„Raus aus der Kunststofffalle“ – E-Paper zur Plastikproblematik

Im E-Paper„Raus aus der Kunststofffalle“ von Juni 2020 plädiert die Deutsche Umweltstiftung für einen radikalen Wandel im Umgang mit Kunststoffen, stellt alternative Lösungen auf den Prüfstand und richtet konkrete Forderungen an die Politik.

Wir alle kennen die Bilder: Paradiesische Strände, an denen mehr und mehr Plastikmüll angespült wird, riesige Müllhalden, auf denen sich der Kunststoff meterhoch stapelt. Das Problem des Plastikmülls ist mittlerweile allgegenwärtig. Jeder Supermarktbesuch führt uns das vor Augen. Obst, Gemüse, Brot oder Käse – fast alles ist in Plastik verpackt. Dementsprechend ist es kaum verwunderlich, dass jede*r Deutsche im Jahr 2017 durchschnittlich 226,5 kg Verpackungsmüll verursachte.

Doch es gibt nicht nur diese offensichtlichen Auswirkungen auf die Umwelt. Kunststoff stellt aktuell in fast allen Bereichen des Lebens eine Gefahr für uns und unsere Umwelt dar. Kunststoffe sind ein Verpackungsmaterial mit hohen ökologischen Kosten, schlechter Klimabilanz und massiven Beeinträchtigungen für Umwelt und Gesundheit.

Kunststoff als Katalysator des Klimawandels

Der komplette Lebenszyklus eines Kunststoffproduktes verursacht laut des Center for International Environmental Law etwa 850 Millionen Tonnen Treibhausgase. Verantwortlich dafür sind vor allem fossile Brennstoffe, die Grundbestandteil der meisten Kunststoffe sind. Außerdem werden Treibhausgase freigesetzt, wenn Plastikteile im Meer dauerhafter Sonneneinstrahlung ausgesetzt sind. Des Weiteren zersetzen sich die Plastikartikel im Meer in kleinste Teile, sogenanntes Mikroplastik, das Mensch, Tier und Natur schadet.

Quelle: Dustan Woodhouse über Unsplash

Recyclingprozesse konnten die Plastikproblematik bisher nicht gänzlich lösen, das machen die großen Mengen Kunststoffmüll in der Umwelt deutlich. Insbesondere wenn Produkte aus Verbundstoffen statt aus reinem Kunststoff bestehen, gestaltet sich Recycling schwierig, da die Trennung der verschiedenen Stoffe zeitintensiv und teuer ist.

Auch sogenanntes Bio-Plastik als potenzieller Ersatz für umweltschädliche Kunststoffe weist Schwächen auf. So gilt die biologische Abbaubarkeit der Produkte häufig als kompliziert und durch die Produktion kann es zum Verbrauch wertvoller Lebensmittelressourcen kommen.

Vermeiden, Reduzieren, Ersetzen: Wege aus der Kunststofffalle

Was können wir nun also tun, um das Plastikproblem zu lösen? Vermeiden, Reduzieren und Ersetzen – diese Prämissen ebnen den Weg aus der Kunststofffalle.

Wie im E-Paper dargelegt, kann Plastikvermeidung im Alltag sehr einfach sein. Zum Baumwollbeutel statt zur Plastiktüte oder zur Mehrweg- statt zur Einwegflasche zu greifen, kann beispielsweise helfen, den Plastikverbrauch zu reduzieren.

Kunststoff kann außerdem hervorragend eingespart werden, indem der eigene Konsum reduziert wird. Das zeigt die unten dargestellte Anti-Verbraucher-Pyramide. Sie verkörpert den Suffizienzgedanken: Nicht immer muss alles neu gekauft werden. Wir können Energie- und Rohstoffverbrauch sowie Abfall reduzieren, indem wir darüber nachdenken, ob wir etwas nutzen können, das wir bereits besitzen. Ist das nicht der Fall, können wir es eventuell selbst machen, tauschen, leihen oder gebraucht erwerben. Dennoch wird sich das Neukaufen bestimmter Dinge nie gänzlich vermeiden lassen. Daher beleuchtet das E-Paper die Vor- und Nachteile von Substitutionsprodukten für Kunststoffe wie Wellpappe oder Glasbehälter.

