Gemeinschaftliches Nachhaltiges Wohnen – ein Gastbeitrag von Raik-Michael Meinshausen

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Nachdem sich zum Themenbereich „Wohnen“ eine globale Bürgerbewegung bildete, gründeten wir 2018 den Verein „STADTRAUM 5 und 4″. Wir handeln lokal und setzen uns aktiv für die nachhaltige solidarische Entwicklung gemeinwohlorientierter urbaner Lebensräume zum Gemeinschaftlichen Wohnen (Quartiere) ein. Gleichzeitig streben wir globale Vernetzung an.

Denn die Situation auf unserem Planeten scheint zunehmend komplexer: Ressourcen werden immer knapper und qualitativ minderwertiger. Gleichzeitig wachsen jedoch Ökonomie und Ansprüche der Gesellschaft. Zur Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen scheinen einschneidende Änderungen in Einstellung und Verhalten bei uns Menschen notwendig. Die (Zivil-) Gesellschaft hat sich daher Ziele (z.B. „17 Goals„) gesetzt, um dem zumindest in Teilen zu begegnen.

Zudem lassen sich sogenannte „Megatrends“ weltweit beobachten, die den Rahmen für unsere Zukunft mit zu determinieren scheinen. Hierzu zählen beispielsweise CO2-Äquivalente, das Erreichen eines höheren Alters durch Fortschritte in der Medizin und Versorgung, Wachstum von Städten und eine Steigerung des durchschnittlichen Flächenverbrauches pro Kopf.

Wir nehmen unsere Zukunft in die Hand

Das nehmen wir nicht länger tatenlos hin. Wir wollen selbst Gestalter*innen unserer Zukunft sein und nicht darauf hoffen, dass andere Menschen oder die Politik etwas ändern. Das bedeutet für uns, unter anderem Verantwortung zu übernehmen und der Bedeutsamkeit entsprechend zu handeln. Deshalb wollen wir vor allem an einem Themengebiet wirksam arbeiten, welches für jeden Einzelnen von Relevanz ist: Wohnen.

Wir haben einen sozialreformerischen Anspruch und werten dies als Beitrag zu einer echten Wohnreform. Die Reform zielt neben städtebaulichen und architektonischen Aspekten (z.B. Grundrissverbesserung; Wohnungshygiene etc.) zum Beispiel auch auf neue Rechte und Pflichten der Bewohner*innen ab. Unser Ziel ist es, unter anderem strukturelle Benachteiligungen wie beispielsweise als Mieter*innen aufzuheben. Dazu leisten wir vor allem durch Bildung „Hilfe zur Selbsthilfe“. Des Weiteren entwickeln wir Ideen und unterbreiten diese Politiker*innen, z.B. Konzeptvergaben, Wohnungsgemeinnützigkeit und Gemeinwohl-Immobilien. Der Plan dahinter: der Verein soll ein Ort des Diskurses und der Vernetzung werden.

Wohnungsnot trotz stetigen Wohnungsbaus

In Deutschland werden immer mehr Wohnungen gebaut [1]. Die pro Person beanspruchte Wohnfläche steigt ebenfalls – diese nahm pro Kopf in Deutschland 2017 auf 46,5 Quadratmetern zu und hat sich damit in nur 50 Jahren etwa verdoppelt. Gründe liegen vor allem an einer zunehmenden Zahl der Single-Haushalte und dem Anstieg der Wohnfläche mit zunehmendem Alter. Beispielsweise wenn aus dem elterlichen Haus die Kinder zwar ausgezogen sind, aber die Eltern weiterhin im Haus wohnen bleiben. Diese Entwicklung scheint gravierend und sollte so nicht weiter gehen.

Dem lässt sich durch kluges Flächenmanagement, wie Gemeinschaftsflächen entgegenwirken und durch Flächenreduktion pro Kopf dramatisch reduzieren. Auch „tiny house“-Konzepte setzen hier an und versuchen das Problem intelligent zu lösen. Ein Richtwert als Ziel könnten ca. 33 Quadratmeter Wohnfläche im Durchschnitt pro Kopf sein.

Gemeinschaftliche Selbstversorgung von Wohnraum durch genossenschaftliche Selbsthilfe könnte eine sinnvolle Ergänzung zur privaten wirtschaftlichen (Fremd-)Versorgung mit Wohnungen. Jenes würde zumindest eine attraktive Alternative zum rein oft auf Profitmaximierung ausgerichteten Wohnungsmarkt bieten.

