Mobilität neu denken

Das Auto ist immer noch das beliebteste Fortbewegungsmittel – mal eben zum Bäcker, schnell zur Post und das zu jeder Tageszeit, wann immer es einem verlangt. Es überrascht daher nicht, dass es in Deutschland über 65 Millionen Autos gibt. 

Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamts im Jahr 2020 gaben 68 Prozent der Berufspendler*innen an, bei der Wahl des Beförderungsmittels zuerst auf das Auto zurückzugreifen – auch bei einem kürzeren Arbeitsweg. In einer Umfrage des Verbandes der Automobilindustrie gaben 76 Prozent der Befragten allerdings an, primär das Auto als Transportmittel zu nutzen. Es ist einfach am bequemsten und am schnellsten [6]. Die öffentlichen Verkehrsmittel nutzten hingegen nur 13 Prozent der Erwerbstätigen. Ähnlich sieht es beim Fahrrad als umweltfreundliche Alternative aus: Viele Wege ließen sich auch damit zurücklegen, jedoch fuhr nur jede*r zehnte Erwerbstätige regelmäßig mit dem Zweirad damit zur Arbeit [3,4]. Viele Bürger*innen greifen weiterhin in der Hoffnung auf das Auto zurück, die negativen Aspekte der Fortbewegung zu vermeiden, beispielsweise überfüllte Züge, häufiges Umsteigen oder unnötig längere Fahrtzeiten.

Verkehr einer Großstadt

Eine grundlegende Veränderung dieser Situation ist nicht zu erkennen: Vielmehr gab es bei den privaten Haushalten in den vergangenen zehn Jahre einen Trend zum Zweit- oder Drittwagen: Im Jahr 2010 kamen auf 100 Haushalte noch 102 Autos – im Jahr 2020 waren es ca. 108 Autos [3,4,5]. Verbrennermotoren machen den überwiegenden Anteil des Individualverkehrs aus. Demgegenüber mehren sich Stimmen, die mit Blick auf die deutschen Klimaschutzziele auf den großen Anteil von Kohlenstoffdioxidemissionen aus dem Verkehrssektor verweisen. 

Um die sich verschärfende Klimakrise einzudämmen, braucht es ein radikales, nachhaltiges Umdenken in der Bevölkerung und veränderte Mobilitätsstrukturen. Die Verwendung fossilbetriebener Verkehrsmittel trägt nicht nur dazu bei, die Klimakrise zu verschärfen, sondern verstärkt auch Gesundheitsrisiken, die durch die Emissionen von Stickoxiden, Feinstaub oder Kohlenstoffmonoxid im Straßenverkehr entstehen.

Weniger, ist mehr – auch in der Mobilität?

Eine weitere Herausforderung für eine nachhaltige Zukunft  in einer globalisierten Welt ist der anhaltend starke Konsum. Allerdings haben in den letzten Jahren erfreulicherweise viele Menschen angefangen, ihr Verhalten in dieser Hinsicht zu verändern. Sie achten nicht nur darauf, Ressourcen effektiver zu nutzen und sparsam einzusetzen, sondern auch weniger zu konsumieren.

Dieser Wandel auf der persönlichen Ebene, bei dem ein neues positives Gefühl der Genügsamkeit im Mittelpunkt steht, wird als Suffizienz bezeichnet. Übertragen wir das Konzept auf das Thema Mobilität, sollten wir darüber nachdenken, welcher Mobilitätsbedarf überhaupt nötig ist – und ggf. mit welchen Verkehrsmitteln er am besten gedeckt werden kann. 

Einer Veränderung der Mobilitätsmuster wohnen dabei ebenso positive Seiteneffekte inne, wie die starke Verwendung des PKW negative Implikationen mit sich bringt. Ein Spaziergang an der frischen Luft zum Supermarkt oder die Nutzung des eigenen Fahrrads zur Arbeit reduziert nicht nur die Treibhausgasemissionen, sondern fördert zusätzlich auch noch die eigene Gesundheit. Hinzukommt die voranschreitende Digitalisierung, die es ermöglicht, so manchen Weg überflüssig zu machen. So können nicht nur berufliche Meetings und Events, sondern auch gemeinsame Lerngruppen in der Schule oder Universität virtuell stattfinden. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, was digital möglich ist und welche Chancen sich daraus ergeben können. 

Dennoch sind persönliche Treffen immer noch die schönsten und um dorthin zu gelangen, bieten Sharing-Unternehmen eine gute Alternative zur Anschaffung eines eigenen Autos, Mofa, Motorrads, Fahrrads, Tret- oder E-Rollers. Diese können zeitgemäß und unkompliziert per App genutzt werden können. Stets bedeutet die gemeinsame Nutzung („Sharing“) eine bessere Auslastung vorhandener Güter und schont Ressourcen. 

Die Angebote werden dabei immer vielfältiger und besser verfügbar: Laut den aktuellen Angaben des Bundesverbands Carsharing stehen den Kund*innen dieser Dienste derzeit 26.220 Carsharing-Fahrzeuge zur Verfügung, welche auch immer häufiger genutzt werden [1]. Aber auch die Möglichkeit, sich bei Freund*innen, Bekannten oder der Familie ein Fahrzeug auszuleihen trägt zur Suffizienz bei. Und ist übrigens auch deutlich kostengünstiger.
Für nicht-motorisierte Fortbewegungsmittel wächst das Angebot und wurde jüngst auch um Möglichkeiten erweitert, mit denen auch größere Mengen transportiert werden können, wie das Beispiel der Lastenräder zeigt. Auch hier haben sich gerade in städtischen Regionen diverse Verleihdienste etabliert. 

