prof. Dr. Wolfgang Lucht im Münchner Forum für Nachhaltigkeit über „Suffizienz und ökologische Demokratie: Innerhalb der planetaren Grenzen leben“. Nur wenige Tage später, am 30. Januar, veranstalteten Dr. Julia Michaelis und Bendix Vogel im Rahmen der Initiative Klimagerecht Leben ein Suffizienz-Webinar – ein erster Auftakt für die vom SRU angestrebte breite Debatte.

Im Folgenden sind die wichtigsten Erkenntnisse aus beiden Vorträgen zusammengefasst.

Warum brauchen wir Suffizienz?

Nach Ansicht der Referent*innen leben heutige Industrie- und Konsumgesellschaften weit über ihre ökologischen Verhältnisse hinaus, was bereits deutliche Auswirkungen habe. So gelten aktuell sechs der neun planetaren Grenzen als überschritten, wodurch auch das Risiko einer Destabilisierung des Klimas und der Ökosysteme weiter ansteige. Der bislang vorherrschende Fokus auf Effizienzsteigerungen zu Lasten von Konsistenz- und Suffizienzbemühungen werde laut SRU allein nicht ausreichen, um effektiv gegenzusteuern. Zudem zeige die Praxis, dass Effizienzstrategien anfällig für Reboundeffekte seien: So komme es durch Effizienzsteigerungen zwar zu Einsparungen von Energie oder Ressourcen, allerdings bewirkten dadurch entstehende Vorteile wie Kosteneinsparungen, dass Endverbraucher*innen dazu neigen, mehr zu verbrauchen. 

Der SRU sieht Suffizienzbemühungen daher als zentralen Bestandteil eines gesellschaftlichen Wandels, der nötig sei, um innerhalb der planetaren Grenzen zu bleiben. Deutschland trage als hoch entwickeltes Industrieland eine besondere Verantwortung für die ökologischen Missstände. Das faire CO₂-Budget zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad, sei bereits überschritten. Zwar sinken die Emissionen langsam, doch das erforderliche Reduktionsniveau sei noch längst nicht erreicht.

Auf sozialer Ebene führe dieses Verhalten und die aktuellen Strukturen nach Einschätzung des SRU zu einem moralischen Dilemma: Für den hohen Emissionsausstoß seien vor allem wohlhabende Bevölkerungsschichten im globalen Norden verantwortlich, am meisten würden allerdings vulnerable Bevölkerungsgruppen im globalen Süden unter den Umweltkrisen leiden. So emittiere Afrika beispielsweise nur 4 Prozent aller globalen CO2-Emissionen, sei allerdings besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen. Diese Ungleichheit zwischen Verursachern und Betroffenen widerspricht laut Prof. Dr. Lucht den europäischen Werten von Gleichheit und Solidarität. Letztlich sei Suffizienz eine Frage der Menschenrechte: Der moralische Mindestanspruch müsse es sein, nicht auf Kosten anderer zu leben. „Und zwar geht es eigentlich um ein Leben in Würde für alle, letztlich nicht nur für andere, sondern auch für uns“, fasst es der Experte zusammen.

Wege zur Veränderung

Die Referent*innen betonten: Um den ökologischen und sozialen Herausforderungen zu begegnen, sei eine grundlegende Transformation gesellschaftlicher Handlungsmuster notwendig. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssten gemeinsam Lösungen entwickeln, um eine lebenswerte und gerechte Zukunft zu sichern. Prof. Dr. Lucht betonte die Notwendigkeit der Entwicklung konkreter politischer Maßnahmen auf systemischer Ebene, die suffiziente Verhaltensweisen ermöglichen und attraktiv machen. Gleichzeitig könnten umweltschädigende Aktivitäten stärker besteuert werden, schlug Dr. Michaelis vor. 

Doch eine solche Veränderung dürfe nicht auf Kosten individueller Freiheiten gehen – vielmehr müsse sie darauf abzielen, Rechte und Ansprüche in ein faires Gleichgewicht zu bringen. Genau hier setze Suffizienz an: Ihr Ziel sei es, zu verhindern, dass der ressourcenintensive Lebensstil einiger auf Kosten anderer gehe und Menschen dadurch in ihren Rechten und Freiheiten eingeschränkt würden. Der Gesetzgeber trüge die Verantwortung, diesen Ausgleich zu gewährleisten – nicht nur zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch mit Blick auf zukünftige Generationen. Maßnahmen zur Suffizienz, insbesondere Beschränkungen oder Verbote, müssten jedoch gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Dr. Lucht sieht diese große Transformation als Aufgabe der Demokratie: „[Sie] muss beweisen, dass sie das kann, sonst hat Demokratie versagt an einer historischen Menschheitsaufgabe; den Planeten zu stabilisieren [und] die Umwelt für nachfolgende Generationen […] zu bewahren.”