Die Anti-Verbaucher-Pyramide zeigt, wie Suffizienz im Alltag möglich ist.

Die Deutsche Umweltstiftung legt im E-Paper folgende Forderungen an die Politik dar:

  • Gestaltung der Rahmenbedingungen, die einen Wandel in Produktion, Verbrauch und Entsorgung ermöglichen
  • Schaffung finanzieller Anreize für Unternehmen, damit eine Umstellung auf Wellpappe oder andere Alternativen gelingt
  • Ausbau der Forschungsförderung
  • Spürbare Besteuerung der Kunststoffverpackungen
  • Ausweitung des EU-Verbot für Plastikeinwegprodukte auf alle Plastikprodukte für die es eine Alternative gibt
  • Bis 2025 30 Prozent der Kunststoffverpackungen durch umweltfreundliche Alternativen ersetzen

Alle Forderungen der Deutschen Umweltstiftung sowie weiterführende Informationen findet ihr im E-Paper.

Quellen:
Center for International Environmental Law (2019): „Plastic & Climate: The Hidden Costs of a Plastic Planet”. URL: https://www.ciel.org/plasticandclimate.
Deutschlandfunk (31.10.2018): Plastikmüll im Meer verursacht Treibhausgase. URL: https://www.deutschlandfunk.de/kli-mawandel-plastikmuell-im-meer-verursacht-treibhausgase.676.de.html?dram:article_id=431970.
Umweltbundesamt (18.11.2019): Verpackungsverbrauch im Jahr 2018. URL: https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/verpackungsver-brauch-im-jahr-2017-weiter-gestiegen.
Umweltbundesamt (2014): „Abfälle im Haushalt: Vermeiden, Trennen, Verwerten“. URL: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/uba_abfall_web.pdf.
Umweltbundesamt (2017): „Tüten aus Bio-Plastik sind keine Alternative“, URL: https://www.umweltbundesamt.de/themen/tueten-aus-bioplastik-sind-keine-alternative
Abfallvermeidungsprogramm“, Broschüre des BMU, https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Pools/Broschueren/abfallvermeidungsprogramm_bf.pdf.
Verbraucherzentrale (2018): „Gefahren für die Gesundheit durch Plastik“. URL: https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/umwelt-haushalt/wohnen/gefahren-fuer-die-gesundheit-durch-plastik-7010.

Das Schweizer Klimabündnis und die Suffizienz-Toolbox für Gemeinden

Das Klimabündnis Europa wurde 1990 gegründet und ist seitdem zu einem bedeutenden umwelt- und energiepolitischen Akteur herangewachsen, in dem über 1700 europäische Städte und Gemeinden agieren. Ihr Ziel ist es, regionale Antworten auf den globalen Klimawandel zu finden und Suffizienz auf lokaler Ebene zu fördern.

Die Schweizer Mitglieder haben sich 1995 noch einmal gesondert zum Klimabündnis Schweiz zusammengeschlossen, die 18 Mitglieder und 1,3 Millionen Einwohner*innen machen rund 15% der Schweizer Bevölkerung aus. Sie haben sich verpflichtet, zusätzliche klimaschonende Maßnahmen zu ergreifen und möchten sicherstellen, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens in der Schweiz eingehalten werden.

Das Klima- Bündnis Schweiz hat unter anderem das Ziel, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten.