Aber: Häufig haben vermeintlich ressourcenschonende Aktivitäten einen sogenannten Reboundeffekt. So erscheint beispielsweise das Streamen von Serien umweltfreundlicher als der Kauf von DVDs. Durch die Möglichkeit jederzeit Filme und Serien anzusehen, hat sich jedoch der durchschnittliche Filmkonsum pro Person erhöht – was zu einer Erhöhung im Stromverbrauch führte.

Dieser Effekt lässt sich aber auch in der Mobilität beobachten: Die Anschaffung eines energieeffizienteren Fahrzeugs kann beispielsweise dazu führen, dass Nutzer*innen längere Fahrstrecken zurücklegen (direkter Rebound-Effekt) oder die Ersparnisse für CO₂-intensive Flugreisen verwenden (indirekter Rebound-Effekt).

Effizienzsteigerungen können also bei Menschen zu Nutzungsveränderungen führen und bewirken, dass mögliche Einsparungen beim Einsatz von Ressourcen nicht voll ausgeschöpft werden. [7]

Mobilität im ländlichen Raum – große Hürden aber viele Lösungen

In städtischen Gebieten gehören diese Möglichkeiten mittlerweile zum alltäglichen Leben der Menschen dazu. Im ländlichen Raum ist der eigene PKW oftmals aber weiterhin unabdingbar, da es an Alternativen mangelt. Dort stößt der suffiziente Mobilitätsgedanke ganz schnell an seine praktischen Grenzen: Öffentliche Nahverkehrsangebote wurden ausgedünnt, sind häufig unzuverlässig und wenig attraktiv für jüngere Menschen. Fahrradwege sind, wenn überhaupt vorhanden, schlecht ausgebaut und die Wege sind lang. Als Konsequenz dieser Infrastruktur wird, neben dem ggf. elektrisch unterstützten Fahrrad, das Auto weiterhin die erste Wahl bleiben. Fahrgemeinschaften und der Ausbau des ÖPNV können hier Lösungen darstellen, um die Emissionen im Straßenverkehr zu reduzieren und darüber hinaus den Geldbeutel aufgrund geringerer Benzinkosten zu schonen. 

GREEN – eine Möbilitätstafel für den ländlichen Raum

Dieser Gedanke wird gegenwärtig auch im Projekt GREEN verfolgt. Das Vorhaben wird in Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Umweltstiftung und der Universität Kassel realisiert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Das Fördervorhaben legt seinen Schwerpunkt auf die Erprobung neuer digitaler Technologien auf der kommunalen Ebene zur Veränderung des Mobilitätsbewusstseins/-verhaltens bei gleichzeitiger Sicherung der individuellen Mobilität. Ziel ist es hierbei, u. a. Instrumente zu entwickeln, die Anreize für die Nutzung emissionsarmer Verkehrsmodi schaffen. Hierzu werden in den teilnehmenden bayrischen Kommunen Schöllkrippen, Mömbris, Kahl am Main und dem sächsischen Netzschkau digital gestützte Mobilitätsplattformen implementiert. Zusammen mit verantwortlichen Entscheider*innen wird ein zentraler Knotenpunkt bestimmt (z. B. ein Marktplatz oder eine örtliche Bushaltestelle), an dem eine digitale Mobilitätstafel angebracht wird.

Mitfahrtafel in einer Pilotkommune in Brandenburg

Sie ist mit einer Online-Anwendung verknüpft, in der Anwohner*innen einmalige und/oder regelmäßige private Mitfahrangebote eingeben können. Diese werden nicht nur in einem Online-Kalender angezeigt, sondern auch auf dem örtlichen Display selbst. Zum angegebenen Zeitpunkt fahren die Inserent*innen zur Mobilitätstafel und sammeln interessierte Mitfahrer*innen ein. So wird zukünftig die Bildung spontaner Fahrgemeinschaften erleichtert. In Kooperation mit lokalen Kulturstätten sollen auf dem Display zudem privat organisierte sowie arrangierte Fahrten zu den teilnehmenden Kulturstätten ermöglicht werden. Ziel ist es, den örtlichen Anwohner*innen einen verbesserten Zugang zu regionalen Kulturangeboten zu ermöglichen.

Technik allein löst das Problem nicht!

Suffizienz lädt uns ein, über unsere Bedürfnisse nachzudenken und diese auf kreative Weise zu befriedigen. Bezogen auf das Thema Mobilität bedeutet das, grundsätzlich über unsere Fortbewegung nachzudenken und zu hinterfragen, welche Wege notwendig sind. Dabei sollte auch betrachtet werden, welchen Mehrwert Entschleunigung bringen kann. Die voranschreitende Digitalisierung hat bspw. neue Möglichkeiten des Austauschs ermöglicht und macht so manche Fahrt überflüssig. 

Ob sich Konzepte wie die Mobilitätstafel im ländlichen Raum bewähren, wird sich zeigen. Es ist noch ein langer Weg, um etablierte Verhaltensroutinen zu ändern und die Mobilität nachhaltiger zu gestalten. Die vielerorts aufkeimenden innovativen Ideen und engagierten Menschen stimmen jedoch hoffnungsvoll, dass dies gelingen kann.