Wirtschaftliche Herausforderungen

Nach Auffassung des SRU basiere das aktuelle Wirtschaftssystem auf stetigem Wachstum – mit immer weiter steigendem Ressourcenverbrauch von beispielsweise Wasser und Düngemitteln. Stoffströme seien häufig linear und nicht zirkulär, und würden so Ressourcen und Energie verschwenden. „Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt unmöglich“, wurde als eine der Kernaussagen deutlich. Dies erfordere ein Umdenken bestehender Strukturen. Da individuell nachhaltige Konsumentscheidungen durch komplexe Strukturen in Herstellungsprozessen oder Lieferketten erschwert würden, müsse hier eine klare staatliche Regulierung erfolgen. 

Prof. Dr. Lucht und Dr. Michaelis plädieren aufgrund dessen für ein neues Wohlfahrtsverständnis, das über rein materiellen Konsum und das Bruttoinlandsprodukt hinausgeht. Aspekte wie Umweltqualität, soziale Gerechtigkeit und Bildungschancen seien mögliche Indikatoren, um das Wohlergehen der Bürger*innen zu veranschaulichen. Auch kulturelle Leitbilder und gesellschaftliche Normen können suffiziente Verhaltensweisen fördern – etwa durch Lifestyle-Bewegungen wie Radfahren oder eine pflanzenbasierte Ernährung. Eine weitere Option für suffizientes Handeln im Privatbereich liege in der Flächennutzung. Häuser auf Brachflächen zu bauen, statt auf grünen Wiesen oder je nach Bedarf in eine kleinere Wohnung zu ziehen, nannten Dr. Michaelis und Herr Vogel als nachhaltige Praktiken.

Fazit
Die SRU-Vorträge zeigten: Suffizienz als „Strategie des Genug“ kann ein entscheidender Ansatz sein, um ökologische und soziale Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Um effektiv zu wirken, brauche es jedoch aus Sicht der Referent*innen ein besseres Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft als bislang. Ein offener und kontinuierlicher Dialog über Suffizienz sei zudem entscheidend, um bestehende Konzepte weiterzuentwickeln und gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema aufzubauen. 

Insgesamt wurde übergreifend deutlich: Suffizienzstrategien bieten großes Potenzial für eine gesellschaftliche Transformation hin zu einer ressourcenschonenden, umweltschützenden und zugleich gerechteren Zukunft. Dazu muss das Thema jedoch vermehrt auf struktureller und systemischer Ebene in den Fokus genommen werden und nicht bloß auf der Ebene des Individuums. Der Einsatz kann sich lohnen: Es winkt ein Leben in Würde für alle Menschen innerhalb der planetaren Grenzen. 

Rezension: „Earth for All Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle“

Wie können wir die Klimakrise auf demokratischem Wege lösen, und welche Verantwortung fällt dabei auf Deutschland? Was verbindet die Klimakrise mit sozialer Gerechtigkeit? Was sind realistische Maßnahmen in Klima- und Sozialpolitik und welche Auswirkungen könnten diese global haben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das 2024 vom Club of Rome und dem Wuppertal Institut veröffentlichte Buch „Earth for All – Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle“. 

Hintergrund

Earth 4 All ist eine internationale Initiative, beauftragt durch den Club of Rome, mit dem Anspruch, ganzheitliche Lösungsansätze zu fördern, welche die Klimakrise, Ressourcenknappheit, soziale Ungleichheiten und vor allem die Verknüpfungen zwischen diesen Herausforderungen betrachten. Mithilfe von Computermodellen werden potenzielle Zukunftsszenarien errechnet. Die 2022 in dem Buch „Earth for All – A Survival Guide for Humanity“ veröffentlichten Ergebnisse stellten zwei mögliche Handlungsvorgehen und deren globale Auswirkungen vor. Der „Giant Leap (GL)“ und „Too Little Too Late (TLTL)“ sind zwei konträre Zukunftsszenarien. Eine radikale Kehrtwende in kurzer Zeit (GL), die zu einem Abschwächen der Klimakrise und Steigern des Wohlergehens führt, oder ein Weiterführen des bisherigen Kurses (TLTL), wodurch Fortschritte zu langsam erzielt werden, um zu einer globalen Transformation zu führen.

