Wir kennen die drei großen Nachhaltigkeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Effizienz kommt aus dem technisch-ökonomischen Bereich und versucht den gleichen Output bei reduziertem Ressourceneinsatz zu realisieren. Auch Konsistenz verfolgt einen eher technischen Ansatz. Sie versucht, neue Stoffe zu entwickeln, die sich für eine Kreislaufwirtschaft eignen. Prominent ist die Cradle-to-Cradle Bewegung, bei der nicht die Konsumreduktion im Mittelpunkt steht, sondern die Errichtung eines Kreislaufs, in dem sich möglichst alle genutzten Produkte bewegen und in dem wenig bis keine Abfälle anfallen.
Suffizienz geht einen anderen Weg. Sie versucht nicht, neue Wege für die Befriedigung von Bedürfnissen zu finden, sondern sie hinterfragt diese Bedürfnisse selbst (vgl. Eser 2015, 94). Sie kommt aus einer moralisch-philosophischen Denkrichtung. In der Nachhaltigkeitsstrategie ist die Suffizienz deutlich jünger als die Effizienz. Während Effizienz auf die Zeit der industriellen Revolution zurückgeht, entwickelte sich Suffizienz erst im Laufe des 20. Jahrhunderts. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt jedoch: Suffizienz ist kein neues Konzept. Schon in der Philosophie der Antike war Suffizienz, wenn auch nicht unter diesem Namen, ein prominentes Thema. Damals gab es Denker, die einen – nach heutigen Maßstäben – nachhaltigen Lebensstil propagierten. Welche Strömungen und Theorien über die Suffizienz sich im Lauf der Geschichte entwickelt haben, soll Inhalt dieses Beitrags sein. Dabei werden nur einige, besonders wichtige Schlaglichter gezeigt, denn das volle Ausmaß der philosophischen Geschichte der Suffizienz würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.
Von der Antike zur Aufklärung: Die philosophischen Wurzeln der Suffizienz
Wir beginnen unseren Rundgang durch die Geschichte in der Antike. Eine der einflussreichsten philosophischen Schulen der Antike ist die der Stoa. Die Strömung ist eudaimonistisch ausgerichtet, das heißt, die ‚Frage nach dem guten Leben‘ steht im Zentrum ihres philosophischen Schaffens (vgl. Schnor 2015, 15). In der Philosophie der Stoa erreicht man das gute Leben vor allem durch Selbstbeherrschung und Lossagung von äußeren Einflüssen wie materiellen Besitztümern. Das Festhalten an Tugenden wie Weisheit, Mut, Gerechtigkeit und Besonnenheit steht im Zentrum. Noch heute begegnet uns die Lehre der Stoa, wenn wir das gleichmütige, beherrschte Verhalten eines Menschen als ‚stoisch‘ bezeichnen. Auch wenn Suffizienz als Begriff nicht in der Stoa verwendet wird, finden sich in der von ihr formulierten, genügsamen Lebensweise, die wenig Güter beansprucht, doch zahlreiche Anknüpfungspunkte. Sie entsagt nicht jeglichem Luxus, betont aber „materielle (…) Einfachheit“ (Schild 2021, 104), die Gefahr von Unbegrenztheit, und das Streben, nicht in Abhängigkeit von weltlichen Dingen, die sich jenseits der Tugenden befinden, zu geraten (vgl. Schnor 2015, 35).
Ein paar Jahrhunderte später, in der christlichen Theologie, die unseren „westlichen Gesellschaften prägend zugrunde liegt und sich auch durch die Narrative der Umweltbewegung zieht“ (Dallmer 2020, 177), spielt die Askese, also die Entsagung von weltlichen Gütern und die freiwillige Begrenzung von Bedürfnissen, eine zentrale Rolle im religiösen und philosophischen Denken. Versteht man die Askese als eine „Kunst und Technik (…) kontrollierter Lebensführung“ (Macho 2007, 1), wird sie nicht erlitten wie eine Krankheit, sondern “geübt und praktiziert wie die Verwendung eines Werkzeugs oder das Spiel eines Musikinstruments” (ebd.). Schon ab dem 4. Jahrhundert finden sich im katholischen Katechismus die vier Kardinaltugenden, wovon eine die Mäßigung ist. Diese taucht auch auf bei Thomas von Aquin, einem der bedeutendsten christlichen Philosophen des Mittelalters (Balthasar 2021). Mit der zur gleichen Zeit beginnenden Entstehung der Klöster entwickelte sich aus dem Konzept der Askese eine Lebensführung, die dem heutigen Verständnis von Suffizienz schon recht nahekommt.