Quellenangaben 

[1] Bundesverband CarSharing, 2021: Aktuelle Zahlen und Fakten zum CarSharing in Deutschland. https://carsharing.de/alles-ueber-carsharing/carsharing-zahlen/aktuelle-zahlen-fakten-zum-carsharing-deutschland

[2] Deutschlandfunk, 2021: Steigende Benzinpreise: Es braucht einen Kulturwandel im Verkehrsbereich. https://www.deutschlandfunk.de/steigende-benzinpreise-es-braucht-einen-kulturwandel-im-100.html

[3] Statistisches Bundesamt, 2021: Pressemitteilung vom 15. September 2021: 68 % der Erwerbstätigen fuhren 2020 mit dem Auto. Abgerufen am 23.11.2021 von https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/09/PD21_N054_13.html

[4] Statistisches Bundesamt (2), 2021: Straßenverkehr: Dominanz des Autos ungebrochen. Abgerufen am 23.11.2021 von https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Verkehr/Auto.html 

[5] Tagesschau, 2021: Zahl der Autos pro Haushalt nimmt zu. Abgerufen am 23.11.2011 von https://www.tagesschau.de/wirtschaft/pkw-zulassung-zunahme-101.html

[6] Verband der Automobilindustrie, 2021: Mobilität und Verkehr – So denkt Deutschland. Abgerufen am 23.11.2021 von https://en.vda.de/de/services/Publikationen/mobilit-t-und-verkehr-%E2%80%93-so-denkt-deutschland.html

[7] Das Umweltbundesamt, 2014: Rebound-Effekte: Ihre Bedeutung für die Umweltpolitik. Abgerufen am 23.11.2021 von https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Forschungsdatenbank/fkz_3711_14_104_rebound_effekte_bf.pdf

Ökohumanismus und Suffizienz – das Gute Leben und unsere Zukunft in der Natur

Die (Un-)Ordnung unserer globalisierten, auf Egoismen beruhenden Welt führt zu immer mehr Ressourcenverbrauch und treibt ungebremst den Klimawandel voran. Nahezu täglich erreichen uns in diesem Zusammenhang neue Schlagzeilen über schwerwiegende Naturereignisse und Katastrophen aus der ganzen Welt. Schnell werden Mitgefühl und Hilfsangebote an Betroffene bekundet und Themen wie Klimawandel und Artensterben im öffentlichen Diskurs neu debattiert. Seitens Politik und Gesellschaft wird Besserung versprochen und die großen Fragen unserer Zeit sollen nun endlich angegangen werden. Diese tiefgreifenden Probleme lassen sich jedoch nicht mit alten Denkweisen lösen oder gar in Zukunft vermeiden. 

„Es geht nicht darum, irgendetwas zu tun, sondern das Richtige.

Das Ökohumanistische Manifest, 2021

Suffizienz kann hier das richtige Instrument sein. Es bietet mögliche Handlungsansätze, der Problematik der planetaren Grenzen durch Sparsamkeit im Umgang mit Ressourcen zu begegnen.

Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch das Ökohumanistische Manifest. Die Autoren Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer setzen hierbei dem alten Denken, das unsere multiplen Krisen verursacht, ihre im positiven Sinne radikale Philosophie des Ökohumanismus entgegen. 

„Das Ökohumanistische Manifest trifft den Kern heutiger Notwendigkeiten. Ich gratuliere!“

Ernst von Weizsäcker, Ehrenpräsident des Club of Rome

Ihr leidenschaftliches und Mut machendes Manifest verknüpft die Akzeptanz der planetaren Grenzen mit dem Ziel einer gerechten Welt. Es rückt den Menschen und seine Stärken in den Mittelpunkt der Debatte um die Ökologie und unsere Zukunft.

Das Ökohumanistische Manifest erschien am 13. Oktober 2021 im Hirzel Verlag.

Im Buch analysieren Sie die globalen Probleme ebenso wie die oft naiven Vorschläge zu ihrer Überwindung – und sie bieten ein ebenso einfaches, wie überzeugendes neues Denkmodell an, das im Grunde auf (nur) zwei Prinzipien beruht:

  • der Akzeptanz der ökologischen Grenzen und
  • dem universalen Menschenrecht auf ein Gutes Leben für Alle. Alles andere ergibt sich daraus – und führt zu fundamental neuen Konzepten von Wirtschaft, Politik und Religion.

Das Ökohumanistische Manifest in 10 Thesen

Grundlage der Publikation sind zehn zentrale Thesen. Sie stellen die Grundlagen des Ökohumanismus dar und hinterfragen sämtliche Prämissen, auf denen unsere moderne, globalisierte, rücksichtslose Art des Lebens und Wirtschaftens basiert. Ausführlich werden sie im Buch begründet, hier stellen wir sie kurz vor:

  1. Zwischen Mensch und Natur herrscht kein Widerspruch – Ein Freund der Erde ist ein Freund der Menschheit
  2. Die Weisheit ist in uns allen – Von und mit der Natur für den Menschen lernen
  3. Die Natur hat immer Recht – Naturgesetze sind nicht verhandelbar
  4. Es gibt kein Eigentum – Die Illusion von Besitz braucht neue Antworten
  5. Wirtschaft ist ein Werkzeug – Die Natur lehrt uns zukunftsfähiges Wirtschaften
  6. Technik ist keine Befreiung – Menschlichkeit ist nicht programmierbar
  7. Glauben ist keine Handlungsanweisung – Ökohumanismus und Spiritualität sind kompatibel
  8. Menschlichkeit ist eine Kompetenz – Entfaltungshilfe ist es, nicht Bildung, was wir brauchen
  9. Macht ist eine Täuschung – Gesellschaftliche Gestaltung ist nicht delegierbar
  10. Alles ist eine Frage der Prinzipien – Wir brauchen Haltung statt Regeln

Die Thesen des Buches reihen sich in die Thematik ein, die auch wir von #kaufnix häufig diskutieren: Wer die Zukunft der Menschheit sichern will, muss sich vom Gedanken des unendlichen materiellen Wachstums lösen. Um zukünftigen Generationen ein Gutes Leben zu ermöglichen, muss der Gedanke der Suffizienz in allen Bereichen – persönlich, politisch und ökonomisch – verinnerlicht werden.