Szenarien für Deutschland

Der Bericht „Earth for All – Deutschland“ wendet diese Modellierungen nun auf Deutschland an und will praktische Lösungen spezifisch für den deutschen Kontext liefern. Für ein Gelingen des Giant Leap hin zur „Wohlergehensgesellschaft für alle“ benennt das Buch zunächst grundsätzlich fünf ausschlaggebende und sich beeinflussende Ansatzpunkte: Überwindung der Armut, Abbau von Ungleichheit, Empowerment von Frauen, Gewährleistung von Ernährungs- und Energiesicherheit. Diese werden anschließend nacheinander erörtert und anhand der deutschen Gegebenheiten in den nationalen Kontext überführt. Es wird umfassend erläutert, wieso im deutschen Fall die Überwindung der wachsenden sozialen Ungleichheit [inkl. wachsender (Energie-)Armut] von zentraler Bedeutung für eine erfolgreiche Politik gegen den Klimawandel ist und welche Bedeutung einem fehlinterpretierten Freiheitsverständnis an dieser Stelle zukommt, das lediglich egoistische Verhaltensmuster begünstigt. 

Wiederkehrende und zentrale Themen sind sodann die globale Verantwortung Deutschlands und seine potentielle Vorbildrolle in der Welt, die Notwendigkeit eines systemischen Wandels anstatt unkoordinierter Einzelmaßnahmen, die Gefahr einer Erosion der politischen Stabilität, die Berücksichtigung von sozialer Gerechtigkeit und Ressourcenverteilung bei klimapolitischen Maßnahmen sowie Möglichkeiten und Grenzen einer nachhaltigen Wirtschaft. Anhand typischer Momente im alltäglichen Leben von fünf Menschen im Jahr 2045 beschreibt das Buch außerdem in kurzen fiktiven Storys an mehreren Stellen die Auswirkungen der Szenarien TLTL und GL. Dies trägt dazu bei, die möglichen Auswirkungen auf der Mikroebene zu versinnbildlichen und fördert die Anschaulichkeit. 

Blick auf das Buch durch die Suffizienzbrille

Das Buch verzichtet dabei auf eine dezidierte Unterteilung und separate Betrachtung der drei Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Die entwickelten Ansätze lassen sich jedoch erkennbar den jeweiligen Ansätzen zuordnen bzw. kombinieren diese. Die bisweilen stiefmütterlich behandelte Suffizienz findet dabei erfreulicherweise ebenfalls Beachtung. So wird kontinuierlich die Verantwortung Deutschlands im globalen Kontext hervorgehoben. Da Deutschland als ein Land des globalen Nordens einen entscheidenden Anteil der globalen CO2-Emissionen verursache, sei dementsprechend die Pflicht, zu einer Reduktion dieser beizutragen, höher. Doch auch innerhalb Deutschlands sei nicht jeder gleich verantwortlich.

Das Buch betont, dass die Verantwortung hier eindeutig auf der „Seite des Reichtums“ liege, da weniger Einkommen oft bereits zur sogenannten „Zwangssuffizienz“ führe. Die Autor*innen rufen zu einer deutlichen Reduktion des Konsums in Industrieländern wie Deutschland und in Privathaushalten der Besserverdienenden auf. Hier kommt das Konzept der Suffizienz zum Tragen: Anstatt unendlich zu wachsen und immer mehr zu konsumieren, wird ein Fokus auf „Genug“ und „Weniger“ gelegt. Das Buch betont, dass ein GL nicht ohne Verzicht machbar sei. Ansatzpunkte können laut der Autor*innen in der Vermeidung übermäßig vieler Flüge, dem Konsum billigen Fleischs und der vorrangigen Gestaltung autogerechter Städte liegen. Hierzu brauche es zugleich neue Modelle der Ressourcennutzung und eine Förderung alternativer Lebensstile. Um eine Reduktion des Überkonsums und eine nachhaltige Umverteilung der Ressourcen zu erreichen, schlägt das Buch verschiedene Werkzeuge wie bspw. ein KlimageldPlus vor. Dieses Konzept sieht vor, einen Teil der durch CO2-Steuern eingenommenen Gelder, wieder an alle Bürger*innen zurückzuzahlen, um die sich erhöhenden Kosten, besonders für einkommensschwächere Haushalte, auszugleichen. Obwohl alle den gleichen Betrag erhalten, finde gleichzeitig eine Umverteilung statt, da „Reiche“ aufgrund ihres höheren ökologischen Fußabdruckes tendenziell mehr einzahlen würden, als sie möglicherweise ausgezahlt bekämen. Ärmere Haushalte hingegen würden wegen ihres geringeren Verbrauchs weniger einzahlen, erhielten also anteilig mehr zurück.