Unsere Ziele und Absichten

Besonders im Vordergrund steht in dem Verein das Gemeinwohl. Dies entsteht, wenn das solidarisch organisierte Soziale einerseits und die Nachhaltigkeit, Ökologie und Vielfalt andererseits im Fokus liegen. Vermieter*in und Mieter*in bilden so ein Ganzes. Um Wohnen zu diesen Bedingungen zu ermöglichen, werden wir unternehmerisch tätig und gründen eine neue Genossenschaft zur Realisierung unserer Ziele. Außerdem sorgen wir für Projektentwicklung und die Bestandsverwaltung.

Folgende Punkte sind uns abschießend wichtig:

  • Nachhaltig, Bauen und lebenswert Wohnen (Worth Living Sustainability)
  • Bunt und lebendig wie die Stadtgesellschaft (Diversity)
  • Solidarität als Basis unseres Handelns (Solidarity)
  • Wohnwert und Sicherheit als Alternative zur Rendite (Housingvalue&Safety)
  •  Hochwertige Gemeinschaftsflächen und -einrichtungen (Commons & Sharing)
  • Suffizienz als zentrales Paradigma

[1] 2017 gab es laut Statistischem Bundesamt in Deutschland rund 42,0 Millionen Wohnungen in Wohn- und Nichtwohn- gebäuden) und immer größere (Wohnfläche je Wohnung betrug 2017 im Durchschnitt 91,8 Quadratmeter; Quelle: Statistisches Bundesamt

Über den Autoren
© Raik-Michael Meinshausen

Raik-Michael Meinshausen, geboren in 1965, ist seit über 20 Jahren erfolgreich als Unternehmer, Berater und Coach tätig. Er interessiert sich insbesondere für die Dynamik zwischen Individualität (Freiheit) und Gesellschaft (Anpassung), sowie für Bildung, Kunst, Politik und Kultur. In der Zivilgesellschaft setzt er auf Eigeninitiative, Verantwortung, Vielfalt und Humanismus. Als Vorstand bei STADTRAUM 5 und 4 e.V. übernimmt er die Verantwortlichkeit für Finanzen. Zudem setzt er sich u.a. für eine nachhaltige Gemeinwohlökonomie ein, insbesondere mit Blick auf Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen.

Ist Suffizienpolitik auf EU-Ebene möglich? – ein Gastbeitrag von Leon Leuser

Suffizienz politisch fördern – kann dies auch durch die Europäische Union gelingen?

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In der Debatte um Suffizienzpolitik wird immer wieder ein Argument laut: Politik dürfe nicht in die individuellen Lebensentscheidungen der Menschen hineinregieren. Dabei gibt es in Europa bereits gute Beispiele dafür, wie erfolgreich Politik suffizientes Konsumverhalten ermöglichen kann.

Kann man suffizientes Handeln politisch fördern? Und: Darf man das überhaupt? Könnte gar eine liberale Wirtschaftsgemeinschaft wie die Europäische Union dies fördern? Schließlich gilt Suffizienz als eine Frage des individuellen Lebensstils. Ein politischer Eingriff in das persönliche Leben, das scheint dem liberalen Gebot der Selbstbestimmung zu widersprechen. Unsere liberale Grundordnung verbietet es, den Menschen Vorschriften zu machen, wie man zu leben habe oder was ein „gutes Leben“ bedeute. Und in der EU stehen der freie Warenverkehr und der Binnenmarkt an erster Stelle. Selbstverständlich: Wie tief die Eingriffe gehen dürfen und wie viel Freiheit der Einzelne hat, das wird insbesondere in den Diskussionen um Suffizienz(-politik) immer eine Gradwanderung bleiben. Liberalismus und Suffizienzpolitik schließen sich jedoch weniger aus, als es in den Diskussionen oft den Eindruck erweckt.

Auch ganz praktisch zeigt sich: Heutige Rahmenbedingungen geben in vielen Situationen zumindest starke Anreize in Richtung bestimmter – heute meist nicht-nachhaltiger – Handlungen. Natürlich kann jede und jeder Einzelne versuchen, nach seinen Überzeugungen zu handeln. Doch niemand kann sich den Einflüssen von Werbung, Preisanreizen und Infrastrukturen entziehen – sie wirken teilweise fast wie Gebote und Verbote.