„Es ist überfällig, endlich die ökologischen Grenzen zu akzeptieren. Wir müssen deshalb aus der Spirale des permanenten Wachstums aussteigen, bevor es zu spät ist.“

Prof. Dr. Hubert Weiger, ehem. Vorsitzender des BUND

In diesem Zusammenhang diskutieren Jörg Sommer und Pierre L. Ibisch auch die Frage nach einem Guten Leben für Alle innerhalb der planetaren Grenzen. Sie plädieren für ein möglichst sorgenfreies Leben, welches die Befriedigung notwendiger Bedürfnisse erfüllt und den Menschen Glück, Sicherheit und Zufriedenheit im Kreise anderer Menschen ermöglicht, die ihnen wichtig sind. Entsprechend sollten wir uns alle fragen: Wie wollen wir in Zukunft leben? Sollte die Gesellschaft der Zukunft vielleicht häufiger hinterfragen, ob Konsum wirklich glücklich macht? Ist es an der Zeit soziale Interaktionen in den Fokus des Erstrebenswerten zu stellen? Denn am Ende des Tages wird uns das tausendste Kleidungsstück im Schrank, das neueste Handy oder ein weiterer Shoppingtrip nach New York nicht glücklich machen, wenn dies mit der Zerstörung unserer Lebensgrundlage – dem „Ökosystem Erde“ – einhergeht.

Das Ökohumanistische Manifest kann in lokalen Buchhandlungen oder auf der begleitenden Webseite oekohumanismus.de bestellt werden.

Bibliografie

Pierre Leonhard Ibisch, Jörg Sommer
Das Ökohumanistische Manifest 
Unsere Zukunft in der Natur 
176 Seiten, € 15,- ISBN 978-3-7776-2865-3

Die Autoren

Pierre L. Ibisch und Jörg Sommer

Pierre Leonhard Ibisch ist Biologe und Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. Jörg Sommer ist Politikwissenschaftler und Soziologe, Journalist, Buchautor und Vorstandsvorsitzender der 1982 gegründeten Deutschen Umweltstiftung, der ältesten und mit über 3.500 Stifter*innen größten Bürgerstiftung Europas. Im Juni 2021 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement im Umwelt- und Klimaschutz verliehen.

Buchrezension „Transformationsdesigns – Wege in eine zukunftsfähige Moderne“ von Bernd Sommer und Harald Welzer

Einleitung

Das von Bernd Sommer und Harald Welzer verfasste Buch „Transformations Design – Wege in eine zukunftsfähige Moderne“ behandelt die Notwendigkeit von gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Transformationen für eine lebenswerte Zukunft.

Bernd Sommer, der den Forschungsbereich Klima, Kultur und Nachhaltigkeit am Flensburger Norbert Elias Center leitet und Harald Welzer, ein bekannter Soziologe, Autor und Professor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, setzen sich in ihrem Buch mit Fragen der Gestaltung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse auseinander. Sie zeigen auf, wo derzeit die Probleme der Wachstumswirtschaft und Konsumgesellschaft liegen, aber schlagen zugleich Wege vor, diese Probleme langfristig zu überwinden. Deutlich wird vor allem die Dringlichkeit sozialökologischer Transformationsprozesse, um die Ausbeutung von endlichen Ressourcen und klimatische Katastrophen zu stoppen. Das Buch ist 2014 im oekom Verlag erschienen und interessant für alle, die einen praktischen Leitfaden zur Nachhaltigkeitstransformation wollen sowie eine theoretische Analyse derzeitiger Gesellschaftsprozesse.

Hinführung zum Thema

Bernd Sommer und Harald Welzer machen im ersten Teil des Buches deutlich, dass die Gesellschaft in ihrer jetzigen Form unter den sich dramatisch verändernden Umweltbedingungen nicht länger fortbestehen kann. Die größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie „erhöhte Ressourcenkonkurrenz, geopolitische Machtverschiebungen, Extremwettereignisse oder steigende Nahrungs- und Energiepreise“ (S. 15) sind mittelfristig zu bewältigen.

Problematisch ist vor allem der Glaube an den Wachstumsmythos: Es würde so gewirtschaftet, als gäbe es unendlichen Wachstum und eine unbegrenzte Anreicherung von natürlichen Ressourcen. Noch haben wir laut den Autoren allerdings die Wahl, ob diese Veränderung eine Transformation „by design“ oder „by disaster“ wird. Transformationsdesign biete eine Möglichkeit, die Transformationsprozesse unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Wohlergehens zu gestalten.

Es seien also grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit und Klimaschutz notwendig, um die Zukunftsfähigkeit der Moderne zu gewährleisten. Doch wie könnten diese Prozesse konkret aussehen? Die Autoren erklären, wie die Veränderungen auf globaler, gesellschaftlicher und individueller Ebene stattfinden könnten.

Problemlage

Um einen gesellschaftlichen Wandel zu bewirken, stehen folgende drei Aspekte im Zentrum der Betrachtung: Umverteilung, Verzicht und Deprivilegierung.

