Wenn das Klima kippt: zur Rolle der Suffizienz

Es steht außer Frage, dass der Klimawandel kein fernes Zukunftsszenario mehr ist, sondern längst unsere Gegenwart prägt: Temperaturen steigen, Extremwetter häufen sich, Gletscher schmelzen. Während frühere Klimaschwankungen teils natürliche Ursachen hatten, ist die heutige Erderwärmung eindeutig menschengemacht. Durch die Verbrennung enormer Mengen fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas gelangen riesige Mengen an Treibhausgasen in die Atmosphäre und treiben die Erwärmung weiter an. Seit Langem warnen Forschende davor, dass das Klima ein sensibles, komplexes System ist, das abrupt und dauerhaft kippen kann. Diese Kipppunkte lassen sich als kritische Schwellenwerte beschreiben, bei dessen Überschreitung ein Teil des Erdsystems plötzlich und meist unumkehrbar in einen neuen Zustand übergeht – mit tiefgreifenden Folgen für das Leben auf der Erde. Einmal ausgelöst, lassen sich diese Prozesse kaum oder gar nicht mehr stoppen. Im kürzlich veröffentlichtem „Global Tipping Points Report 2025“ haben über 150 Forschende die Kipppunkte des Erdsystems untersucht – mit alarmierenden Ergebnissen.

Die rote Linie des Klimasystems

Je stärker sich die Erde erwärmt, desto näher rückt die Gefahr, dass kritische Kipppunkte des Erdsystems erreicht oder überschritten werden. Forschende haben bereits eine Vielzahl an Kippelementen identifiziert, darunter der Amazonas-Regenwald, die Eisschilde an den Polkappen und Korallenriffe. Im neuen Kipppunkte-Bericht wurde nun deutlich, dass viele Warmwasser-Korallenriffe ihren Kipppunkt bereits erreicht haben und in den nächsten Jahrzehnten drohen, großflächig abzusterben. Darüber hinaus wird davor gewarnt, dass die Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze weitere Kipppunkte im Erdsystem auslösen könnte. Dies kann langfristig einen Meeresspiegelanstieg und gravierende Folgen für Küsten, Klima und das Leben von Millionen Menschen weltweit bedeuten. Trotz dieser Entwicklungen gibt es auch einen Hoffnungsschimmer: die sogenannten positiven Kipppunkte

Positive Kipppunkte verstehen und gestalten

Positive Kipppunkte sind Entwicklungen, die die Wende zu einer nachhaltigen Zukunft möglich machen: Beispielsweise boomen regenerative Energieerzeugungsformen weltweit. Sie werden immer günstiger und verdrängen zunehmend fossile Brennstoffe. Solche selbstverstärkenden nachhaltigen Veränderungen können helfen, das Klima zu stabilisieren und damit den Klimawandel abzubremsen. Doch was benötigt es, um solche positiven Kipppunkte auszulösen und ihre Wirkung zu verstärken?

Maßgeblich sind klare politische Richtlinien für klimafreundlichere Technologien. Es braucht einen politischen Rahmen, der das Auftreten positiver Kipppunkte nicht nur erlaubt, sondern aktiv fördert und fordert. Doch der Bericht macht auch klar, dass politische Maßnahmen und das Vertrauen in technologische Innovationen allein nicht ausreichen. So muss auch der Wirkung von sozialen Dynamiken eine zentrale Rolle auf dem Weg zu einer langfristig klimafreundlichen Zukunft zugeschrieben werden. Aus dem Global Tipping Points Report geht hervor, dass soziale Dynamiken dazu führen können, positive soziale Rückkopplungen hin zu einer klimafreundlicheren Lebensweise anzustoßen. Neben dem aktiven gesellschaftlichen Engagement als Wirkungshebel auf politische Entscheidungsprozesse lassen sich auch zentrale Prinzipien der Suffizienz im Bericht wiedererkennen.

Der persönliche Beitrag zum Klimaschutz: Suffizienz im Alltag verankern

Großflächige Effizienzgewinne und eine zirkuläre Verwendung von Rohstoffen sind wichtige Voraussetzungen, um als Gesellschaft den Ausstoß von Treibhausgasen drastisch zu senken. Doch sollte dies nicht verdecken, dass auch auf der persönlichen Ebene große Einsparpotentiale bestehen. Ressourcensparende Verhaltensänderungen können zudem kostengünstig und schnell mittels relativ einfacher Maßnahmen freigesetzt werden, wie die nachfolgende Abbildung des Kompetenzzentrums Nachhaltiger Konsum zeigt:

Eine vegetarische oder vegane Ernährung kann bis zu einer halben Tonne Treibhausgase einsparen. Auch der Verzicht auf einen spontanen Hin- und Rückflug von Berlin nach Rom für ein romantisches Wochenende spart knapp eine halbe Tonne CO₂ ein. Wer regelmäßig für den Weg zur Arbeit oder Kita auf das Auto verzichtet, setzt einen weiteren Big Point um. 

Suffizienz kann so schrittweise zu einem selbstverstärkenden Prozess werden, indem nachhaltige Lebensstile nicht mehr als Einschränkung, sondern als neue Normalität wahrgenommen werden. Je stärker suffizientes Verhalten jedoch zur neuen gesellschaftlichen Norm wird, umso mehr erhöht dies auch den Druck auf Politik und Märkte, sich mit Maßnahmen bzw. Angeboten im Sinne nachhaltiger Lebensweisen zu befassen. 