Hinzu kommt eine unüberschaubare Menge an Einflussfaktoren, die mit (Konsum-)Entscheidungen verbunden ist. Wer eigentlich bewusst und nachhaltig konsumieren will, hat oftmals aufgrund der Informationsfülle nicht die Gewissheit, es richtig zu machen. Ist nun der Fairtrade- oder der Bio-Kaffee besser? Oder doch jener der direkt gehandelt und ganz ohne Label auskommt? Nicht umsonst gibt es Expertinnen und Experten, die versuchen wissenschaftlich mit Öko-Bilanzen diese komplexen Fragen zu untersuchen. Sie erforschen welche Umweltwirkungen mit dem Lebenszyklus eines Produkts verbunden sind. Dies oder auch nur ihre Ergebnisse zu kennen, kann niemand im Supermarkt für alle Produkte und auf die Schnelle eines Einkaufs leisten.

Häufig führt diese Mischung aus äußeren, meist politisch gesetzten Einflüssen und der Komplexität bei Entscheidungen zu Frustration. Durch zu starke Anreize wird häufig doch gegen die eigenen Überzeugungen nicht-nachhaltig gehandelt – etwa wenn der Flug nicht nur schneller sondern auch günstiger ist als der Zug. Einige versuchen sich auf wenige, abgrenzbare Handlungsbereiche zu konzentrieren. Doch am Ende des Tages ist das (zu) große, kaum gedämmte Einfamilienhaus mit Ölheizung für die Umwelt schädlicher als das alltäglich praktizierte Stromsparen. Viele, ja vielleicht die meisten geben so vermutlich früher oder später gar ganz auf  – im schlimmsten Fall finden sie sich frustriert mit diesen Rahmenbedingungen ab. Doch sind es gerade die Gesetze und Standards, die sich ändern müssen.

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So zeigt sich, es muss heute vor allem politisch gehandelt werden, damit die Suffizienzstrategie zur Erreichung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele zum Tragen kommt – und zwar auf allen Ebenen[1]. Das heißt natürlich nicht, dass wir nun das Handeln allein den Politiker*innen überlassen sollten. Aber zeigt etwa die Bedeutung politischen Engagements. Die zurückliegenden Wahlen zum Europaparlament und der Erfolg der Partei Bündnis90 / Die Grünen sind ein guter Anlass um zu beschreiben, was die EU als liberale Wirtschaftsgemeinschaft tun kann, um Suffizienz zu fördern. Denn entgegen landläufiger Vorstellungen kann die EU nicht nur Suffizienz fördern, sie macht dies in einigen Bereichen sogar schon.

Ein Beispiel ist die Produktpolitik. Sie wurde zwar insbesondere zur Stimulierung der Energieeffizienz eingeführt. Doch wurden in einigen Punkten auch Anreize zur Suffizienz gegeben. So führten Anforderungen an den Stromverbrauch von Staubsaugern schon vor einigen Jahren dazu, dass der Wettbewerb, um den Staubsauger mit dem höchsten Stromverbrauch, gestoppt wurde. Sparsame Produkte können meist genauso gut saugen wie jene mit hohem Verbrauch. Und mit der Angabe der Saugleistung auf dem Energie-Label kann sich nun jeder über das für den Kauf ausschlaggebende Maß informieren. Zudem wurden zu Beginn des Jahres Anforderungen zur Reparierbarkeit und Verfügbarkeit von Ersatzteilen für Produkte wie Kühlschränke eingeführt. So kann die Lebensdauer der Produkte verlängert und damit die Notwendigkeit eines Neukaufs reduziert werden.

Auch in der Mobilität erleichterte das Europäische Parlament im vergangenen Jahr bei der Novellierung der Fahrgastrechte von Bahnreisenden suffizientes Reisen. Seitdem haben Reisende ein Anrecht darauf, ihre Fahrräder im Zug mitzunehmen, auch in Hochgeschwindigkeitszügen. Dadurch wird multimodale Mobilität, das heißt die Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel und somit der Verzicht auf den PKW ein weiteres Stück erleichtert.