Damit auch in Zukunft alle Menschen ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, müsse „die kapitalistische Wachstumswirtschaft überwunden werden“ (S.48). Doch an dieser Stelle kommt die Frage auf, ob damit auch ein Verlust des heutigen Zivilisierungsniveaus und Lebensstandards einhergeht. Die Autoren sind sich einig: „Will man soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit im globalen Maßstab erreichen, müssen in den reichen Ländern die privilegierten Bewohnerinnen und Bewohner auf materiellen Wohlstand verzichten und sich andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln“ (S.52). Denn das ökonomische System, unter dem wir in den industrialisierten Ländern profitieren, funktioniere nur durch Ausbeutung – der Natur und der Entwicklungsländer, auf deren billige Arbeitskräfte wir angewiesen sind. Dies wird im Buch auch anhand einer Studie der Entwicklungsökonomin Kate Raworth deutlich: „Nur 11 Prozent der globalen Bevölkerung sind für etwa 50 Prozent des Kohlendioxidausstoßes verantwortlich, während 50 Prozent der Menschen nur 11 Prozent emittieren“ (S.42). Die Schlussfolgerung ist laut den Autoren eine Deprivilegierung derzeitig privilegierter Menschen (S.51).

Auch wenn die Autoren in diesem Abschnitt ausführlich darstellen, warum eine Deprivilegierung und Umverteilung sinnvoll für die Allgemeinheit wäre, erklären sie meiner Meinung nach unzureichend, wie die Deprivilegierung in der Praxis umsetzbar wäre und was für negative Folgen sie mit sich bringen könnte. Wie kann man privilegierte Menschen dazu bringen, dass sie freiwillig ihre Lebensstandards senken? Welche Konflikte könnten daraus entstehen? Diese Fragen lassen die Autoren weitgehend unbeantwortet.

Soziologische Betrachtung der Problematik

Es erfolgt eine soziologische Analyse zur Eigendynamik gesellschaftlicher Entwicklungen mit der zentralen Feststellung, dass gesellschaftlicher Wandel vielen unberechenbaren Faktoren unterliegen kann. Da alle gesellschaftlichen Akteure ihre eigenen Interessen verfolgen, konkurrieren deren Handlungen und Absichten fortlaufend. Dadurch entstünden Dynamiken, die sich nicht aus den einzelnen Handlungen der Akteure erklären lassen. Die Autoren zeigen also auf, dass soziale Veränderungsprozesse im Grunde unterschiedlichen Logiken folgen, die nicht immer vorhersehbar sind und dass aufgrund der unterschiedlichen Interessenlagen Konflikte zwischen Akteuren der Gesellschaft entstehen können. Auch wenn die Analyse interessante Einsichten bietet, ist der Bezug zum Transformationsdesign hierbei nicht immer offensichtlich. Die Theorien werden leider nur kurz angeschnitten, um als Leser*in ein umfangreiches Verständnis zu bekommen. Für nur 10 Seiten ist eine Einführung in komplexe soziologische Theorien sehr ambitioniert.

Weiterfolgend zeigen die Autoren zunächst Beispiele von Transformationsdesigns, und stellen dann ein Gesellschaftsdesign, die Heterotopie, vor. Allerdings scheint diese Reihenfolge etwas verwirrend, da man nach den soziologischen Betrachtungen, direkt an das neue Gesellschaftsdesign anknüpfen könnte, um die theoretischen Erkenntnisse in der Praxis verständlicher zu machen. Doch die Autoren gehen nach den soziologischen und gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen im darauffolgenden Kapitel erst auf individuelle Beispiele von Transformationsvisionen und -umsetzungen ein.

Kulturelle Transformationsdesigns und Heterotopie

Zahlreiche Beispiele verdeutlichen, wie Transformationsdesigns in der Praxis umzusetzen ist. Denn ein Transformationsdesign, so die Autoren, sei nicht nur eine soziale, sondern auch eine kulturelle Aufgabe, die „die Umgestaltung des Vorhandenen, das Verschwinden von Überflüssigem, die Vermeidung von Aufwand, die Reduktion von Energie und Material“ (S.115) beinhaltet. Es gehe also darum, nicht „unablässig hinzukommende Dinge zu gestalten, sondern jene Dinge, die man nicht braucht, aus der Welt zu schaffen“ (S.116). Vorgestellt wird beispielsweise die Nutzungsinnovation, welche „ausschließlich auf vorhandenen Strukturen baut und diese einer anderen Nutzungen zuführt“ (S.118). Dies basiere auf dem Prinzip von „Reduce, Reuse, Recycle“ (siehe Suffizienspyramide). „Reduce meint die Vermeidung von (künftigem) Abfall, reuse die Weiterverwendung, recycle die materielle Umformung“ (S. 127). Die Autoren führen zur Veranschaulichung Interviews mit Künstlern, Städteentwicklern und Architekten, die auf Umgestaltung statt Neuerrichtung setzen. Diese Transformationsdesigner wollen sich dabei statt an der Marktwirtschaft, an einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Gesellschaft orientieren. Deutlich wird auch, dass Verzicht und Reduzierung nicht unangenehm sein müssen, sondern sogar einen großen Mehrwert darstellen können – sowohl auf individuell-persönlicher als auch auf strukturell-politischer Ebene. Die Autoren geben konkrete Handlungsanweisungen, wie jeder einzelne eine nachhaltigere Lebensweise führen kann. Zudem stellen sie aber auch ein zukunftsfähiges Gesellschaftsdesign vor: die Heterotopie. Gemeint ist damit eine „soziale Organisation des Weniger“ (S.173). Dabei sei das Ziel die erreichten zivilisatorischen Standards der heutigen Welt beizubehalten, während die gesellschaftliche Lebensweise nachhaltig umgestaltet werden würde. Diese Veränderung erfordere einen Pfadwechsel. Es sollten nicht mehr die konventionellen Wege gegangen werden, sondern neue Wege gefunden werden, die nachhaltigere Perspektiven eröffnen. Zentral sei dabei auch die Rolle der Politik. Die Transformationen müssten sich aber auf gesamtgesellschaftlicher Ebene vollziehen.