Laut Global Tipping Points Report 2025 sind es genau diese einfachen Anpassungen, die das größte Potenzial haben, positive Kipppunkte zu erzeugen. Die positiven Auswirkungen sind potentiell enorm: Immerhin zeigt die Abbildung, dass bereits mit den Big-Point-Maßnahmen eine Halbierung des durchschnittlichen CO₂-Fußabdrucks möglich ist. Würde jede*r der rund 50 Millionen erwachsenen Bundesbürger*innen rund 5 Tonnen Treibhausgase jährlich einsparen, wären das gigantische 250 Millionen Tonnen jedes Jahr. Der Versuch lohnt sich also, im Freundes- und Bekanntenkreis darüber zu reden. 

Was kippt zuerst, das Klima oder wir?

Der Bericht macht deutlich: Wir stehen an einer Schwelle, an der über die Zukunft entschieden wird. Wie diese Zukunft aussehen wird, liegt bei uns und den Entscheidungen, die wir heute treffen – auf persönlicher ebenso wie auf hochrangiger politischer Ebene. Auf Letzterer steht in wenigen Tagen eine neue Verhandlungsrunde an: Vom 10. bis 21. November 2025 findet in der brasilianischen Stadt Belém im Herzen des Amazonasgebiets die 30. Weltklimakonferenz statt. Zum Wohle der Weltgemeinschaft ist zu hoffen, dass von diesem besonderen Ort ein neuer Wind für den Klimaschutz ausgeht. 

Ressourcenschonende Geschäftsmodelle

Befreiung vom Überfluss“ ist der Titel eines bekannten Buchs des Wissenschaftlers Niko Paech, das unlängst in einer überarbeiteten Fassung erschienen ist.  Darin skizziert der Autor Konturen einer Postwachstumsökonomie. Dazu zeigt er schonungslos auf, welche Konsequenzen unser ressourcenintensiver Konsumhunger für die Lebensgrundlagen des Menschen haben und begründet die Notwendigkeit einer grundlegenden Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Suffizienz spielt dabei eine wesentliche Rolle. Während jedoch Effizienz und Konsistenz häufig systemisch gedacht werden, bspw. wenn es um die Entwicklung einer Kreislaufwirtschaft oder die Transformation des Energiesystems geht, dominierte bei Suffizienz lange Zeit eine individuelle Perspektive. Ratgeber gaben Hinweise für die Veränderung des eigenen Lebensstils und lieferten Anregungen, wie der persönliche Alltag ressourcenschonender gestaltet werden kann, bspw. indem auf Flugreisen verzichtet wird, der Fleischkonsum reduziert wird, eine Substitution des Autos durch das Fahrrad bzw. den ÖPNV erfolgt oder die Raumtemperatur im Winter abgesenkt wird.

Verhaltensänderungen erleichtern
Seltener standen bisher in der öffentlichen Wahrnehmung Push- und Pull-Faktoren im Fokus, die suffizientes Verhalten erleichtern und Anreize bieten bzw. nicht-suffizientes Verhalten sanktionieren können. Dabei betonen Vorhaben wie das Projekt „Gute Beispiele für eine gelingende Transformation“ des Wuppertal Instituts oder das Vorhaben „FULFILL“ des Fraunhofer ISI, dass entsprechende Anreize mittels einer gezielten Suffizienzpolitik die Veränderungsbereitschaft von Menschen begünstigen können.

Rolle von Unternehmen
Es liegt auf der Hand, dass bei diesem Thema Unternehmen unweigerlich eine Schlüsselrolle spielen. Dies verdeutlicht die Lektüre der eingangs genannten Publikation „Befreiung vom Überfluss, in der eine Postwachstumsalternative in Abgrenzung zum vorherrschenden Green Growth Paradigma entwickelt wird, eindrücklich. Damit Unternehmen diesem Anspruch jedoch gerecht werden können und ihren Beitrag zum Gemeinwohl und zur nachhaltigen Transformation leisten können, wird es merklicher Veränderungen in den Wertschöpfungsprozessen bedürfen, die eine Abkehr von der vorherrschenden Shareholderorientierung implizieren. Das Konzept der Gemeinwohlökonomie bietet hierfür wertvolle Ansatzpunkte, indem es Werte wie Menschenwürde, ökologische Verantwortung, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz betont.

Konsument*innen unterstützen
Fokussiert man sich an dieser Stelle auf die Ausgestaltung von Produkten und Dienstleistungen, verdeutlichen eine Reihe von EU-Maßnahmen wie das Recht auf Reparatur und die Ökodesign-Richtlinie in welche Richtung die Reise für Unternehmen zukünftig gehen sollte. Es geht darum, den maßvollen Konsum der Bürger*innen mittels geeigneter Produkte und Dienstleistungen aktiv zu unterstützen.  

Anstelle auf kurzlebig gestaltete Wegwerfgüter, geplante Obsoleszenz oder unter prekären Arbeitsbedingungen hergestellte Fast Fashion Produkte zu setzen, sollten Merkmale wie Haltbarkeit, Wiederverwendbarkeit, Nachrüstbarkeit und Reparierbarkeit von Produkten und zugehörige Serviceleistungen in den Fokus rücken. Der ab 2027 in der EU verbindliche digitale Produktpass ist daher ein wichtiger Schritt, um Konsument*innen einen umfassenden Einblick in den Produktlebenszyklus von Produkten zu geben insb. auch hinsichtlich der Reparierbarkeit und verfügbarer Ersatzeile. 

Erste Schritte von Unternehmen 
Stellenweise finden sich in der Praxis bereits gute Beispiele, die als Anregung dienen können. Einige Hersteller robuster Outdoor-Ausrüstung bieten bspw. lebenslange Garantien und kostenlose Reparaturservices an. Auch kleinere Textilhersteller haben die Möglichkeit geschaffen, verkaufe Produkte „aufhübschen“ zu lassen.  