Auch bei der Erörterung des Themas einer notwendigen Ernährungswende findet sich der Leitgedanke der Suffizienz. Hier wird erläutert, dass es wichtig sei, sich wieder zu entfernen von dem Konzept der vollen Supermärkte, in welchen alles zu jeder Zeit verfügbar ist. Stattdessen solle ein saisonales und regionales Angebot die Norm sein, worin sich Anschlusspunkte an die Suffizienzforderung einer Entflechtung erkennen lassen. 

Eine besondere Rolle spiele Suffizienz schließlich bei der Energiewende. Diese könne nur mit drei zugleich durchgeführten Lösungsstrategien gelingen: einer Steigerung der Energieeffizienz, dem Ausbau erneuerbarer Energien sowie der Förderung suffizienter Lebensstile. Obwohl das Buch die ersten beiden Lösungsstrategien erkennbar höher priorisiert, wird die Unabdingbarkeit von Suffizienz betont. Technisch fokussierte Konsistenz- und Effizienzstrategien allein seien nicht ausreichend, vor allem dann nicht, wenn der Energieverbrauch nicht sinke und weiterhin Energie verschwendet werde.

Doch wie lässt sich Suffizienz erreichen? Auch hierfür bietet das Buch nur indirekt Lösungen an. So brauche es zur Veränderung der gesellschaftlichen Konsummuster nicht nur individueller Verhaltensänderungen, sondern entsprechender politischer Weichenstellungen. Da nicht-nachhaltige Entscheidungen oftmals die bequemeren seien, müsse es die Politik durch gezielte Anreize und Gebote erleichtern, suffiziente Entscheidungen zu treffen (Ermöglichungskultur). Umgekehrt sollten ökologisch nachteilige Entwicklungen, wie etwa ressourcenverschwendender Luxuskonsum, bspw. mittels gezielter Besteuerung unattraktiv gemacht werden. Solche Suffizienzstrategien würden im Kleinen bereits umgesetzt, seien jedoch laut den Autor*innen flächendeckend in allen Themenbereichen notwendig und müssten sich in ein kohärentes Gesamtdesign fügen.

Fazit

Das Buch „Earth for All Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle“ ist definitiv eine lesenswerte Publikation. Mit ausführlichen Erklärungen, vielen Beispielen und zahlreichen Belegen wird überzeugend argumentiert, dass wir vor großen ökologischen und sozialen Herausforderungen stehen, ohne jedoch das Gefühl einer Ausweglosigkeit zu nähren. Vielmehr entsteht bei der Lektüre des Buchs trotz der klaren Darstellung der akuten Probleme insgesamt ein positiver Eindruck von Machbarkeit. Es wird jedoch eines raschen und tiefgreifenden Umdenkens in Politik und Gesellschaft brauchen – angefangen bei Beiträgen eines jeden Einzelnen. Die Autor*innen machen dazu am Ende Vorschläge, wie diese aussehen können und schließen mit den passenden Worten: „Wir können gemeinsam handeln, für eine Welt für alle.“

Veranstaltungsbericht: Symposium zum Buch

Am 5. Februar fand in Berlin das Symposium „Deutschland hat die Wahl: Perspektiven der sozial-ökologischen Wende für die Zukunft“ statt, organisiert vom Club of Rome, Wuppertal Institut und oekom Verlag. Politische Entscheidungsträgerinnen, Wissenschaftlerinnen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft diskutierten die Herausforderungen und Chancen mutiger Politik. Grundlage war das Buch „Earth for All Deutschland“, das 50 Jahre nach „Die Grenzen des Wachstums“ einen gesellschaftlichen Sprung fordert.

Nach einer Einführung zur Initiative „Earth for All“ folgten parallele Sessions zu den sechs zentralen Kehrtwenden des Projekts. Die zufällig zugeordneten Gruppen entwickelten interdisziplinäre Perspektiven, etwa zur Verbindung von Ernährungs- und Energiewende, und formulierten Fragen für das anschließende politische Panel.