Diese Beispiele zeigen, dass es auf Ebene der EU durchaus einige Möglichkeiten zur Förderung der Suffizienzstrategie gibt – trotz der (wirtschafts-)liberalen Ausrichtung. Was also könnte oder sollte in Zukunft passieren, damit die Entscheidungen für umweltfreundliches Handeln noch leichter werden?

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Voraussetzung dafür ist eine Änderung der Anreize in der Wirtschaft. Das bedeutet: Preise müssen die „wahren“ Kosten darstellen. Eine Bepreisung durch eine Steuer oder auch eine Mengenbegrenzung mit einem Zertifikatsystem ist eine übergreifende Maßnahme. Durch sie werden nicht nur Suffizienz, sondern auch Anreize zur Steigerung der Energieeffizienz und zum Ausbau der Erneuerbaren Energien gegeben. Sie bildet also einen förderlichen Rahmen innerhalb dessen alle drei Nachhaltigkeitsstrategien zum Tragen kommen können.

Es wird somit zuallererst ein funktionierender Emissionshandel und eine CO2-Abgabe in jenen Bereichen benötigt, die nicht vom Emissionshandel abgedeckt sind. In einem weiteren Schritt könnte geprüft werden auf welche weiteren Rohstoffe eine Abgabe oder ein Zertifikathandelssystem eingeführt werden sollten. Betreffen könnte dies insbesondere solche Rohstoffe, die besonders stark zu aktuellen Umweltproblemen wie dem Biodiversitätsverlust oder Klimawandel beitragen. Mit den staatlichen Einnahmen aus diesen Maßnahmen könnten daraufhin die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Dies gäbe beispielsweise gleich in zweifacher Hinsicht einen Anreiz zur Reparatur: ein Neugerät mit alle den notwendigen Rohstoffen würden sich durch die Abgaben vermutlich verteuern und die arbeitsintensivere, aber ressourcenschonende Reparatur würde günstiger.

Abseits dessen kann die EU aber auch auf „bewährte“ Weise weitere Anreize zur Lebensdauerverlängerung von Produkten geben. Smartphones etwa zählen zu den am kürzesten genutzten elektronischen Geräten. Gleichzeitig werden sehr viele Rohstoffe, deren Abbau häufig mit Umweltproblemen einhergeht, darin verbaut. Zur Verlängerung der Lebensdauer könnte die EU daher etwa Anforderungen an die Displays von Smartphones stellen, damit diese weniger leicht brechen. Zudem sollte durchgesetzt werden, dass die Akkus der Geräte schnell und einfach getauscht werden können. Wichtig wäre auch eine Verpflichtung zu Software-, insbesondere Sicherheitsupdates für eine bestimmte Zeitspanne nach Produktionsstopp. Nur so kann ein Gerät auch möglichst lange sicher genutzt werden und  funktionieren Apps bis zum Ende der Lebensdauer.

Im Bereich der Mobilität geht es darum, möglichst nachhaltige Mobilitätsformen zu fördern. Wichtig dafür ist ihre Verknüpfung zu erleichtern. Eine Möglichkeit dafür sind Mobilitätsplattformen über die nicht nur Tickets für den Nahverkehr gekauft, sondern auch Leihfahrräder, Carsharing-Autos oder Tickets für den Fernverkehr gebucht werden können. Erste Ansätze dazu gibt es schon in einzelnen Städten. In Vilnius gibt es schon seit Herbst 2017 die App Trafi, und in Berlin geht die BVG mit der Plattform-App Jelbi an den Start. Damit man in Zukunft aber auch die komplette Strecke von Zuhause bis zum Haus von Freund*innen in Frankreich buchen kann, müssen noch einige Schritte gegangen werden. Wichtig dafür ist die Verpflichtung der Mobilitätsdienstleister zu offenen Schnittstellen. Diese ermöglicht externen Plattformanbietern die Verbindungsauskunft und Buchungsprozesse. Zudem muss durch Fahrgastrechte sichergestellt sein, dass bei einem verpassten Anschlusszug zwischen zwei Bahnunternehmen die Weiterfahrt mit dem nächsten Zug möglich ist.

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Diese Vorschläge sind erste Ideen dafür wie Suffizienzpolitik auf der EU-Ebene aussehen könnte. Sicherlich gibt es noch viele weitere Möglichkeiten, die es gilt in Zukunft zu entwickeln. Denn die aktuellen Berichte zur Klima- und Biodiversitätskrise zeigen deutlich, dass eine sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschaft und unseres Lebens notwendig ist. Eine Förderung der Suffizienz steht dabei nicht zwangsläufig im Widerspruch zu unserer liberalen Ordnung, sondern ist sogar durch die liberale Wirtschaftsunion EU möglich und nötig.