Fazit

Beim Lesen des Buches lässt sich feststellen, dass die kritische Beleuchtung derzeitiger Probleme den beiden Autoren sehr gut gelingt. Die Darstellung der fatalen ökologischen Folgen unserer Wirtschafts- und Lebensweise werden in diesem Buch sehr deutlich.

Auch die Einbettung des Themas in einen soziologischen Kontext ist angesichts der vorgeschlagenen radikalen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse angebracht, obwohl die Betrachtungen nicht leicht in den Aufbau des Buches einzuordnen sind. Zudem schaffen es die Autoren in einem sachlichen Schreibstil den Inhalt verständlich zu erklären. Sie nennen Beispiele, die Transformationsdesign gut veranschaulichen und teilweise auch eine persönliche Handlungsanregung bieten. Insgesamt regt das Buch zum Nachdenken an und macht dem Lesenden die Notwendigkeit von radikalen Veränderungen für eine lebenswerte Zukunft deutlich. Das Transformationsdesign schlägt Konsumalternativen und Verhaltensänderungen im Sinne von Suffizienz vor. Jede*r kann mit nachhaltigem Verhalten im eigenen Leben beginnen und es wird zugleich verständlich, dass in der Gesellschaft viele Transformationen stattfinden müssen. Die Autoren erreichen damit all jene Menschen, denen Umweltschutz und eine nachhaltigere Zukunft am Herzen liegt. Empfehlenswert wäre das Buch aber auch für politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger und Führungspersonen, um gesellschaftliche Veränderung voranzutreiben. Eine Umgestaltung der Gesellschaft hin zu mehr Suffizienz ist möglich, das Transformationsdesign der Autoren kann dazu beitragen.

Über den Bücherrand hinaus: Die Bibliothek der Dinge

Jeder kennt es: ob Lexikon für das bevorstehende Schülerreferat, Lehrbuch im Studium oder der heißersehnte Roman der Lieblingsautorin – Literatur braucht es in vielen Lebenslagen. Dabei wird nicht selten bestellt oder brandneu gekauft, und nach kurzem Nutzen verstaubt das teure Exemplar im eigenen Bücherregal. Eine Lösung gegen diesen hohen Kosten- und Ressourcenverbrauch sind Bibliotheken. Wir alle kennen ihr Konzept, bei dem – ganz im Sinne der Nachhaltigkeit – ein einziges Exemplar gleich mehreren Leuten zugutekommen kann.

Doch das Leihkonzept von Bibliotheken geht mittlerweile weit über Bücher hinaus. Neuerdings werden neben Büchern weitere nützliche Dinge verliehen oder getauscht: Nähmaschine, Instrumente, Sportutensilien, Saatgut und vieles mehr. Alltagsgegenstände, die sich nicht jeder leisten kann, oder die von einer einzelnen Person nur selten wirklich genutzt werden 1.

Die sogenannten „Bibliotheken der Dinge“ bieten ein Sammelsurium an wertvollen Gegenständen, die untereinander geteilt und verliehen werden können. So kommen diese nur dann zum Einsatz, wenn sie wirklich gebraucht werden. Im Sinne von Suffizienz haben viele Bibliotheken solche Sammlungen integriert und unterstützen damit das Prinzip der „Sharing Economy“. Gleichzeitig leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der 17 Nachhaltigkeitsziele „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen 2. So verwirklichen Stadtbüchereien, Hochschul-Bibliotheken und andere Büchereizentralen beispielsweise das Ziel zu hochwertiger Bildung, zu Informations- und Kommunikationstechnologie sowie zu Nachhaltigem Konsum und Produktion. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben, sind hier zwei Beispiele an Bibliotheken der Dinge kurz zusammengefasst:

Nachhaltiger Konsum – Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr

„Ein buntes Allerlei“ – so bewirbt die Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr ihr breites Angebot an Projekten, Initiativen und Leihgütern. Dabei können nicht nur Saatgut und Regenschirme geteilt werden, sondern es gibt auch Möglichkeiten Carsharing zu nutzen und im Repair-Café kostenfrei alte Haushaltsgegenstände wiederzuverwerten 3.

„Ein buntes Allerlei“ in der Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr

Green Campus Book Corner – Universitätsbibliothek Salzburg

Der „PLUS Green Campus Book Corner“ wurde als Dienstleistungseinrichtung gemeinsam mit der Universitätsbibliothek Salzburg errichtet. Seit 2017 stehen hier eine Bandbreite an Büchern und Medien mit Fokus auf Umweltthemen zur Verfügung. Sie sollen informieren und Bibliotheksnutzer*innen einen fachlichen Überblick über unsere Umweltlage liefern 4.

Auch in deiner Nähe steht vielleicht eine Bibliothek der Dinge. Eine Übersicht und weitere Beispielprojekte sind auf der folgenden Seite zusammengefasst: https://www.biblio2030.de/ 5.