Im Panel diskutierten Andreas Audretsch (Grüne), Annabel Schumacher (SPD.Klima.Gerecht), Berthold Schilling (Klima-Union), Thomas Fricke (Forum New Economy) und Barbara Metz (Deutsche Umwelthilfe), wie Bürger*innen in Transformationsprozesse einbezogen und notwendige politische Maßnahmen umgesetzt werden können. Ein Mitschnitt ist auf YouTube verfügbar: youtube.com/live/mSj-2OxFZj4

Zum Abschluss betonte Peter Hennicke, ehemaliger Präsident des Wuppertal Instituts, die Dringlichkeit der Herausforderungen, zeigte aber auch Hoffnung und Wege zur erfolgreichen Transformation auf. Das Symposium lieferte wertvolle Impulse für eine nachhaltige Zukunft.

Buchinformationen

Autor*innen: Manfred Fischedick, Peter Hennicke, Till Kellerhoff, Monika Dittrich, Hans Haake, Lena Hennes, Jacqueline Klingen, Nathalie Spittler, Oliver Wagner sowie Ilona Koglin und Marek Rohde
Titel: Earth for All Deutschland. Aufbruch in eine Zukunft für Alle
Herausgeber*innen: Club of Rome, Wuppertal Institut
Verlag: oekom
ISBN: 978-3-98726-111-4
Softcover, 320 Seiten
Erscheinungstermin: 14.10.2024

Maßvolles Wirtschaften: Unternehmerische Strategien für eine nachhaltige Zukunft

In einer Welt, in der wir uns den planetaren Grenzen immer weiter nähern und die zunehmend von Konsum und Expansion geprägt ist, gewinnt das Konzept der Suffizienz und des maßvollen Wirtschaftens immer mehr an Bedeutung. Das Forschungsteam rund um Dr. Maike Gossen von der TU Berlin geht in dem Projekt „Maßvoll wirtschaften: Unternehmerische Strategien für gemeinwohlorientierte Konsum- und Produktionsmuster“ der Frage nach, wie verbreitet Strategien und Geschäftsmodelle sind, die den Ressourcenverbrauch durch Konsum und Produktion reduzieren. Ziel ist es, herauszufinden, welche Herausforderungen bei der Umsetzung von maßvollem Wirtschaften und welche Skalierungsansätze in der Praxis existieren.

Maßvolles Wirtschaften bedeutet, dass Unternehmen ihre Produktion und ihr Angebot auf das notwendige Maß begrenzen und ressourcenschonende Lebensstile erleichtern. Sie sind nicht auf maximales Wachstum und Profit ausgerichtet, sondern legen ihren Fokus auf das Gemeinwohl und eine nachhaltige Nutzung von Ressourcen. Nachhaltige Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz werden in Interviews und einer breiten Online-Befragung sowohl auf ihre internen Strategien wie die Begrenzung von Wachstumszielen und Produktionsvolumen als auch auf ihre externen Strategien wie das Vorhandensein von Reparaturangeboten und den Vertrieb langlebiger Produkte zur Förderung von Suffizienz untersucht.

Die Konflikte an der Schnittstelle zwischen suffizienzorientierten Geschäftspraktiken und Wachstumszwängen spielen dabei eine bedeutende Rolle, da das Streben nach ständigem Wachstum tief in der Wirtschaftsstruktur verankert ist und in direktem Widerspruch zu den Zielen des maßvollen Wirtschaftens steht. Die im Forschungsprojekt erstellte Literaturanalyse ergab, dass es für Unternehmen mit einem suffizienzorientierten Geschäftsmodell schwierig ist, sich gegen konventionelle Unternehmen zu behaupten, da Expansion und Gewinnmaximierung inhärente Triebkräfte des gegenwärtigen Wirtschaftssystems darstellen. Zusätzlich ist die Konsumkultur in vielen westlichen Ländern ein Hindernis, da sie von Materialismus und Überfluss geprägt ist und immer wieder neue Produkte und Dienstleistungen fordert, die oft nur von kurzer Lebensdauer sind. Viele suffizienzorientierte Unternehmen sehen diese Konsumkultur kritisch und nutzen ihre Kommunikation und Reichweite, um ein Bewusstsein für verantwortungsvollen Konsum zu schaffen.

Best-Practice-Beispiele

Obwohl maßvolles Wirtschaften erst wenig verbreitet ist, gibt es einige Beispiele die zeigen, dass es möglich ist, suffizienzorientiert wirtschaftend erfolgreich zu sein. Neben Fairphone und Patagonia vertreibt auch der Outdoor-Ausrüster Vaude langlebige Produkte, die sich durch Reparierbarkeit auszeichnen und bietet einen Mietservice für Outdoor Equipment. Auch Abonnement-Modelle als Beitrag zur Kreislaufwirtschaft sind denkbar, wie mit dem Programm Cyclon von der Schuhmarke ON.