[1] Ausführlicher zu den Möglichkeiten der kommunalen Suffizienzpolitik: Leuser, Leon; Lars-Arvid Brischke: „Suffizienz im kommunalen Klimaschutz.“ In: Knoblauch, D., Rupp, J. .Hrsg. Klimaschutz kommunal umsetzen. Wie Klimahandeln in Städten und Gemeinden gelingen kann. Oekom: München

Über den Autor
© Leon Leuser

Leon Leuser arbeitet aktuell bei adelphi als Projektmanger für Grundsatzfragen der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik. Zuvor beschäftigte er sich mit Fragen der Suffizienz im Rahmen von Forschungsprojekten an der Universität Flensburg und dem Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg (ifeu). Er studierte Energie- und Umwelttechnik (B.Sc.) an der TU Hamburg-Harburg und Socio-Ecological Economics and Policy (M.Sc.) an der Wirtschaftsuniversität Wien.

Suffizienz: Der Weg vom Alltag in die Politik – ein Gastbeitrag von Manfred Linz

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Lange Zeit hindurch gehörte Suffizienz allein in die Sphäre der Lebenskunst. Ihre Ratschläge und Mahnungen waren an die Einzelnen gerichtet. Ihnen galt die Empfehlung der Genügsamkeit: Von nichts zu viel! Diese Herkunft hat die Suffizienz nicht aufgegeben; aber sie ist weit darüber hinaus gewachsen. Von einem Antrieb zur persönlichen Lebensgestaltung ist sie zu einer Strategie der Zukunftsfähigkeit geworden.

Wie kann sie in der Gesellschaft Wurzeln schlagen? Da ist zunächst die Hoffnung auf einen kulturellen Wandel. Einige beginnen damit, zukunftsfähig zu produzieren und zu leben, andere schließen sich an, die Zahlen werden größer, eine Bewegung entsteht und schließlich wird die kritische Masse erreicht, die eine dauerhafte gesellschaftliche Veränderung in Gang setzt. Das ist eine sympathische Vorstellung; aber sie ist weder aus der sozialwissenschaftlichen Forschung noch aus den Erfahrungen zivilgesellschaftlicher Aktionen ableitbar und eine Überschätzung des Handelns von Einzelnen und Gruppen in seiner Wirkung auf das Ganze.

Richtig ist: Persönliche Initiativen und die Impulse aus der Zivilgesellschaft,  bleiben unentbehrlich – als Anreger, Treiber, Mutmacher. Nur ist ihre Reichweite begrenzt. Sie erreichen lediglich den kleineren Teil der Gesellschaft. Die wichtigen Entscheidungen zur Zukunftsfähigkeit erreichen die Breite der Gesellschaft erst, wenn sie politisch durchgesetzt werden. Wirksame Suffizienz, also die ausreichende Verringerung des Bedarfes an Energie und Rohstoffen, setzt voraus, dass die Einsparungen für alle verpflichtend werden.

Ein Fächer an Suffizienzpolitiken

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Suffizienz lässt sich politisch auf vielfältige Weise gestalten. Sie lässt sich fördern, sie lässt sich durch Regulierung ermutigen wie auch entmutigen, sie lässt sich durch Abgaben und Steuern erreichen, und sie lässt sich durch Gesetze und Verordnungen vorschreiben. Dabei geht es immer darum, nur soviel Verpflichtung wie unentbehrlich aufzulegen und soviel Wahlfreiheit wie möglich zu lassen.

Suffizienzpolitiken greifen unterschiedlich tief in Wirtschaft und Leben ein. Sie lassen sich in drei Schichten einteilen. Die erste Schicht erleichtert das Leben oder beschwert es kaum und findet darum schnell Zustimmung. Ihr Ertrag für den Klimaschutz und die Ressourcenschonung ist freilich gering. 

Die Politiken der zweiten Schicht bedeuten einen spürbaren Eingriff in das Gängige und gern Gewählte, für sie müssen Routinen gewechselt und neue Gewohnheiten gefunden werden; sie haben darum schon mit Zurückhaltung und Widerspruch zu rechnen. Ihr Beitrag zur Erhaltung der Natur fällt durchaus ins Gewicht.