Eine Reihe von Unternehmen haben insb. im Mobilitätsbereich Geschäftsmodelle aufgebaut, die dem Ansatz der Sharing-Economy folgen. Im Segment elektronischer Konsumgüter finden sich diesbezüglich vermehrt Verleihsysteme bspw. für Werkzeuge und Maschinen. Gleiches gilt für die Möglichkeit spezielles Equipment für besondere und seltene Anlässe wie bspw. Lichttechnik oder Mobiliar auszuleihen.

Zunehmend gewinnen auch zirkuläre Modelle wie Produktrotation oder Umtauschsysteme an Bedeutung. Gerade im Bereich von Kindermode oder Babybedarf bieten vermehrt Anbieter die Möglichkeit, Produkte nach einer bestimmten Nutzungszeit zurückzugeben oder gegen andere auszutauschen. So bleiben Materialien im Kreislauf, und der Bedarf an Neuware sinkt. In dieser Hinsicht sind auch modular gestaltete Produkte positiv zu sehen. Jedenfalls, wenn sie mit dem Gedanken konzipiert werden, eine langfristige Nutzungsdauer zu erreichen, indem das Produkt an sich wechselnde Lebensumstände angepasst werden kann und nicht modische Aspekte im Vordergrund stehen.

Kräfte bündeln – suffizienzkompatible Anreize setzen
Wenn Suffizienzstrategien einen größeren Stellenwert bei der nachhaltigen Transformation unserer Gesellschaft spielen sollen, braucht es dafür stärker als bislang ein akteursübergreifendes Bekenntnis und sich ergänzende Maßnahmen. Bürger*innen können in ihrer Rolle als Konsumenten zwar gezielte Kauf- und Verzichtsentscheidungen treffen, jedoch nur, wenn das Angebot und die Rahmenbedingungen vorhanden sind. Hier sind Unternehmen und Politik gefragt, suffizientes Verhalten mittels entsprechender Serviceangebote bzw. politischer Weichenstellungen erleichtern. Wie Letzteres in der Praxis aussehen kann, zeigt das Bundesland Thüringen. Hier wird seit 2021 jährlich ein Reparaturbonus für Elektrogeräte in Höhe von 50 Prozent gewährt. Die Förderung ist auf 100 Euro pro Thüringer*in gedeckelt. Seit Einführung der Förderung wurden bereits über 30.000 Anträge bewilligt. Eine Untersuchung des Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM) zeigt dabei auf der einen Seite positive Effekte für die regionale Wertschöpfung, da Reparaturen häufig von Fachhändlern und Werkstätten durchgeführt werden. Auf der anderen Seite stehen ökologische Gewinne Dank des Reparaturbonus in Form von rund 3.000 Tonnen eingesparten CO2 Emissionen und circa 400 Tonnen Elektroschrott.

Trotz der positiven Erfahrungen in Thüringen sind vergleichbare Angebote bislang nur in Sachsen und Berlin zu finden und nicht bundesweit. Es ist dringend an der Zeit, dies zu ändern.

Wie die nachhaltige Transformation gelingen kann – ein Interview mit Oliver Wagner vom Wuppertal Institut

Die notwendige Nachhaltigkeitstransformation der Gesellschaft stellt eine immense Herausforderung dar. Kommunen als Orten des alltäglichen Lebens der Menschen wird dabei eine wichtige Rolle zugeschrieben. Zugleich sehen sich viele von ihnen aufgrund mangelnder Ressourcen und einer großen Aufgabenfülle als überlastet an. Welche ökonomischen Weichenstellungen braucht es mithin im föderalen Mehrebenensystem und welche Relevanz können Suffizienzstrategien bei der Lösung dieses Dilemmas haben? Diese Fragen werden im Interview mit Oliver Wagner erörtert.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Herr Wagner, Sie haben im Rahmen eines kürzlich beendeten Projektes des Wuppertal Instituts „Gute Beispiele für eine gelingende Transformation“ erforscht. Bitte erläutern Sie uns, worum es in diesem Projekt ging.
Oliver Wagner (OW): Mit dem Wahlkampf-Slogan „It’s the economy, stupid!“, gewann Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen. Seitdem wird dieser Spruch öfters auch abgewandelt verwendet, wie beispielsweise in der Stellungnahme des Rates für Nachhaltige Entwicklung „It’s the politics, stupid – Die Verantwortung von Staat und Gesellschaft für nachhaltige Lebenswelten“. Vor dem Hintergrund dieses Papiers wurde das Wuppertal Institut vom Rat für Nachhaltige Entwicklung beauftragt, Beispiele einer gelungenen Transformation zu recherchieren und daraus Gelingensfaktoren abzuleiten. Dabei sollten verschiedene Transformationsbereiche, also Verkehr, Ressourcen, Energie, Flächenverbrauch usw. adressiert werden. Wichtig war außerdem, dass verschiedene Politikinstrumente vorgestellt werden, welche die Daseinsvorsorge, Nachhaltige Infrastrukturen, den Um- bzw. Abbau umweltschädlicher Subventionen, das Feld der Sharing Economy, Ökonomische Anreiz- und Steuerungsinstrumente sowie ordnungsrechtliche, also regulatorische Instrumente berühren.
DUS: Wenn man auf die 14 im Projekt betrachteten Maßnahmen schaut, erkennt man, dass diese die drei Nachhaltigskeitsstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz berücksichtigen. In der Praxis wird letztere jedoch häufig etwas stiefmütterlich behandelt. Woran liegt das aus Ihrer Sicht und wie ließe sich das ändern?
OW: Erlauben Sie mir zunächst eine Einordnung der drei Säulen der Nachhaltigkeit. Eine vorwiegend technische Konsistenzstrategie, die durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz und die schnellen Markterfolge erneuerbarer Energien große Fortschritte erzielen konnte, ist in den Augen vieler Menschen Sinnbild der Energiewende. Doch für eine erfolgreiche Energiewende sind auch wirksame Effizienz- und Suffizienzstrategien notwendig. Diese beiden weisen jedoch bisher noch erhebliche Umsetzungsdefizite auf, vor allem die Suffizienz. Um es mit einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: wenn eine Photovoltaikanlage mit einem Batteriespeicher (Konsistenzstrategie) dazu genutzt wird, eine Vielzahl von LED-Strahlern zu betreiben (Effizienzstrategie), um im Vorgarten einer Reihenhaussiedlung die Gartenzwerge zu beleuchten, ist dies konsistent und effizient, es bleibt aber Verschwendung. Ohne Suffizienz ist daher die Gefahr groß, dass es zu einer effizienten Verschwendung kommt. Denn in dem Maße, wie technische Innovationen, beispielsweise Photovoltaik oder effiziente LED-Leuchtmittel, immer günstiger werden, nehmen deren Einsatzbereiche zu. In diesem Kontext hat sich auch unser Verständnis von Suffizienz verändert. Wurden darunter früher oftmals Verzichtsaspekte verstanden, reden wir heute vermehrt darüber, den Verbrauch lediglich nicht zu steigern. Denn wir sehen in sehr vielen Anwendungsbereichen, dass Klimaschutz- und Effizienzgewinne ausbleiben, weil beispielsweise die Kühlschränke, die Wohnfläche pro Person, die Bildschirmdiagonalen von Fernsehgeräten, die Autos usw. immer größer werden.