Ein weiteres Ziel ist, mit der öffentlichen Hand Rahmenbedingungen zu schaffen, die ressourceneffiziente und suffiziente Lebensstile begünstigen. Durch ihre Nähe zur Bevölkerung haben Städte und Gemeinden verschiedene Möglichkeiten, eine ökologische Lebens- und Wirtschaftsweisen zu fördern: sie können Initiativen aus der Bevölkerung unterstützen, durch planerische und gesetzliche Vorgaben einen geeigneten Entwicklungsrahmen festlegen und selber eine Vorbildrolle übernehmen.

Dazu wurde zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Pusch, einer Schweizer Stiftung für praxisnahe Umweltbildung, und EBP, einem Unternehmen für Umweltforschung, die Suffizienz-Toolbox ins Leben gerufen. Diese liefert Ideen und Tipps, wie Gemeinden die Weichen für eine ressourcenschonende und lebenswerte Zukunft stellen können. Dies geschieht durch eine Kombination aus Vorschlägen und Beispielen aus der Praxis. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, ein Verzeichnis mit Anlaufstellen zur Reparatur alter Elektrogeräte anzulegen und bereits existierende Verzeichnisse zur Inspiration verlinkt. Darüber hinaus gibt es noch die Kategorien Konsumgüter, Raumnutzung, Energie, Ernährung, Mobilität, und Partizipation, die einen umfassenden Überblick über relevante Umweltschutzbereiche bieten. Natürlich soll die Toolbox nicht nur Gemeinden zur Verfügung stehen, sondern auch Bürger*innen einladen, sich zu engagieren und ihre Stadt aktiv mitzugestalten. Neben den verbesserten Rahmenbedingungen für ökologische Lebensweisen werden Einwohner*innen so für das Thema sensibilisiert.

Solche Initiativen sind eine wichtige Brücke, um international beschlossene Klimaschutzmaßnamen lokal zu verankern und die Bevölkerung von ihrer Notwendigkeit zu überzeugen. Durch den Mitmach-Aspekt werden Umweltschutzmaßnamen greifbarer und verdeutlichen, dass auch Einzelpersonen etwas verändern können.

Falls ihr euch selber auch von der Toolbox inspirieren lassen möchtet, findet ihr diese hier, mehr Informationen über das Schweizer Klimabündnis sind hier.

Die 2000-Watt-Gesellschaft der Stadt Zürich- Interview mit dem Umwelt- und Gesundheitsschutz

In Zürich ist der Wunsch nach einer nachhaltigeren Gesellschaft in der Gemeindeordnung verankert. Durch unterschiedliche Maßnahmen und Anreize der Stadtverwaltung, soll der Energieverbrauch der Bevölkerung verringert werden. Die Lebensqualität hingegen soll darunter nicht leiden. Tina Billeter erklärt wie dieses Modell funktioniert und was sich in Zürich dadurch verändert hat.

Der Weg zu einer suffizienten Gesellschaft

Deutsche Umwelstiftung: Sie wenden in Zürich das Modell 2000-Watt-Gesellschaft an. Um was genau handelt es sich und was sind die Ziele?

Tina Billeter: Die 2000-Watt-Gesellschaft ist ein energie- und klimapolitisches Ziel, um eine messbar nachhaltige und umweltfreundliche Gesellschaft zu werden. Dieses Ziel wurde bereits 2008 aufgrund einer demokratischen Volksabstimmung in der Gemeindeordnung der Stadt Zürich verankert. Konkret bedeutet es, dass der Primärenergiekonsum auf 2000 Watt pro Person und der Treibhausgasausstoss bis 2050 auf 1 Tonne pro Person und Jahr gesenkt wird. Energieeffizienz, erneuerbare Energien und die nachhaltige Ernährung werden gefördert; auf Atomkraft verzichtet.

Deutsche Umweltstiftung: In dem Ergebnisbericht „Suffizienz: Ein handlungsleitendes Prinzip zur Erreichung der 2000-Watt-Gesellschaft“ der Arbeitsgruppe Suffizienz, sprechen Sie darüber, dass Suffizienz neben Effizienz und Konsistenz einen erheblichen Einfluss auf die Realisierung der 2000-Watt-Gesellschaft hat. Wieso ist dies der Fall?