Erst die Politiken der dritten Kategorie leisten einen entscheidenden Beitrag zum Schutz unserer Lebensgrundlagen. Sie greifen in das gewohnte Leben und Wirtschaften ein, sie fordern Umdenken und auch Verzichte und werden darum Widerstand hervorrufen.

Für alle drei Kategorien folgen jeweils zwei Beispiele, die so weit als möglich aus der kommunalen, regionalen und bundesweiten Ebene gewählt sind:

Erste Kategorie

Häuser der Eigenarbeit

Menschen lernen unter Anleitung von Fachpersonal, Dinge selbst zu bauen oder zu reparieren. Erarbeiten statt kaufen ist ihr Prinzip, Recycling und Upcycling gehören zu ihren Techniken. Kommunen können ihre Träger sein oder sie unterstützen.

Lebensmittelverderb verringern

Das ist eine dringende Aufgabe hier und zugleich eine der Grundstrategien gegen den Welthunger. Produzentinnen, Händler, Verbraucher und Amtsträgerinnen können sich zu gemeinsamem Handeln vereinen. Sie brauchen jedoch öffentliche Organisation und Moderation. Frankreich hat sogar 2017 den großen Supermärkten per Gesetz verboten, Lebensmittel wegzuwerfen.

Zweite Kategorie

Fleischkonsum besteuern

Fleisch belastet in seiner Massenproduktion die Umwelt in hohem Maße. Da in Deutschland die große Mehrheit der  Bevölkerung noch immer zu den „unbekümmerten Fleischessern“ gehört, wird erst eine Besteuerung die Nachfrage und damit die industrielle Produktion von Fleisch wirksam senken. Ein Anfang ist, in Kantinen, Kitas, Schulen den Fleischanteil zu halbieren und auf Fleisch den vollen Satz der Mehrwertsteuer zu legen.

Tempolimit

In Deutschland gibt es seit Jahrzehnten Streit um ein Tempolimit. Es ist das einzige industrialisierte Land der Welt, in dem es auf Autobahnen keine allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung gibt. Die Gegenwehr hat viel mit den Wirtschaftsinteressen der Automobilindustrie und den Geschwindigkeitswünschen vieler Fahrer und Fahrerinnen zu tun. Da aber die Klimakrise zunimmt, und da nicht zu bestreiten ist, dass der CO2-Ausstoß durch eine Geschwindigkeitsbegrenzung sinkt, da auch Deutschland sich mit der Verweigerung der Begrenzung international isoliert, werden die vielfältigen Vorstöße zur Durchsetzung eines Tempolimits aussichtsreicher.

Dritte Kategorie

Umweltschädigende Subventionen abbauen

In Deutschland werden ökologisch schädliche Finanzhilfen und Steuerbefreiungen vor allem für Energie, Verkehr und Landwirtschaft ausgegeben. Das Umweltbundesamt hat sie aufgelistet. Für die Europäische Union sind es die Befreiung des Flugverkehrs von der Kerosinsteuer und in der Landwirtschaft die Flächenprämie pro Hektar, die unabhängig von ökologischen Kriterien gezahlt wird. Mit ihnen wird wieder abgerissen, was auf anderen Gebieten mit Mühe an Klimaschutz aufgebaut wird. Sie alle sind schwer zu überwinden, weil sie von starken Lobby-Interessen geschützt werden.

CO2-Steuer

Die Klimaschutzziele für das Jahr 2020 wird Deutschland nicht erreichen, vermutlich auch nicht die für 2030. Und dann drohen diesem Land milliardenschwere Strafzahlungen, während sich die Klimakrise verschärft. Es sei denn, sehr bald geschehen entscheidende Schritte.

Ein solcher ist die intensiv diskutierte Steuer auf CO2 und andere Treibhausgase. Ihre Gestaltung ist noch offen. Entscheidend wichtig sind zwei Faktoren: einmal, dass sie progressiv angelegt wird, also jedes Jahr um einen bestimmten Satz steigt und so einen ökonomischen Anreiz zur Verringerung des Verbrauches schafft. Und zweitens, dass sie nicht den allgemeinen Finanzen des Staates zugeschlagen sondern zweckbestimmt erhoben wird: strikt für Maßnahmen zum Klimaschutz oder aber zum finanziellen Ausgleich für Einkommensschwache, die von dieser Steuer besonders belastet werden – am Besten wohl für Beides.