Quellen:

[1] https://www.ideenw3rk.de/bibliothek-der-dinge/

[2]https://www.medienzentrum-biberach.de/-/bibliothek-der-dinge

[3] https://www.biblio2030.de/stadtbibliothek-muelheim-an-der-ruhr/

[4] https://www.biblio2030.de/green-campus-book-corner-universitaetsbibliothek-salzburg/

[5] https://www.biblio2030.de/beispielsammlung/

Buchrezension: „Kauf mich! Auf der Suche nach dem guten Konsum“ von Nunu Kaller

In ihrem neuen Sachbuch „Kauf mich! Auf der Suche nach dem guten Konsum“ – erschienen am 08. März 2021 im Kremayr & Scheriau Verlag – untersucht Bestsellerautorin Nunu Kaller verschiedene Facetten des Konsumierens und wie dies gesteuert werden kann. Wie beeinflusst die Industrie den menschlichen Kaufantreib und inwiefern entscheiden Kund*innen eigentlich noch selbst über ihn? Warum, was und wie kauft der Mensch? Die Autorin widmet sich u. a. dem Dopamin-High, das den Menschen bei der Schnäppchenjagd überfällt, entlarvt die verschiedenen Tricks von Supermärkten, wie sie Konsument*innen zum Kauf überreden und zerlegt die Greenwashing-Versuche der Modeindustrie. Sie tritt energisch dafür ein, dass Kund*innen nicht die Alleinverantwortung für nachhaltiges Konsumieren tragen, sondern die Industrie und der Markt verantwortungsbewusster mit ihrem Einfluss auf die menschliche Kaufpsychologie umgehen müssen. So malt Kaller ein fulminantes Bild rund um die Konsumpolemik mit dem Ausblick, dass zum einen die Politik und Wirtschaft gravierend zu einer Richtungsänderung beitragen müssen und zum anderen auch jede*r Einzelne sein/ihr eigenes Kaufbedürfnis reflektieren sollte. Schließlich könne man ihrer Ansicht nach niemanden in guten Konsum hinein „shamen“.

Nunu Kaller, die von 2014 bis 2019 als Konsument*innensprecherin bei Greenpeace arbeitete, möchte die Leser*innen nicht zum Nullkonsum bekehren, sondern ausgehend von der Tatsache, dass der Mensch konsumiert, die psychologische, biologische und wirtschaftliche Perspektive dieses Konsums beleuchten. Anhand ihrer Recherche soll die Leitfrage diskutiert werden, ob es „guten“ Konsum überhaupt gibt und wie dieser gegebenenfalls aussieht. Im Vorwort gelungen hergeleitet begründet sie die eigene Motivation in ihrer Relevanz, zumal die Konsumdebatte in Zeiten der Klimakrise für Viele immer wichtiger wird. Schon mit den ersten Seiten spricht Kaller daher jenen Menschen aus der Seele, die sich bereits mit ökologisch nachhaltigem Konsum auseinandergesetzt haben, durch die Fülle an Informationen im World Wide Web zu diesem Thema jedoch verunsichert sind.

Du bringst Menschen dazu, ihr eigenes umweltschädliches Verhalten zu überdenken, wenn du ihnen zeigst, dass sie möglicherweise selbst, ganz direkt und unmittelbar, gefährdet sind.

Nunu Kaller, S.11

Kaller führt die Leser*innen anhand ihrer eigenen Gedanken durch 236 Seiten und veranschaulicht die gesammelten Fakten durch Anekdoten und Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben sowie aus dem ihres privaten Umfelds. Die insgesamt sechs Kapitel widmen sich jeweils einer übergeordneten Frage und navigieren die Leser*innen anregend durch ihre Recherche. Beginnend mit dem ersten Kapitel „Warum kaufen wir?“ geht die Autorin über zu der Feststellung „Man kann nicht nicht konsumieren“ (Kapiel 2), um danach zu erörtern „Was machen die [Industrie und Werbung] mit uns?“ (Kapitel 3) und „Was macht Konsum eigentlich wirklich mit uns?“ (Kapitel 4). Nachfolgend (Kapitel 5) wird diskutiert, warum Konsum überhaupt schlecht ist, um im abschließenden Kapitel „Was ist denn nun ‚guter Konsum‘?“ alle Resultate zusammenzuführen. Die Überschriften sind aussagekräftig gewählt, jedoch wäre für das Motiv des Buches – die Suche nach „gutem“ Konsum – eine darauf ausgerichtete Kapitelaufteilung sinnvoller. So würde das fünfte Kapitel „Warum ist Konsum eigentlich überhaupt schlecht?“ einen guten Einstieg in die übergeordnete Fragestellung bilden. Durch Unterüberschriften, die die sechs großen Kapitel in thematische Blöcke einteilen, wird dem Buch eine stringente Struktur mit bündigen Überleitungen verliehen. Empfehlenswert wäre allerdings die Aufführung der Unterkapitel im Inhaltsverzeichnis gewesen, damit Fakten und Informationen gezielt nachgelesen oder gesucht werden könnten.