Notwendige politische Unterstützung

Für eine breitere Implementierung suffizienzorientierter Geschäftsmodelle ist jedoch politischer Wille erforderlich. Im derzeitigen Markt sind nachhaltige Unternehmen oft benachteiligt , da konventionelle Unternehmen von Subventionen und steuerlichen Vorteilen profitieren. Eine politische Förderung könnte beispielsweise durch steuerliche Anreize für nachhaltige Geschäftsmodelle oder durch gesetzliche Maßnahmen wie Reparaturboni oder längere Produktgarantien möglich sein. Solche Anreize würden es Unternehmen erleichtern, auf langfristige, ressourcenschonende Produktionsmethoden umzusteigen. Darüber hinaus würde eine verstärkte Regulierung von nicht-nachhaltigen Praktiken durch Steuern auf Materialimporte oder den Transportweg helfen, die Rahmenbedingungen für suffizienzorientierte Geschäftsmodelle zu verbessern.

Fazit: Suffizienz als zukunftsfähiges Geschäftsmodell

Das Konzept der Suffizienz bietet Unternehmen die Möglichkeit nicht nur den Ressourcenverbrauch zu verringern, sondern auch eine nachhaltigere und gemeinwohlorientierte Wirtschaft zu fördern. Indem sich Unternehmen für Suffizienz und die Produktion langlebiger Produkte entscheiden, zeigen sie, dass sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind.

Am 25.11. hielt Dr. Maike Gossen im Rahmen der Ringvorlesung zum Klimaschutz an der TU Berlin einen Vortrag zum Thema „Unternehmerische Strategien zur Förderung von Suffizienz“. Die vollständige Vorlesung kann hier und auf YouTube angeschaut werden.

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Literaturverzeichnis

Halstenberg, Barbara (2024): Weniger ist mehr –
Interview mit Dr. Maike Gossen und Laura Niessen zu Suffizienz und Unternehmen. Technische Universität Berlin, keine Angabe. URL: https://www.tu.berlin/news/interviews/potenziale-suffizienzorientierter-unternehmen (letzter Aufruf: 16.12.2024, 16:09 Uhr).

Gossen, Maike (2024): Unternehmerische Strategien zur Förderung von Suffizienz. Technische Universität Berlin, 25.11.2024. URL: https://www.youtube.com/watch?v=q2JXCSvoF_c (letzter Aufruf: 16.12.2024, 12:09 Uhr).

Suffizienz in der Philosophiegeschichte

Wir kennen die drei großen Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Effizienz kommt aus dem technisch-ökonomischen Bereich und versucht den gleichen Output bei reduziertem Ressourceneinsatz zu realisieren. Auch Konsistenz verfolgt einen eher technischen Ansatz. Sie versucht, neue Stoffe zu entwickeln, die sich für eine Kreislaufwirtschaft eignen. Prominent ist die Cradle-to-Cradle Bewegung, bei der nicht die Konsumreduktion im Mittelpunkt steht, sondern die Errichtung eines Kreislaufs, in dem sich möglichst alle genutzten Produkte bewegen und in dem wenig bis keine Abfälle anfallen. 

Suffizienz geht einen anderen Weg. Sie versucht nicht, neue Wege für die Befriedigung von Bedürfnissen zu finden, sondern sie hinterfragt diese Bedürfnisse selbst (vgl. Eser 2015, 94). Sie kommt aus einer moralisch-philosophischen Denkrichtung. In der Nachhaltigkeitsstrategie ist die Suffizienz deutlich jünger als die Effizienz. Während Effizienz auf die Zeit der industriellen Revolution zurückgeht, entwickelte sich Suffizienz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt jedoch: Suffizienz ist kein neues Konzept. Schon in der Philosophie der Antike war Suffizienz, wenn auch nicht unter diesem Namen, ein prominentes Thema. Damals gab es Denker, die einen – nach heutigen Maßstäben – nachhaltigen Lebensstil propagierten. Welche Strömungen und Theorien über die Suffizienz sich im Lauf der Geschichte entwickelt haben, soll Inhalt dieses Beitrags sein. Dabei werden nur einige, besonders wichtige Schlaglichter gezeigt, denn das volle Ausmaß der philosophischen Geschichte der Suffizienz würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