Klösterliche Gemeinschaften entwickelten neben persönlicher Enthaltsamkeit auch Praktiken der Selbstversorgung, die heute durchaus als nachhaltig bezeichnet werden könnten: Sie bauten Lebensmittel an, stellten Werkzeug und Kleidung selbst her und lebten weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen. Franz von Assisi nimmt hierbei eine wichtige Rolle ein. Als Begründer des Franziskanerordens legte er mit den Grundstein für ein christliches Suffizienzverständnis. In seiner zweiten Enzyklika ‚Laudato si‘ spricht der aktuelle Papst Franziskus im Jahr 2015 über Franz von Assisi als Vorbild „für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie“ (Heimbach-Steins/Lienkamp 2015, 159).
Suffizienz in Religion und Gesellschaft: Von klösterlicher Askese bis zur Romantik
Interessanterweise finden sich auch in den anderen Weltreligionen, zum Beispiel dem Buddhismus, Ansätze, die ein suffizientes Leben jenseits von Eigennutz und Besitzdenken empfehlen. In der Lehre des achtfachen Pfades (auch mittlerer Weg genannt) werden Entschleunigung, Großzügigkeit und Selbstbegrenzung praktiziert (vgl. Folkers 2015, 9), die nicht nur Restriktion mit sich bringen, sondern das Potenzial in sich tragen, Kreativität und Produktivität freizusetzen (vgl. ebd., 10). Diese Perspektive zeigt eine spannende Parallele zur christlichen Idee der Bedürfnislosigkeit und verdeutlicht, wie in ganz verschiedenen Kulturen die Idee der Suffizienz zur Erreichung spiritueller Ziele verfolgt wurde und wird.
Anknüpfend an die christliche Tradition gehen wir als Nächstes in die Romantik mit ihrem prominenten Vertreter Jean-Jacques Rousseau. Er wirkte im 18. Jahrhundert und gilt als wichtiger Vordenker der Aufklärung und der Französischen Revolution. Im Kontext der Suffizienz argumentiert Rousseau mit der Idee der Einfachheit, der Romantisierung des Land- gegenüber des Stadtlebens und dem Ideal der Autarkie und Naturverbundenheit (vgl. Dallmer 2020, 70f; 165). Etwa 100 Jahre später, 1854, veröffentlicht Henry David Thoreau mit seinem Buch Walden ein Werk, in dem die Rückkehr zur Natur und das Entkommen aus einem Zustand, „in dem wir unsere eigenen Sklavenaufseher sind” (Napp 2022) eine zentrale Rolle einnimmt. Thoreau gilt bis heute als Vorbild diverser Protestbewegungen, darunter der 68er-Bewegung, dem Civil Rights Movement oder auch Extinction Rebellion (vgl. ebd.).
Suffizienz im 20. und 21. Jahrhundert: Nachhaltigkeit neu gedacht
Mit zunehmender Relevanz von Nachhaltigkeitsthemen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter anderem geprägt durch die Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970ern, der Veröffentlichung der Studie Die Grenzen des Wachstums 1972, des Montreal-Protokolls 1987 sowie der Rio-Konferenz 1992 nahm die Idee der Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie neue Fahrt auf. Die Werke Small is beautiful von Ernst Schumacher (1973) und Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas (1979) ebnen den Weg für das Konzept der Suffizienz, wie wir es heute kennen. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff Suffizienz erstmals 1993 von Wolfgang Sachs verwendet: „‘Effizienzrevolution’ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ‘Suffizienzrevolution’ begleitet wird. Nichts ist schließlich so irrational, als mit einem Höchstmaß an Effizienz in die falsche Richtung zu jagen.” (Sachs 1993, 2). Heute gelten vor allem Manfred Linz (Weder Mangel noch Übermaß, 2004), Serge Latouche (Farewell to Growth, 2009) und Niko Paech (Befreiung vom Überfluss, 2012) als bekannte Fürsprecher des Suffizienzkonzepts.