Aussichten

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Suffizienzpolitiken rufen unterschiedliche Reaktionen auf – von Zustimmung bis zu vehementer Ablehnung. Gerade die wirksamen Suffizienzpolitiken stoßen gegen manifeste Geschäftsinteressen und Privilegien oder sind mit der Aufgabe lieber Gewohnheiten und der Einbuße an  Bequemlichkeiten verbunden.

Können verpflichtende Suffizienzpolitiken in Deutschland Mehrheiten finden? Die leichteren durchaus, weil sie erkennbare Vorteile haben und kaum sensible Bereiche berühren. Die tiefer eingreifenden Politiken sind gegenwärtig noch nicht durchzusetzen. Die Klimabedrohung hat einstweilen weder unser Territorium noch unser Bewusstsein spürbar genug erreicht. Aber der Wind der Veränderung ist spürbar. Die Fridays-for-Future-Bewegung, auch die ernsthafte Diskussion um ein Gesetz zur Reduzierung der Treibhausgase sind Anzeichen des Wachwerdens. Die Einsicht wächst, wenn auch langsam, dass ein weltweiter Klimasturz, dass die gefährdete Ernährung einer weiter wachsenden Weltbevölkerung, und dass der durch Beides zu erwartende Unfrieden  uns nicht verschonen wird. Dieses beginnende Verstehen unserer eigenen Betroffenheit kann einer weitsichtigen Regierung oder Opposition einen Bewegungsspielraum geben.

Und dann mag sich zeigen: Was als notwendig oder doch als unausweichlich erkannt wird, darauf stellen sich die allermeisten Menschen ohne größere Widerstände ein –  unter zwei Voraussetzungen: Was ihnen abgefordert wird, muss überzeugend begründet sein; und es muss alle treffen, je nach ihrer Leistungsfähigkeit.Dann werden sie, so ist zu hoffen, die Konsequenzen einer die Natur erhaltenden und den Frieden ermöglichenden Politik hinnehmen, nicht wenige werden eine solche Politik als begründet annehmen oder sogar fordern.

Über den Autor
© Manfred Linz

Manfred Linz studierte Evangelischen Theologie und Sozialwissenschaften. Nachdem erfolgreich abgeschlossenen Studium arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Hamburg. Später wechselte Linz zum NDR und dann zum WDR als Redakteur und Leiter einer Programmgruppe. Nach seiner Pensionierung betätigte Manfred Linz sich ehrenamtlich im Wuppertal Institut für Klima Umwelt Energie mit dem Schwerpunkt Suffizienz und Soziales Lernen.

Weiterführende Literatur
  • Linz, Manfred (2015): „Suffizienz als politische Praxis“. In: Wuppertal Spezial.Nr. 49

Jedes Individuum und alle Zusammen – ein Gastbeitrag von Corinna Vosse

Macht euch ein Bild von der Transformation!

Suffizienz statt Wachstum muss zur persönlichen, politischen und ökonomischen Prämisse werden, wenn wir nicht an unserer Maßlosigkeit zu Grunde gehen– und vorher noch mehr Schaden für die verschiedenen Ökosysteme anrichten wollen. Diese drei Ebenen müssen zusammen gedacht und bearbeitet werden, wenn wir uns in Richtung einer sozial-ökologischen Gesellschaftsorganisation bewegen wollen. Es nützt wenig, wenn umweltbewusste Individuen noch mehr Zeit und mentale Energie auf einzelne Konsumentscheidungen verwenden – solange sie in ländlichen Räumen das Auto benutzen müssen, weil es kaum ÖPNV gibt. Oder solange sie beruflich ständig angewiesen werden, Flugreisen anzutreten. Ebenso wenig hilft es, wenn Politik Verordnungen auf den Weg bringen will, die im Konkurrenzkampf der Parteien um Wähler*innenstimmen gleich wieder gekippt werden. Oder für die sofort von Lobbyist*innen der Industrie Ausnahmeregelungen durchgesetzt werden. Die Transformation eines laufenden Systems ist komplex, weil alles irgendwie zusammenhängt.