Tina Billeter: Im Masterplan Energie sind die drei handlungsleitenden Prinzipien festgehalten: Suffizienz, Effizienz, Konsistenz. Diese beruhen auf Analysen und Szenarien, die u.a. in der Roadmap 2000-Watt-Gesellschaft festgehalten sind: Sie zeigten, dass alleine mittels der zwei Stellschrauben Effizienz und Konsistenz die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft nicht erreicht werden können. Deshalb müssen wir verstärkt auf die Genügsamkeit setzen. Ohne Verringerung des Energie- und Ressourcenverbrauchs können wir den Primärenergiekonsum nicht auf 2000 Watt reduzieren und die Treibhausgasemissionen nicht in den Griff bekommen.

Deutsche Umweltstiftung: Wenn wir von Suffizienz sprechen, ist oftmals Verzicht gemeint. Wie kann der Begriff Verzicht, der in der Regel negative Konnotationen hervorruft, in die Gesellschaft getragen werden?

Tina Billeter: Zurzeit ist die Multifunktionalität im urbanen Kontext nicht negativ konnotiert. Sie zielt aber auf eine Mehrfachnutzung von limitierten Ressourcen und Räumen (z.B. Mindestbelegungsvorgabe in städtischen Wohnungen). Die ‚Stadt der kurzen Wege‘ klingt ebenfalls nach Lebensqualität: Erholungsräume in unmittelbarer Umgebung, Einkaufsmöglichkeiten und Märkte in Gehdistanz, Arbeitswege per Fahrrad, Schulen und Bibliothek um die Ecke. Die Stadt versucht, suffiziente Massnahmen positiv erlebbar zu machen – ohne dies als Suffizienz direkt beim Namen zu nennen.

Deutsche Umweltstiftung: In welchen Lebensbereichen sollte Suffizienz Ihrer Meinung nach zuerst umgesetzt werden?

Tina Billeter: Wir müssen verstärkt auf Suffizienz-Massnahmen setzen, wo die grösste Treibhausgasreduktion bewirkt werden kann: Konsum, Gebäude, Mobilität.

Deutsche Umweltstiftung: Die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft sind schon seit gut zehn Jahren in der Stadtplanung verankert. Was hat sich seither getan? Welche Erfolge konnten erzielt werden?

Tina Billeter: Pro Person konnte in den vergangenen zehn Jahren der Primärenergieverbrauch um rund 20 Prozent auf 3500 Watt und der jährliche Treibhausgasausstoss um zehn Prozent auf 4.4 Tonnen reduziert werden. Wichtige städtische Strategien wie der Masterplan Energie, Masterplan Umwelt, Verkehr2025 oder die 7-Meilen-Schritte bezüglich Gebäude wurden zielkonform angepasst. Der Kommunale Richtplan ist erarbeitet; viele zertifizierte 2000-Watt-Areale wurden errichtet. Die Beschaffungskoordination sowie die Pensionskasse arbeiten mit strengen Nachhaltigkeitskriterien. Den Bürgern wird automatisch Ökostrom geliefert: nebst der Wasserkraft wird die Solar- und Windkraft gefördert. Das Kehrichtheizkraftwerk versorgt bereits Zehntausende von Wohnungen mit Wärme und Strom und das Fernwärmenetz wird erweitert. Erste stadteigene Gebäude wurden gemäss dem Label Minergie-P-Eco gebaut und produzieren mehr Energie als sie benötigen. Die Beratungsstelle Energie-Coaching begleitet Private beim Heizungsersatz respektive beim Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger. Der Öko-Kompass berät KMUs im allen Umweltbelangen. Fuss- und Velowege sowie das öffentliche Verkehrsnetz werden stetig ausgebaut und attraktiver gestaltet. Der Erfolg ist sichtbar: Bereits mehr als die Hälfte aller Zürcher Haushalte besitzt kein Auto mehr.