Aber um Ihre Frage zu beantworten, woran das liegt: Da ist mein Eindruck, dass dem Begriff Suffizienz noch zu stark das Stigma des negativen Verzichts anhaftet. Dass die Nachteile kommuniziert werden, die Vorteile aber nicht. Dabei liegen viele Vorteile auf der Hand und die zeigen sich vor allem in kooperativen Formen des Zusammenwirkens. Im gemeinsamen Nutzen, bis hin zu der persönlichen Beziehungsebene: Wer zu zweit oder sich mit noch mehr Leuten eine Wohnung teilt, braucht weniger Platz, weniger Ressourcen, weniger Energie und hat dennoch viele Vorteile, wie soziale Beziehungen, weniger Aufwand für Hausarbeit usw. Wer statt alleine mit dem Auto zu fahren den Bus nimmt, kann die Fahrtzeit nutzen, um andere sinnvolle Dinge zu erledigen, zu lesen oder zu arbeiten und braucht am Ende nicht einmal einen Parkplatz suchen. So gibt es viele Beispiele, doch ihnen wohnt immer auch eine Ermöglichungsvoraussetzung inne. Wenn der Bus nicht fährt oder nicht so fährt, wie ich ihn brauche, wenn er überfüllt, vielleicht sogar dreckig und überfüllt ist, dann schwinden die Vorteile schnell dahin. Wenn es für ein Paar teurer wird, nach dem Auszug der Kinder eine kleine Wohnung zu mieten, als in der viel zu großen alten Wohnung zu bleiben, dann ist der Vorteil ebenso futsch, wie in dem Fall, wo eine Reparatur teurer ist als die Neuanschaffung. Kurzum: Die Rahmenbedingungen für einen suffizienten Lebensstil sind trotz vieler Vorteile schlecht. Das liegt auch daran, dass wir in einem auf Wachstum getrimmten System leben, in dem es von allem immer mehr braucht.

Im Bericht zeigen wir mit unseren Beispielen, dass Politik dennoch Gestaltungsmöglichkeiten hat, um Suffizienzanreize für Bürger*innen zu setzen. Unsere Beispiele zeigen, dass Anreize gegeben werden können, die zu einer individuellen Verhaltensänderung führen, die mit weniger Energie- beziehungsweise Ressourcenverbrauch verbunden ist. Das sind z.B. Ermöglichungsstrukturen wie beim kostenfreien ÖPNV, der Bibliothek der Dinge, durch Autostilllegungsprämien und kommunale Wohnraumagenturen.

DUS: In Ihrem Forschungsvorhaben setzen Sie sich auch mit den Wechselwirkungen zwischen Kommunal- und Bundesebene auseinander. Ist das föderale System aus Ihrer Sicht eher ein Vor- oder Nachteil bei der Umsetzung von Transformationsprozessen zur Stärkung der Nachhaltigkeit?
OW: Wichtig ist zunächst einmal deutlich zu machen, dass Transformationsprozesse vor allem in den Kommunen operational umgesetzt werden. Die Kommunen sind somit im föderalen System zentrale Transformationsakteure. Im Kern ist das föderale System ein Vorteil, denn die Kommunen sind viel näher an den Menschen und der täglichen Lebensrealität, den Herausforderungen und Freuden als die Landes- oder Bundesebene. Sie sind aber auch strukturell unterfinanziert und benötigen daher dringend den finanziellen Spielraum, den es für diese wichtigen Aufgaben braucht. Derzeit erleben aber viele Menschen den Staat, allen voran die Kommunen, als umsetzungsschwach in Bezug auf Transformationsaufgaben. Die Kommune ist dabei der Ort, wo die meisten Menschen den Staat unmittelbar erleben, denn dort gehen sie oder ihre Kinder zur Schule, dort müssen sie ins Rathaus oder treffen sich zum Vereinssport in einer städtischen Sporthalle oder einem Schwimmbad. Da ist dann oftmals nicht zu erkennen, dass die öffentlichen Einrichtungen ihrer Vor- und Leitbildfunktion ausreichend nachkommen. Die Sorge, dass der Staat zentrale Dienstleistungen nicht mehr zufriedenstellend bereitstellt, weil z. B. öffentliche Gebäude und Infrastrukturen baufällig und sanierungsbedürftig sind, der ÖPNV eingeschränkt wird, Bücken einstürzen und Schultoiletten stinken ist ja leider nicht unbegründet. Für ein Gelingen der Transformation kommt es aber darauf an, Zukunftsinvestitionen in technische, sowie soziale und kulturelle Infrastrukturen anzustoßen, vor allem in den Kommunen.