Von der Antike zur Aufklärung: Die philosophischen Wurzeln der Suffizienz

Wir beginnen unseren Rundgang durch die Geschichte in der Antike. Eine der einflussreichsten philosophischen Schulen der Antike ist die der Stoa. Die Strömung ist eudaimonistisch ausgerichtet, das heißt, die ‚Frage nach dem guten Leben‘ steht im Zentrum ihres philosophischen Schaffens (vgl. Schnor 2015, 15). In der Philosophie der Stoa erreicht man das gute Leben vor allem durch Selbstbeherrschung und Lossagung von äußeren Einflüssen wie materiellen Besitztümern. Das Festhalten an Tugenden wie Weisheit, Mut, Gerechtigkeit und Besonnenheit steht im Zentrum. Noch heute begegnet uns die Lehre der Stoa, wenn wir das gleichmütige, beherrschte Verhalten eines Menschen als ‚stoisch‘ bezeichnen. Auch wenn Suffizienz als Begriff nicht in der Stoa verwendet wird, finden sich in der von ihr formulierten, genügsamen Lebensweise, die wenig Güter beansprucht, doch zahlreiche Anknüpfungspunkte. Sie entsagt nicht jeglichem Luxus, betont aber „materielle (…) Einfachheit“ (Schild 2021, 104), die Gefahr von Unbegrenztheit, und das Streben, nicht in Abhängigkeit von weltlichen Dingen, die sich jenseits der Tugenden befinden, zu geraten (vgl. Schnor 2015, 35).

Ein paar Jahrhunderte später, in der christlichen Theologie, die unseren „westlichen Gesellschaften prägend zugrunde liegt und sich auch durch die Narrative der Umweltbewegung zieht“ (Dallmer 2020, 177), spielt die Askese, also die Entsagung von weltlichen Gütern und die freiwillige Begrenzung von Bedürfnissen, eine zentrale Rolle im religiösen und philosophischen Denken. Versteht man die Askese als eine „Kunst und Technik (…) kontrollierter Lebensführung“ (Macho 2007, 1), wird sie nicht erlitten wie eine Krankheit, sondern “geübt und praktiziert wie die Verwendung eines Werkzeugs oder das Spiel eines Musikinstruments” (ebd.). Schon ab dem 4. Jahrhundert finden sich im katholischen Katechismus die vier Kardinaltugenden, wovon eine die Mäßigung ist. Diese taucht auch auf bei Thomas von Aquin, einem der bedeutendsten christlichen Philosophen des Mittelalters (Balthasar 2021). Mit der zur gleichen Zeit beginnenden Entstehung der Klöster entwickelte sich aus dem Konzept der Askese eine Lebensführung, die dem heutigen Verständnis von Suffizienz schon recht nahekommt. 

Klösterliche Gemeinschaften entwickelten neben persönlicher Enthaltsamkeit auch Praktiken der Selbstversorgung, die heute durchaus als nachhaltig bezeichnet werden könnten: Sie bauten Lebensmittel an, stellten Werkzeug und Kleidung selbst her und lebten weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen. Franz von Assisi nimmt hierbei eine wichtige Rolle ein. Als Begründer des Franziskanerordens legte er mit den Grundstein für ein christliches Suffizienzverständnis. In seiner zweiten Enzyklika ‚Laudato si‘ spricht der aktuelle Papst Franziskus im Jahr 2015 über Franz von Assisi als Vorbild „für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie“ (Heimbach-Steins/Lienkamp 2015, 159). 

Suffizienz in Religion und Gesellschaft: Von klösterlicher Askese bis zur Romantik

Interessanterweise finden sich auch in den anderen Weltreligionen, zum Beispiel dem Buddhismus, Ansätze, die ein suffizientes Leben jenseits von Eigennutz und Besitzdenken empfehlen. In der Lehre des achtfachen Pfades (auch mittlerer Weg genannt) werden Entschleunigung, Großzügigkeit und Selbstbegrenzung praktiziert (vgl. Folkers 2015, 9), die nicht nur Restriktion mit sich bringen, sondern das Potenzial in sich tragen, Kreativität und Produktivität freizusetzen (vgl. ebd., 10). Diese Perspektive zeigt eine spannende Parallele zur christlichen Idee der Bedürfnislosigkeit und verdeutlicht, wie in ganz verschiedenen Kulturen die Idee der Suffizienz zur Erreichung spiritueller Ziele verfolgt wurde und wird.