Deutsche Umweltstiftung: Wie kann das Konzept von anderen Städten/Gemeinden adaptiert werden?

Tina Billeter: Das Bilanzierungskonzept ist öffentlich verfügbar. Die nationale Fachstelle 2000-Watt-Gesellschaft berät interessierte Gemeinden. Schweizweit wurden bereits 45 Gemeinden mit dem Label ‚Energiestadt Gold‘ ausgezeichnet – sie alle befinden sich ebenfalls auf dem Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft.

Über die Interviewpartnerin

©Tina Billeter

Tina Billeter, diplomierte Umwelt-Naturwissenschaftlerin ETH,  ist als Senior Projektleiterin Energiestrategie im Umwelt- und Gesundheitsschutz der Stadt Zürich tätig.

Mit Suffizienz zum Guten Leben für alle – ein Interview mit Carla Noever und Robin Stock von BUNDJugend

Stellen Sie sich vor, die Dinge, die wir gebrauchen und kaufen, würden keinen riesengroßen ökologischen Fußabdruck hinterlassen oder zur Ausbeutung von vielen Menschen entlang der Produktionskette beitragen. Stellen Sie sich vor, es wäre das oberste Gebot der Menschen, im Einklang mit der Natur zu leben und tatsächlich nur so zu konsumieren, dass wir der Natur nicht schaden. Carla Noever und Robin Stock glauben, dass ein Weg in diese Richtung durchaus möglich ist, wenn Verbraucher*innen und Politik an einem Strang ziehen.

mit suffizienz zum guten leben für alle

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Ihr sagt, Suffizienz kann der Schlüssel zum guten Leben für alle sein? Was ist eure Version von einem guten Leben für alle?

Carla Noever (CN): Wir wollen uns natürlich nicht anmaßen, zu entscheiden, was für jeden Menschen „ein gutes Leben“ bedeuten würde. Aber es gibt Anhaltspunkte: Alle Menschen sollten ihre grundlegenden Bedürfnisse decken können und für sie sollten grundlegende Rechte gelten – egal wo sie geboren wurden und wohnen, ob sie nun leben oder erst in 30 Jahren. Für uns beschreibt die Vision eines guten Lebens kurz gesagt ein friedliches, ausbeutungsfreies und solidarisches Zusammenleben der Menschen miteinander und den achtsamen Umgang mit der Natur.

Robin Stock (RS): Damit das möglich wird, müssen wir unseren Ressourcenverbrauch radikal senken – und gleichzeitig Alternativen zur aktuellen Produktions- und Konsumweise möglich machen und verbreiten. Denn mit einer Wirtschaft und Gesellschaft, die auf ungebremstes Wachstum zielt, endliche Ressourcen verschwendet und soziale Ungleichheiten verschärft, ist unsere Vision vom „guten Leben für alle“ nicht vereinbar. Wenn wir so weitermachen wie bisher, wird es eher heißen „besseres Leben für die, die heute schon privilegiert sind“ anstatt „gutes Leben für alle weltweit und in Zukunft“.

DUS: Und welche Rolle spielt Suffizienz in dieser Vision?

Eine sehr zentrale! Nehmen wir das Beispiel Coffee to go-Becher, heutzutage ein Alltagsgegenstand. Wir könnten künftig all unsere Einwegbecher aus Pflanzenfasern herstellen und schön recyceln lassen. Damit verbessern wir vielleicht ihre Öko-Bilanz ein bisschen. Wenn wir aber weiterhin so viele Einwegbecher nutzen wie jetzt, haben wir trotzdem einen riesigen Ressourcen- und Flächenverbrauch! Um eine lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten zu erhalten, reicht es nicht aus, andere Ressourcen zu nutzen oder diese noch besser zu verwerten. Wir müssen den Ressourcenverbrauch stattdessen absolut senken. Darauf zielt Suffizienz als Nachhaltigkeitsstrategie ab. Suffizienz lenkt unsere Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Fragen: Was brauchen wir wirklich? Und: Wieviel ist genug? Also: Brauchen wir wirklich jeden Tag drei Einwegbecher? Oder sollten wir nicht eher unseren Alltag entschleunigen und unseren Kaffee mal wieder vor Ort aus einer Mehrwegtasse trinken? Und: Was hindert uns aktuell daran, dies zu tun?