Das Dezernat Zukunft – Institut für Makrofinanzen hat kürzlich zusammengetragen, was in den verschiedenen Ebenen insgesamt an Investitionen nötig wäre und kommt dabei auf einen zusätzlichen Bedarf von 782 Milliarden Euro bis 2030, wovon 210 Milliarden allein auf die Kommunen fallen. Die größten Mehrbedarfe ergeben sich im Bereich der allgemeinbildenden Schulen, wo 57,1 Milliarden Euro zusätzlicher Mittel benötigt werden, um den Investitionsrückstand abzubauen, weitere 9,0 Milliarden Euro werden an Schulen für die Digitalisierung gebraucht. Damit wäre dann der Investitionsstau beseitigt, Klimaneutralität wäre aber noch nicht erreicht.

Ein Grund für die schlechte Haushaltslage der Kommunen ist darin zu sehen, wie die öffentlichen Steuereinnahmen im politischen Mehrebenensystem verteilt werden. Wir sehen hier eine strukturelle Steuerungerechtigkeit auf der Einnahmenseite. Im Grunde fehlt es den Kommunen an allem: Sie haben zu wenig Geld, um die Transformationsaufgaben zu stemmen und selbst wenn es attraktive Förderprogramme gibt, haben sie oft zu wenig Personal, um Fördermittel zu beantragen. Im interkommunalen Wettbewerb machen sich die Kommunen sogar noch gegenseitig Konkurrenz, um möglichst geringe Hebesetze bei der Gewerbesteuer, um billiges Land für Unternehmensansiedlungen und so weiter. So dominiert unter den Kommunen quasi ein Preiswettbewerb. Statt eines Qualitätswettbewerbs um die schönsten Grünanlagen, das reichhaltigste Kulturangebot, den besten ÖPNV und die hochwertigsten Schulgebäude, zählt vor allem der „billige Jakob“, weil damit die Hoffnung verbunden wird, Arbeitsplätze zu schaffen.

DUS: Eine Reihe von Beispielen – u. a. verkehrsberuhigte Bereiche – zeigen, dass insbesondere suffizienzbasierte Nachhaltigkeitsmaßnahmen in der Gesellschaft schnell auf Akzeptanzprobleme stoßen können. Inwieweit kann aus Ihrer Erfahrung die Einbindung der Bürger*innen bei der Maßnahmenwahl und -ausgestaltung Widerstände verringern respektive die Zustimmung zu Veränderungsprozessen sogar erhöhen?
OW: Diese Frage ist schnell beantwortet, denn wir haben festgestellt, dass die Einbindung der Bürger*innen, der Unternehmer*innen und insgesamt möglichst vieler Akteure ein zentraler Gelingensfaktor ist. Es zeigt sich deutlich, dass insbesondere solche Maßnahmen eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz genießen, die sich durch die Einbindung und Vernetzung von Zivilgesellschaft, Verwaltung, Politik und Wirtschaft auszeichnen, denen es mithin gelungen ist, unter Beteiligung verschiedener gesellschaftlicher Akteur*innen umgesetzt worden zu sein.
DUS: Dem Projektbericht ist zu entnehmen, dass die hohe Schuldenlast der Kommunen deren Investitionsfähigkeit erheblich beeinträchtigt. In welcher Weise sollte dieses Dilemma im Zuge des aktuell verhandelten Schuldenpakets bedacht werden?
OW: Sie verwenden den Begriff „Schuldenpaket“ und das ist schon einmal ein grundsätzlich falscher oder zumindest irreführender Begriff. Denn wenn wir nicht investieren, sind die Schulden noch viel höher. Wenn wir zukünftigen Generationen kaputte Schienenwege, marode Brücken defekte Ampelanlage und Schulen hinterlassen, bei denen es durchs Dach regnet, dann ist doch für niemanden etwas gewonnen. Völlig zurecht wird daher auch von einem „Sondervermögen“ gesprochen. Es ist gut, dass die alte Schuldenbremse abgeschafft wurde. Denn es macht einen riesigen Unterschied, ob das Geld für investive oder für konsumtive Ausgaben verwendet wird. Von den Investitionen in die öffentliche Infrastruktur profitieren ja auch zukünftige Generationen und daher ist es auch gerechtfertigt, dafür Schulden zu machen. Anders verhält es sich bei konsumtiven Ausgaben, denn diese Ausgaben stiften keinen Nutzen für die Zukunft sonders nutzen nur im Moment ihres Verbrauchs. Wir können sogar mit den investiven Ausgaben von heute die konsumtiven Ausgaben der Zukunft reduzieren: indem wir Energieeinsparmaßnahmen finanzieren und umsetzen werden nämlich die konsumtiven Ausgaben für der Zukunft reduziert. Die Heizungssanierung und die Wärmedämmung eines Kindergartens erspart uns in Zukunft Kosten für Energie. Bei der Schuldenbremse wurde diese wichtige Unterscheidung bislang nicht gemacht und in der Diskussion taten manche so, als wolle man mit Schulden Champagnerparties veranstalten. Es macht aber einen großen Unterschied, ob mit dem Geld Gehälter, Renten und Energierechnungen beglichen werden oder ob es für Schulsanierungen und Bahngleise und Brücken ausgegeben wird.