Kritische Reflexion: Grenzen und Potenziale der Suffizienz heute und morgen
Ob nun aus Sicht der antiken Stoa, des mittelalterlichen Christentums oder aufklärerischer Philosophen, die Idee der Suffizienz muss stets auch kritisch betrachtet werden, ist sie doch nach wie vor ein äußerst idealistisches und voraussetzungsreiches Konzept, um den multiplen Krisen unserer Zeit entgegenzutreten. Sie schafft potenziell Raum für „autoritäre (Ökodiktatur) oder auch sozialdarwinistische Lösungen, wenn der Wert der Natur über den des (einzelnen) Menschen gestellt wird” (Dallmer 2020, 178). Mag die Suffizienz auch normativ plausibel sein, mangelt es doch „an Belegen, dass jemals eine Gesellschaft nach ihren Werten gelebt hat und die Menschen dies mehrheitlich als gutes Leben definiert haben” (ebd., 176). Deshalb muss Suffizienz stets mit realistischen politischen Umsetzungsmodellen zusammen gedacht werden. Diese Modelle zu finden und umzusetzen, gilt im Zuge des Fortschreitenden multipler ökologischer Krisen als eine der zentralen Aufgaben des 21. Jahrhunderts.
Literaturverzeichnis
Balthasar, Susanne (2021): Bescheidenheit – Die Wiederentdeckung der Mäßigung. Deutschlandfunk Kultur, 12.06.2021. URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/bescheidenheit-die-wiederentdeckung-der-maessigung-100.html.
Dallmer, Jochen (2020): Glück und Nachhaltigkeit. transcript Verlag, Bielefeld.
Eser, Uta (2015): Glück und Suffizienz. In: Schloßberger, Matthias (Hrsg.): Die Natur und das gute Leben, BfN-Skripten 403 Potsdam. S. 93-97.
Folkers, Manfred (2015): Suffizienz und Zufriedenheit – Buddhistische Motive für eine Kultur des Genug. Rohfassung eines Vortrags in der „Ringvorlesung zur Postwachstumsökonomie“ am 14.01.2015. URL: http://www.postwachstumsoekonomie.de/wp-content/uploads/2015-01-14_Folkers-Suffizienz-und-Zufriedenheit.pdf
Heimbach-Steins, Marianne/ Lienkamp, Andreas (2015): Die Enzyklika „Laudato si’“ von Papst Franziskus – Auch ein Beitrag zur Problematik des Klimawandels und zur Ethik der Energiewende. In: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften, 56 (2015), Aschendorff Verlag, Münster.
Macho, Thomas (2007): Über Askese. In: Künste der Verneinung, 153. 10.18452/1724 URL: https://edoc.hu-berlin.de/server/api/core/bitstreams/c8963262-a92e-4ca3-852c-fad51a15d5f9/content
Sachs, Wolfgang (1993): Die vier E’s – Merkposten für einen maß-vollen Wirtschaftsstil. URL: https://epub.wupperinst.org/frontdoor/deliver/index/docId/66/file/66_Sachs.pdf.
Schild, Kirstin (2021): Resonanz durch Suffizienz – Wie eine suffiziente Lebensweise Resonanz und somit ein gutes Leben befördert. Inauguraldissertation, Universität Bern.
URL: https://boristheses.unibe.ch/3028/1/21schild_k.pdf
Schnor, Jannik (2015): Suffizienz und die Frage nach dem guten Leben – Betrachtungen von Suffizienz mithilfe von Konzeptionen des guten Lebens von Epikur und der Stoa. Leuphana Schriftenreihe Nachhaltigkeit und Recht, Leuphana Universität Lüneburg. URL: https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/Forschungseinrichtungen/ifus/professuren/energie-und-umweltrecht/Schriftenreihe/NR_-_Nr._11__Schnor___Suffizienz__Epikur-Stoa.pdf