DUS: Was könnte jeder einzelne von uns konkret tun, damit eine suffiziente Gesellschaft Realität wird?

Da sind zum einen die naheliegenden Maßnahmen: Im Alltag Einwegplastik meiden, im Urlaub mit dem Zug an die Nordsee statt mit dem Flieger nach Thailand, Handy und Co. gebraucht kaufen. Sich individuell für einen ressourcenärmeren Lebensstil stark zu machen ist wichtig. Es stößt notwendige Diskussionen im privaten Umfeld an – oder auch in größerem Maßstab, siehe Fridays for Future und die entflammten Debatten ums Fliegen. Zum anderen ist es aber mindestens genauso wichtig, sich politisch für Suffizienz stark zu machen. Denn damit suffiziente Lebensstile kein bloßes Nischendasein fristen, ist vor allem die Politik gefragt.

DUS: Was meint ihr damit?

Politische Entscheidungsträger*innen müssen Rahmenbedingungen setzen, damit es endlich für alle Menschen ganz leicht und selbstverständlich wird, nicht mehr auf Kosten anderer und der Natur zu leben und zu wirtschaften. Aktuell kostet eine nachhaltige Lebensweise oft mehr Zeit oder Geld – oder wird einem schier unmöglich gemacht. Wer schonmal versucht hat, mit knappem Budget und begrenzten Urlaubstagen möglichst umweltfreundlich in die Ferne zu verreisen, weiß wovon wir sprechen.

Nur zwei Beispiele, wie also Suffizienzpolitik aussehen könnte: Wer will, dass die Menschen nicht mehr so viel Auto fahren oder fliegen, muss für entsprechend attraktive Alternativen im Radverkehr und bei den öffentlichen Verkehrsmitteln sorgen. Wer den CO2-Ausstoß im Energiesektor senken möchte, muss einen sofortigen Kohleausstieg beschließen, anstatt vor allem darauf zu setzen, dass Verbraucher*innen und Unternehmen durch ihr grünes Gewissen angetrieben auf Ökostrom umsteigen.

DUS: Was sind die Ziele eures Projektes und welche zentrale Zielgruppe spricht es an?

Mit unserem Projekt versuchen wir vor allem junge Menschen zu erreichen, die solche Erfahrungen machen: Sie wollen gern nachhaltiger leben, haben aber das Gefühl, sich dafür eine schiefe Ebene hochkämpfen zu müssen. Wir wollen Räume schaffen, in denen junge Menschen gemeinsam diskutieren können, was sich politisch ändern müsste, damit ein nachhaltiges Leben zur naheliegendsten und einfachsten Option wird. In Workshops entwickeln sie Visionen von und Forderungen für eine suffizienzbasierte Gesellschaft. Im Idealfall ergeben sich aus den Workshops dann Aktionsideen, mit denen die Teilnehmenden ihre Forderungen lautstark in die Öffentlichkeit und an die Politik herantragen.

DUS: Ihr habt es ja schon gesagt: Suffizient und nachhaltig zu leben fällt vielen Menschen oft schwer. Vor allem wenn Fleisch und Milchprodukte immer günstiger werden, Flüge günstiger sind als Zugfahrten oder das Obst im Supermarkt aus hygienischen Gründen zwei Mal in Plastik eingepackt ist. Habt ihr Anregungen, wie junge Menschen am besten Druck auf die Politik ausüben können, nachhaltige Lebensstile zu unterstützen anstatt zu erschweren?