Über den Interviewpartner

Oliver Wagner ist am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie als Co-Leiter des Forschungsbereichs Energiepolitik tätig. Seit 1995 arbeitet der diplomierte Sozialwissenschaftler dort zu verschiedenen Fragestellungen rund um das Thema Klimaschutz und Energieeinsparung. Seine Arbeitsschwerpunkte reichen von kommunaler Energiespar- und Klimaschutzpolitik, über Instrumente zur Bekämpfung von Energiearmut, bis hin zur Bildung für nachhaltige Entwicklung im Themenfeld Klimaschutz. In zahlreichen Veröffentlichungen, beispielsweise als Mitautor des Spiegel-Bestsellers „Earth for All – Deutschland“ und in zahlreichen Projektarbeiten hat Oliver Wagner die Bedeutung von dezentralen Akteuren und zivilgesellschaftlichen Initiativen für den Klimaschutz herausgearbeitet. Er verfügt über umfangreiche Erfahrungen als Mitglied in diversen Beratungs- und Aufsichtsratsgremien.

Suffizienz im Quartier – Anregungen für kommunale Akteure

Brände in Kalifornien, Überschwemmungen in Saudi-Arabien, im vergangenen Sommer Starkregen in Deutschland – die Klimakrise ist in den Nachrichten und unserer Umgebung allgegenwärtig. Viele Menschen verspüren den Wunsch, ein suffizienteres Leben zu führen, das sich innerhalb der planetaren Grenzen bewegt und unsere Erde schützt. 

Doch die Vorstellung, den gesamten Alltag und das eigene Konsumverhalten radikal auf den Kopf zu stellen, hält viele davon ab, es zu versuchen. Die Aussicht, sich spontan drastisch verändern zu müssen, wirkt überfordernd und abschreckend. Dabei können bereits kleine Veränderungen und Aktionen im eigenen Kiez einen Beitrag zur ökologischen Transformation unserer Städte leisten. Die steigende Umweltqualität trägt wiederum zu einer höheren Lebensqualität im Quartier bei und gemeinsame ehrenamtliche Anstrengungen fördern zugleich das soziale Miteinander sowie den lokalen Zusammenhalt.

Kommunen als Ermöglicher
Nicht immer kann dies jedoch vollständig selbstorganisiert gelingen. Sicherlich man kann sich in der Nachbarschaft, mit Freund*innen und Bekannten über eine zukunftsgerechte Reiseplanung austauschen oder Gartengeräte gemeinsam nutzen. Doch sobald es noch handfester werden soll, braucht es schnell dauerhafte Räumlichkeiten oder Flächen und eine grundlegende Ressourcenausstattung, um Mikroprojekte wie bspw. einen Gemeinschaftsgarten im Quartier dauerhaft umzusetzen. Hier können kommunale Akteure wie Fachämter, aber auch Wohnungsbaugesellschaften und lokale Organisationen eine wichtige Rolle einnehmen und gleichzeitig selbst von den Ergebnissen profitieren.

Anregungen und konkrete Projektvorschläge, wie diese „Rolle eines Ermöglichers“ aussehen kann und welche kommunalen Akteur*innen dafür infrage kommen, bietet die kürzlich erschienene Handreichung SUPRA-STADT-Toolbox. Sie wurde im Rahmen des gleichnamigen Projektes vom Institut für Energie und Umweltforschung Heidelberg (IFEU) entwickelt.

Sie stellt fünf Projektideen detailliert vor, mit denen ein Beitrag zu einer partizipativen sozial-ökologischen Transformation im Quartier geleistet werden kann. Dabei wird anschaulich erklärt, welche Akteur*innen als Initiator*innen und Träger*innen des Projektes infrage kommen, wer die Zielgruppen und Profiteur*innen des Vorhabens sein können, wie die Vorhaben exemplarisch umgesetzt werden können und mit welchem Ressourcenaufwand zu rechnen ist.

Suffizienz im Quartier stärken 
Exemplarisch sollen nachfolgend drei Beispiele aus der Handreichung zur Verdeutlichung vorgestellt werden:

Gemeinsam Gärtnern im Quartier ist ein längerfristig angelegtes Projekt. Im Rahmen von Workshops und Mitmachaktionen rund um den naturnahen Anbau erlernen die Teilnehmenden grundlegende gärtnerische Kompetenzen und betätigen sich gemeinsam beim Bestellen von Beeten, Unkraut jäten und natürlich der Ernte. Ziel ist es einerseits, unmittelbaren Zugang zu frischen und gesunden Lebensmitteln wie Obst und Gemüse zu ermöglichen. Andererseits werden tragfähige Strukturen durch die weitgehend selbstorganisierte Bewirtschaftung der genutzten Flächen geschaffen, der soziale Zusammenhalt,  die nachbarschaftliche Vernetzung und das Gefühl der Selbstwirksamkeit bei den Beteiligten gestärkt. Das Projekt kann von Wohnungsgesellschaften, kommunalen Akteur*innen und Ämtern aber auch Stadtentwicklungsbüros ins Leben gerufen und betreut werden.