Kaller wirft unabhängig von den Kapitelüberschriften viele (moralische) Fragen auf, deren Beantwortung partiell den Leser*innen überlassen bleiben, wie zum Beispiel warum wir kaufen, obwohl uns die Produktionsbedingungen allgemein bekannt sind. Hierdurch tritt die Hauptfrage „Gibt es guten Konsum?“ teils in den Hintergrund. Der/Die ein oder andere Leser*in wird sich deshalb zwischendurch bei der Suche nach dem Sinn hinter den gelesenen Seiten ertappen, jedoch schnell wieder zum roten Faden zurückfinden. Insgesamt zeigt die Autorin also überwiegend nachvollziehbar und schlüssig die facettenreiche Tragweite der Konsumthematik auf, wobei wenige Passagen, beispielsweise die Psychologie der Industrie, eine noch intensivere Erörterung verlangt hätten. Ihre Argumentation untermauert Kaller durch Quellenangaben verwendeter Artikel und Studien sowie weiterführender Literatur in Fußnoten, die für eine bessere Übersichtlichkeit in einem Quellenverzeichnis am Ende des Buches hätten zusammengetragen werden können.

Die offengelegten Fakten und Rechercheergebnisse unterstreicht die Autorin mit Humor und befreit sich durch ihre eher alltagssprachlich gehaltene Langage vom Stereotypen des anstrengenden Sachbuchs. Dass Nunu Kaller sich als leidenschaftliche Wienerin beschreibt, spiegelt ihre Schreibart wider: Als deutsche*r Leser*in stolpert man über österreichische Ausdrücke und schmunzelt über Begriffe wie „Sackerl“ oder „Packerlsuppe“. Nur selten bleibt man an langen Sätzen hängen, deren Sinn sich jedoch nach erneutem Lesen zu entfalten weiß. Stilistisch liest sich das Buch flüssig, Rechtschreibfehler, die den Gesamteindruck trüben könnten, finden sich kaum. Kaller bedient sich dem Binnen-I, um mit ihrer Sprache Geschlechtergleichheit zu generieren. Dies ist für den Sprachwandel zu begrüßen, da das Gendern für weite Teile der Bevölkerung leider noch nicht selbstverständlich und nachvollziehbar geworden ist.

„Wir dürfen auch nicht zu streng mit uns sein. Ja, natürlich darf man hin und wieder sinnlosen Konsum genießen.“

Nunu Kaller, S. 224

Ihre Überzeugung, man könne niemanden in guten Konsum hinein „shamen“, führt insgesamt zu einem selbstkritischen und offenen Blick auf die Thematik, ausgehend von ihrer Person und ihrem Leben. Sie betont authentisch, dass sie sich von ihrer eigenen Konsumkritik nicht ausnehmen möchte und spielt ohne erhobenen Zeigefinger die Rolle des Vorbilds. Erfahrungsberichte, wie sie oder Freund*innen sich sinnlosem Konsum hingaben, rufen Sympathie für die Autorin hervor und führen zu einer größeren Identifikation mit dem Gelesenen. „Wenn Nunu Kaller es schafft, für sich die Bedeutung von ‚gutem‘ Konsum zu erörtern und ihr Kaufbedürfnis demnach anzupassen, wieso ich nicht auch?“ So schafft sie es, die Leser*innen zum Überdenken des eigenen Handelns anzuregen. Hierfür wäre am Ende des Buches eine Zusammenfassung der Möglichkeiten, wie man das eigene Konsumverhalten reflektieren könnte, als Wegweiser nützlich gewesen.

Im Gesamteindruck gewinnt Nunu Kaller die Leser*innen mit ihrem Charme und ihrer Authentizität. Revolutionäre Erkenntnisse bleiben aus, doch scheint dies auch nicht der Anspruch der Autorin zu sein. Viel mehr gibt sie verwirrten Konsument*innen, die sich weiter in Richtung Nachhaltigkeit orientieren möchten, eine Stütze im Informationswirrwarr. Erfrischenderweise begann Kaller ihre Recherchen vor der Corona-Pandemie und geht in ihrem Buch nur kurz auf die Veränderungen, die die Krisenzeit auf unseren Konsum ausübt, ein. Natürlich wäre die Erörterung im Lichte des Online-Shopping-Hochs überaus interessant, doch stellt ihre Forschung dadurch eine angenehme Abwechslung zur aktuellen Berichtserstattung dar.

„Kauf mich! Auf der Suche nach gutem Konsum“ ist eine Erinnerung für diejenigen, die bereits reflektiert und nachhaltig konsumieren, wieso sie dies tun und eine Aufforderung an diejenigen, die bereits „grün affin“ sind, sich aktiv mit ihrem Konsum zu beschäftigen. Ihr Plädoyer für weniger Konsum und mehr Verantwortung mit dem nachhaltigen Grundgedanken im Hinterkopf, weiß angesichts der ausgeprägten Stärken und wenigen Schwächen zu beeindrucken. Mit der richtigen Mischung aus Emotion, Sachlichkeit und Witz hält sie die Lesenden bei Laune und zeichnet ein Bild der Realität, bei dem man nicht sicher ist, ob man lachen oder lieber weinen möchte.

Über die Autorin

Copyright: Julius Hirtzberger

Nunu Kaller, geboren 1981 und seither leidenschaftliche Wienerin, absolvierte ein Studium der Publizistik, Anglistik und Zeitgeschichte. Nach zwei Jahren bei diepresse.com wechselte sie in die NGO-Welt. 2014 bis 2019 arbeitete sie als Konsument*innensprecherin bei Greenpeace. Seit Ende 2019 ist sie selbstständig als Autorin, Speaker, Beraterin und Initiatorin von nunukaller.com, einer Plattform, die heimischen Unternehmen im Corona-Lockdown zu Sichtbarkeit verhalf. Bei KiWi erschienen von ihr die Bestseller „Ich kauf nix!“ und „Fuck Beauty!“.