Anknüpfend an die christliche Tradition gehen wir als Nächstes in die Romantik mit ihrem prominenten Vertreter Jean-Jacques Rousseau. Er wirkte im 18. Jahrhundert und gilt als wichtiger Vordenker der Aufklärung und der Französischen Revolution. Im Kontext der Suffizienz argumentiert Rousseau mit der Idee der Einfachheit, der Romantisierung des Land- gegenüber des Stadtlebens und dem Ideal der Autarkie und Naturverbundenheit (vgl. Dallmer 2020, 70f; 165). Etwa 100 Jahre später, 1854, veröffentlicht Henry David Thoreau mit seinem Buch Walden ein Werk, in dem die Rückkehr zur Natur und das Entkommen aus einem Zustand, „in dem wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind” (Napp 2022) eine zentrale Rolle einnimmt. Thoreau gilt bis heute als Vorbild diverser Protestbewegungen, darunter der 68er-Bewegung, dem Civil Rights Movement oder auch Extinction Rebellion (vgl. ebd.). 

Suffizienz im 20. und 21. Jahrhundert: Nachhaltigkeit neu gedacht

Mit zunehmender Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter anderem geprägt durch die Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970ern, der Veröffentlichung der Studie Die Grenzen des Wachstums 1972, des Montreal-Protokolls 1987 sowie der Rio-Konferenz 1992 nahm die Idee der Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie neue Fahrt auf. Die Werke Small is beautiful von Ernst Schumacher (1973) und Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas (1979) ebnen den Weg für das Konzept der Suffizienz, wie wir es heute kennen. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Suffizienz erstmals 1993 von Wolfgang Sachs verwendet: „‘Effizienzrevolution’ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ‘Suffizienzrevolution’ begleitet wird. Nichts ist schließlich so irrational, als mit einem Höchstmaß an Effizienz in die falsche Richtung zu jagen.” (Sachs 1993, 2). Heute gelten vor allem Manfred Linz (Weder Mangel noch Übermaß, 2004), Serge Latouche (Farewell to Growth, 2009) und Niko Paech (Befreiung vom Überfluss, 2012) als bekannte Fürsprecher des Suffizienzkonzepts. 

Kritische Reflexion: Grenzen und Potenziale der Suffizienz heute und morgen

Ob nun aus Sicht der antiken Stoa, des mittelalterlichen Christentums oder aufklärerischer Philosophen, die Idee der Suffizienz muss stets auch kritisch betrachtet werden, ist sie doch nach wie vor ein äußerst idealistisches und voraussetzungsreiches Konzept, um den multiplen Krisen unserer Zeit entgegenzutreten. Sie schafft potenziell Raum für „autoritäre (Ökodiktatur) oder auch sozialdarwinistische Lösungen, wenn der Wert der Natur über den des (einzelnen) Menschen gestellt wird” (Dallmer 2020, 178). Mag die Suffizienz auch normativ plausibel sein, mangelt es doch „an Belegen, dass jemals eine Gesellschaft nach ihren Werten gelebt hat und die Menschen dies mehrheitlich als gutes Leben definiert haben” (ebd., 176). Deshalb muss Suffizienz stets mit realistischen politischen Umsetzungsmodellen zusammen gedacht werden. Diese Modelle zu finden und umzusetzen, gilt im Zuge des Fortschreitenden multipler ökologischer Krisen als eine der zentralen Aufgaben des 21. Jahrhunderts.

Literaturverzeichnis

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Dallmer, Jochen (2020): Glück und Nachhaltigkeit. transcript Verlag, Bielefeld. 

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Folkers, Manfred (2015): Suffizienz und Zufriedenheit – Buddhistische Motive für eine Kultur des Genug. Rohfassung eines Vortrags in der „Ringvorlesung zur Postwachstumsökonomie“ am 14.01.2015. URL: http://www.postwachstumsoekonomie.de/wp-content/uploads/2015-01-14_Folkers-Suffizienz-und-Zufriedenheit.pdf 

Heimbach-Steins, Marianne/ Lienkamp, Andreas (2015): Die Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus – Auch ein Beitrag zur Problematik des Klimawandels und zur Ethik der Energiewende. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 56 (2015), Aschendorff Verlag, Münster. 

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Schild, Kirstin (2021): Resonanz durch Suffizienz – Wie eine suffiziente Lebensweise Resonanz und somit ein gutes Leben befördert. Inauguraldissertation, Universität Bern.
URL: https://boristheses.unibe.ch/3028/1/21schild_k.pdf 

Schnor, Jannik (2015): Suffizienz und die Frage nach dem guten Leben – Betrachtungen von Suffizienz mithilfe von Konzeptionen des guten Lebens von Epikur und der Stoa. Leuphana Schriftenreihe Nachhaltigkeit und Recht, Leuphana Universität Lüneburg. URL: https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/ifus/professuren/energie-und-umweltrecht/Schriftenreihe/NR_-_Nr._11__Schnor___Suffizienz__Epikur-Stoa.pdf