Fahrrad fahren ist gesund und gut bekanntlich gut für die Umwelt. Doch was tun, wenn der alte Drahtesel defekt ist? Die Idee der Rad-Checks setzt hier an. Sie fördern nachhaltige Mobilität, indem im Quartier kostenlose, regelmäßige Reparaturangebote für Fahrräder gemacht werden. Die Teilnehmenden lernen unter Anleitung von Freiwilligen, selbstständig kleinere Reparaturen durchzuführen, wodurch sie nicht nur Geld sparen, sondern auch neue Fähigkeiten erwerben. Neben dem Spaß am Selbermachen steht auch bei diesen Aktivitäten der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund – denn das informelle Lernen stärkt zugleich den Zugehörigkeitssinn im Quartier. 

Das Format der Klimanachbarschaft umfasst eine mehrteilige Veranstaltungsreihe, die Themen wie nachhaltige Ernährung, Mobilität, Energie und Konsum aufgreift. Ziel ist es, den Teilnehmenden zu zeigen, wie sie ressourcenschonendes Verhalten in ihren Alltag integrieren können. Beispiele aus der Praxis reichen von Repair-Cafés über Workshops zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung bis hin zu Mitmachaktionen wie der „Naturwerkstatt“, in der Kinder spielerisch nachhaltige Praktiken entdecken. Ein zentrales Element der Klimanachbarschaft sind regelmäßige offene Treffen, wie etwa ein Klimacafé, das Raum für Austausch und Reflexion bietet. Hier können Nachbar*innen auch praktische Tools wie CO₂-Fußabdruckrechner nutzen, um ihren eigenen Beitrag zum Klimaschutz zu ermitteln. Die Veranstaltungen können beispielsweise von Vereinen oder Akteur*innen des Bildungsbereichs durchgeführt und individuell auf die Bedarfe im jeweiligen Kiez angepasst werden.

Gemeinsam mehr bewegen
Die in der Publikation SUPRA-STADT-Toolbox vorgestellten Projektideen sind ein schöner Beleg für die Möglichkeiten, die Kommunen mit relativ wenig Ressourcenaufwand haben, um Menschen im Quartier bei der Erprobung suffizienter Verhaltensveränderungen zu unterstützen. Sie zeigen zudem, dass derartige Vorgaben eine doppelte Rendite erwirtschaften: Sie stärken den sozialen Zusammenhalt und leisten einen Beitrag zur Nachhaltigkeit. Ein Gewinn für die Kommunen und ihre Bewohner*innen.

Gutes Leben, fair verteilt: Warum Suffizienz uns weiterbringt

Der Januar 2025 war der wärmste jemals global gemessene. Die ermittelte Durchschnittstemperatur lag 1,75 Grad über dem vorindustriellen Niveau. Dass es sich hierbei nicht um einen Ausreißer handelt, zeigt ein kürzlich erschienener Bericht des Expertenrats für Klimafragen. Er macht deutlich, dass die bisherigen deutschen Maßnahmen nicht ausreichen werden, um die Klimaziele zu erreichen. Dies führt eindrücklich vor Augen, dass es neuer Ansätze und Strategien bedarf. Doch wie könnten diese aussehen?

Einen möglichen Lösungspfad skizziert die Arbeit des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), einem unabhängigen Gremium, das die Bundesregierung in umweltpolitischen Fragen berät. Dieser veröffentlichte im März 2024 dazu ein Thesenpapier mit dem Titel „Suffizienz als „Strategie des Genug“: Eine Einladung zur Diskussion“

Basierend auf der oben genannten Veröffentlichung hielten Mitarbeiter*innen bzw. Mitglieder des SRU unlängst zwei Vorträge. Am 27. Januar sprach Prof. Dr. Wolfgang Lucht im Münchner Forum für Nachhaltigkeit über „Suffizienz und ökologische Demokratie: Innerhalb der planetaren Grenzen leben“. Nur wenige Tage später, am 30. Januar, veranstalteten Dr. Julia Michaelis und Bendix Vogel im Rahmen der Initiative Klimagerecht Leben ein Suffizienz-Webinar – ein erster Auftakt für die vom SRU angestrebte breite Debatte.

Im Folgenden sind die wichtigsten Erkenntnisse aus beiden Vorträgen zusammengefasst.

Warum brauchen wir Suffizienz?

Nach Ansicht der Referent*innen leben heutige Industrie- und Konsumgesellschaften weit über ihre ökologischen Verhältnisse hinaus, was bereits deutliche Auswirkungen habe. So gelten aktuell sechs der neun planetaren Grenzen als überschritten, wodurch auch das Risiko einer Destabilisierung des Klimas und der Ökosysteme weiter ansteige. Der bislang vorherrschende Fokus auf Effizienzsteigerungen zu Lasten von Konsistenz- und Suffizienzbemühungen werde laut SRU allein nicht ausreichen, um effektiv gegenzusteuern. Zudem zeige die Praxis, dass Effizienzstrategien anfällig für Reboundeffekte seien: So komme es durch Effizienzsteigerungen zwar zu Einsparungen von Energie oder Ressourcen, allerdings bewirkten dadurch entstehende Vorteile wie Kosteneinsparungen, dass Endverbraucher*innen dazu neigen, mehr zu verbrauchen. 

Der SRU sieht Suffizienzbemühungen daher als zentralen Bestandteil eines gesellschaftlichen Wandels, der nötig sei, um innerhalb der planetaren Grenzen zu bleiben. Deutschland trage als hoch entwickeltes Industrieland eine besondere Verantwortung für die ökologischen Missstände. Das faire CO₂-Budget zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad, sei bereits überschritten. Zwar sinken die Emissionen langsam, doch das erforderliche Reduktionsniveau sei noch längst nicht erreicht.