In unseren Broschüren und auf unserer Website haben wir verschiedene erprobte Aktionsformate gesammelt. Es gibt sicherlich nicht die eine erfolgsversprechende Strategie und Aktionsform – erfolgreich wird eine Bewegung ja vor allem durch einen bunten Mix, in dem sich viele Menschen wiederfinden können und viele Ebenen angesprochen werden. Du willst vor Ort die Öffentlichkeit für ein Thema sensibilisieren? Das funktioniert gut mit kreativem Protest, mit Straßentheater, Kunstinstallationen, Flashmobs! Du willst deine Forderungen in die Welt tragen? Organisiere Demonstrationen, lade Politiker*innen zu Diskussionsrunden ein, nutze soziale Medien, starte Petitionen! Es gibt natürlich noch ganz viele andere Möglichkeiten. Das Wichtigste ist: Organisiert euch, habt Spaß und bleibt hartnäckig!

DUS: Welche konkreten Gebiete sollten eurer Meinung nach am dringendsten mit einer Suffizienzpolitik bedacht werden?

Tatsächlich ist es schwierig, hier eine Auswahl zu treffen. Im Projekt haben wir uns ganz konkret mit bestimmten Politikfeldern auseinandergesetzt, beispielsweise mit Mobilität und Digitalisierung. In diesen Politikfeldern ist gerade viel Bewegung drin – da ist es wichtig, dranzubleiben und konkrete Forderungen zu stellen. Letztlich müsste Suffizienzpolitik aber – ähnlich wie es ja gerade unter dem Schlagwort „Klimanotstand“ für klimapolitische Überlegungen gefordert wird – in alle Politikfelder integriert werden. Suffizienzpolitische Maßnahmen sind schließlich auch für eine nachhaltige Stadtplanung oder für eine faire und ökologisch zukunftsfähige Wirtschaftspolitik zentral. Nicht zuletzt für die Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik spielt Suffizienzpolitik gemeinsam mit Umverteilungsmaßnahmen eine sehr wichtige Rolle:  Denn wer „genug“ hat – genug soziale Absicherung, genug Zeit, genug finanzielle Mittel – kann sich leichter um eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise bemühen und sich in politische Prozesse einbringen. Suffizienzpolitik ernst zu nehmen heißt schließlich, unser derzeitiges Wirtschaftssystem ordentlich umzukrempeln.

über die Interviewpartner*innen
©Carla Noever
©Robin Stock

Robin Stock und Carla Noever Castelos arbeiten für die BUNDjugend im Projekt „Gutes Leben für alle – junge Stimmen in der Suffizienzpolitik“. Robin war zuvor für verschiedene Organisationen im Kontext der Entwicklungspolitik und Bildung für Nachhaltigkeit tätig. Carla engagiert sich in den Bereichen globale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit.

Buen Vivir – ein südamerikanisches Konzept für ein gutes Leben

Suffizienz wird als relativ neues Thema angesehen, dass erst aktuell in der Nachhaltigkeitsdebatte Platz findet. In den letzten Beiträgen wurden viele Projekte aus Deutschland oder Europa vorgestellt, die sich mit Suffizienz beschäftigen. Wussten Sie, dass Suffizienz sogar in den Verfassungen mancher Länder verankert ist?