Auf sozialer Ebene führe dieses Verhalten und die aktuellen Strukturen nach Einschätzung des SRU zu einem moralischen Dilemma: Für den hohen Emissionsausstoß seien vor allem wohlhabende Bevölkerungsschichten im globalen Norden verantwortlich, am meisten würden allerdings vulnerable Bevölkerungsgruppen im globalen Süden unter den Umweltkrisen leiden. So emittiere Afrika beispielsweise nur 4 Prozent aller globalen CO2-Emissionen, sei allerdings besonders von den Folgen des Klimawandels betroffen. Diese Ungleichheit zwischen Verursachern und Betroffenen widerspricht laut Prof. Dr. Lucht den europäischen Werten von Gleichheit und Solidarität. Letztlich sei Suffizienz eine Frage der Menschenrechte: Der moralische Mindestanspruch müsse es sein, nicht auf Kosten anderer zu leben. „Und zwar geht es eigentlich um ein Leben in Würde für alle, letztlich nicht nur für andere, sondern auch für uns“, fasst es der Experte zusammen.

Wege zur Veränderung

Die Referent*innen betonten: Um den ökologischen und sozialen Herausforderungen zu begegnen, sei eine grundlegende Transformation gesellschaftlicher Handlungsmuster notwendig. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssten gemeinsam Lösungen entwickeln, um eine lebenswerte und gerechte Zukunft zu sichern. Prof. Dr. Lucht betonte die Notwendigkeit der Entwicklung konkreter politischer Maßnahmen auf systemischer Ebene, die suffiziente Verhaltensweisen ermöglichen und attraktiv machen. Gleichzeitig könnten umweltschädigende Aktivitäten stärker besteuert werden, schlug Dr. Michaelis vor. 

Doch eine solche Veränderung dürfe nicht auf Kosten individueller Freiheiten gehen – vielmehr müsse sie darauf abzielen, Rechte und Ansprüche in ein faires Gleichgewicht zu bringen. Genau hier setze Suffizienz an: Ihr Ziel sei es, zu verhindern, dass der ressourcenintensive Lebensstil einiger auf Kosten anderer gehe und Menschen dadurch in ihren Rechten und Freiheiten eingeschränkt würden. Der Gesetzgeber trüge die Verantwortung, diesen Ausgleich zu gewährleisten – nicht nur zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch mit Blick auf zukünftige Generationen. Maßnahmen zur Suffizienz, insbesondere Beschränkungen oder Verbote, müssten jedoch gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Dr. Lucht sieht diese große Transformation als Aufgabe der Demokratie: „[Sie] muss beweisen, dass sie das kann, sonst hat Demokratie versagt an einer historischen Menschheitsaufgabe; den Planeten zu stabilisieren [und] die Umwelt für nachfolgende Generationen […] zu bewahren.”

Wirtschaftliche Herausforderungen

Nach Auffassung des SRU basiere das aktuelle Wirtschaftssystem auf stetigem Wachstum – mit immer weiter steigendem Ressourcenverbrauch von beispielsweise Wasser und Düngemitteln. Stoffströme seien häufig linear und nicht zirkulär, und würden so Ressourcen und Energie verschwenden. „Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt unmöglich“, wurde als eine der Kernaussagen deutlich. Dies erfordere ein Umdenken bestehender Strukturen. Da individuell nachhaltige Konsumentscheidungen durch komplexe Strukturen in Herstellungsprozessen oder Lieferketten erschwert würden, müsse hier eine klare staatliche Regulierung erfolgen. 

Prof. Dr. Lucht und Dr. Michaelis plädieren aufgrund dessen für ein neues Wohlfahrtsverständnis, das über rein materiellen Konsum und das Bruttoinlandsprodukt hinausgeht. Aspekte wie Umweltqualität, soziale Gerechtigkeit und Bildungschancen seien mögliche Indikatoren, um das Wohlergehen der Bürger*innen zu veranschaulichen. Auch kulturelle Leitbilder und gesellschaftliche Normen können suffiziente Verhaltensweisen fördern – etwa durch Lifestyle-Bewegungen wie Radfahren oder eine pflanzenbasierte Ernährung. Eine weitere Option für suffizientes Handeln im Privatbereich liege in der Flächennutzung. Häuser auf Brachflächen zu bauen, statt auf grünen Wiesen oder je nach Bedarf in eine kleinere Wohnung zu ziehen, nannten Dr. Michaelis und Herr Vogel als nachhaltige Praktiken.

Fazit
Die SRU-Vorträge zeigten: Suffizienz als „Strategie des Genug“ kann ein entscheidender Ansatz sein, um ökologische und soziale Herausforderungen gemeinsam anzugehen. Um effektiv zu wirken, brauche es jedoch aus Sicht der Referent*innen ein besseres Zusammenspiel von Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft als bislang. Ein offener und kontinuierlicher Dialog über Suffizienz sei zudem entscheidend, um bestehende Konzepte weiterzuentwickeln und gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema aufzubauen. 

Insgesamt wurde übergreifend deutlich: Suffizienzstrategien bieten großes Potenzial für eine gesellschaftliche Transformation hin zu einer ressourcenschonenden, umweltschützenden und zugleich gerechteren Zukunft. Dazu muss das Thema jedoch vermehrt auf struktureller und systemischer Ebene in den Fokus genommen werden und nicht bloß auf der Ebene des Individuums. Der Einsatz kann sich lohnen: Es winkt ein Leben in Würde für alle Menschen innerhalb der planetaren Grenzen.