Die Verfassungen in Ecuador und Bolivien beziehen sich seit 2008 bzw. 2009 auf die Lebensphilosophie „Buen Vivir“. Buen Vivir oder Sumak Kawsay (auf Quechua) ist eine Weltanschauung der indigenen Bevölkerung im Andenraum von Südamerika. Nachdem die eigenen Traditionen und Lebensweisen 500 Jahre lang durch Kolonialisierung unterdrückt wurde, schlossen sich verschiedene indigene Gruppen zusammen, um ihre Vorstellung eines guten Lebens zu verbreiten. Aufgrund der Vielzahl indigener Völker existieren auch verschiedene Variationen von Buen Vivir. Alle Konzepte haben jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie nicht materiellen Reichtum, sondern sozialen Zusammenhalt und ein harmonisches Verhältnis zur Natur als Ziel des guten Lebens betrachten. Damit widerspricht Sumak Kawsay dem westlichen Entwicklungskonzept, das von einer linearen Entwicklung ausgeht und vornehmlich Wachstum und Fortschritt als Ziel sieht. Anstelle von Wirtschaftswachstum möchte Buen Vivir einen Gleichgewichtszustand mit der Natur erreichen.

„Primer Encuentro de los Pueblos y Nacionalidades Andinas por el Sumak Kawsay“, Cancillería Ecuador, CC BY-SA 2.0

Ecuador und Bolivien verankerten diese Lebensphilosophie in ihren neuen Verfassungen. In der ecuadorianischen Verfassung ist „das gute Leben“ als Ziel festgeschrieben, wozu unter anderem das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Bildung und Wasser gehören. Die Forderungen der Verfassung gehen weit über Menschenrechtsforderungen hinaus: Die Rechte der indigenen Bevölkerung, Respekt vor der Vielfalt und Harmonie mit der Natur sind ebenfalls durch die Verfassung geschützt. In Bolivien ist zudem ein Gesetz zum Schutz der Erde erlassen worden. Ein Absatz in der Verfassung garantiert aber nicht, dass Buen Vivir umgesetzt und Umweltzerstörungen verhindert werden. Allerdings stieß die Verfassungsänderung eine lebendige Debatte in Südamerika an.

Der Yasuni-Nationalpark in Ecuador

Sumak Kawsay hat in vielen Bereichen bereits das politische Handeln verändert. Im Yasuni Nationalpark in Ecuador befinden sich große Ölreserven, deren Abbau den Regenwald zerstört würde. Alberto Acosta, prominenter Vertreter von Sumak Kawsay und damaliger Minister für Energie und Bergbau beschloss, auf die Erdölförderung im Yasuni Nationalpark zu verzichten. Mit Verweis auf Sumak Kawsay wollte er auf Profit verzichten, um die Umwelt zu schützen, obwohl Erdöl das wichtigste Exportprodukt Ecuadors ist. Die Maßnahme wäre wohl mit der Forderung eines deutschen Ministers vergleichbar, die Automobilindustrie für den Klimaschutz abzuschaffen.

Im Gegenzug forderte Ecuador die internationale Gemeinschaft dazu auf, einen Teil der erwarteten Exporteinnahmen zu entschädigen. Die meisten Staaten, unter ihnen Deutschland, weigerten sich jedoch zu zahlen, weshalb nur 0,37 % des Kompensationsbetrages zusammenkamen. Im Ergebnis beschloss Ecuador wiederum, das Erdöl zu fördern.

Schlussendlich wurde im Yasuni Nationalpark nicht nach dem Konzept Buen Vivir gehandelt. Trotzdem zeigten die Vorschläge von Alberto Acosta einen möglichen Perspektivwechsel der Politik. Würden wir öfter nach den Prinzipien von Sumak Kawsay handeln, könnten wir vielleicht viele Umweltprobleme lösen.

Quellen: Fatheuer, Thomas (2011): Buen Vivir: Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. Band 17 der Schriftenreihe Heinrich Böll Stiftung.
Francois, Houtard (2011): El concepto de sumak kawsai (buen vivir) y su correspondencia con el bien común de la humanidad. alai. URL: https://www.alainet.org/es/active/47004.
Marinko, Jan (2018): Ecuador: Neue Bohrungen zur Förderung von Erdöl im Yasuní-Nationalpark. amerika 21. URL: https://amerika21.de/2018/01/193447/neue-bohrungen-yasuni-nationalpark-ecuador.