Vereinbarung zwischen Konsum und ökologischem Fußabdruck?

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Auch wenn es darum geht, persönliche Handlungsmöglichkeiten zu finden, muss die politische und ökonomische Seite mitgedacht werden. Das wird sofort plausibel, wenn wir uns den Möglichkeitsrahmen anschauen, in dem wir unsere Versorgung organisieren können bzw. müssen. Viele notwendige Bedürfnisse können wir nicht ökologisch verträglich decken. Wer in einer Mietwohnung lebt, die schlecht schließende Fenster hat, wird immer viel Wärmeenergie in Anspruch nehmen – zu viel im Sinne des ökologischen Fußabdrucks. Daran kann ich alleine nicht unmittelbar etwas ändern. Leider gilt das in vielerlei Hinsicht für Konsumbereiche, die einen hohen Umweltverbrauch mit sich bringen: Wohnen, Mobilität, Ernährung.

Es ist also nicht unbedachter Konsum, der uns dahin geführt hat, wo wir nun stehen: Mitten in eine sich verschlimmernde Klimakrise, eine Zerstörung von ökologischen Lebensräumen und ein fortgesetztes Artensterben. Es ist vielmehr systemisch bedingter Konsum. Wir haben uns auf die Regeln eines zerstörerischen Systems eingestellt, unser Leben daran ausgerichtet. So gesehen sind die meisten unserer Konsumentscheidungen überlegt. Wenn die Bahnfahrt nach Zürich nicht nur doppelt so lange dauert, sondern auch noch doppelt so viel kostet, ist es rational, sich für den Flug zu entscheiden. Wenn ich auf meinem zwei Jahre alten Mobiltelefon neue Apps nicht installieren kann, ist es aus technischer Sicht geboten, ein neues anzuschaffen.

Erschwerung sozial-ökologischen Handelns durch derzeitiges Wirtschaftssystem

Der ‚Ausstieg‘ aus diesem System ist nicht einmal im Ansatz möglich, solange es keine Versorgungsalternativen gibt. Aus dieser Erkenntnis heraus sind in den 70er Jahren Projekte hervorgegangen, deren Anspruch es war, unser Leben oder zumindest Teile davon so zu organisieren, dass Zerstörung verringert wird. Das betraf sowohl das soziale Miteinander als auch die Schnittstelle mit der Biosphäre – also im Wesentlichen das, was wir heute sozial-ökologische Nachhaltigkeit nennen. Heute gibt es nicht einmal mehr den Begriff des Aussteigens. Das liegt wohl daran, dass die Welt in den letzten 50 Jahren gefühlt viel kleiner bzw. voller geworden ist – und die Probleme größer bzw. global. Wohin soll man da aussteigen.

Bezogen auf unser Versorgungssystem ist dieser Zugriff allerdings weiterhin wichtig. Wenn es keine ökologisch und sozial verträglichen Versorgungsangebote gibt, müssen sie geschaffen werden – und solange Politik dies nicht durch Rahmenbedingungen fordert und fördert, wird dies kaum aus der Wirtschaft heraus geschehen. Denn da, wo ein Betrieb handelt, werden Verpflichtungen und Verbindlichkeiten eingegangen – in der Regel heißt das, jemand anderes erwartet, Geld zu bekommen. Etwas umzustellen ist in dieser Funktionslogik ein Risiko, weil es unvorhersehbare Auswirkungen auf diese kalkulierten Geldflüsse haben kann. Etwas Neues anzufangen ist schwierig, weil Forderungen laufen, auch wenn sich kein Umsatz entwickelt. Nicht von ungefähr scheitern 80 Prozent aller Gründungen.

Lokale Versorgungsarbeit als Baustein für nachhaltigen Konsum

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Bleibt also, selbst tätig zu werden und jenseits der Barrieren in Wirtschaft und Politik an Versorgungsalternativen zu arbeiten. Dafür gibt es viele gute Beispiele, wie Foodsharing, Repair Cafes, Tauschläden. Wenn gesellschaftlich wirksame Ideen zum richtigen Zeitpunkt erlebbar werden, entwickeln sie sich weiter, werden aufgegriffen, mit Engagement belebt, durch Verordnungen unterstützt und in Form von Unternehmen skaliert. Natürlich setzt die Skalierung voraus, dass Politik die Rahmenbedingungen wirtschaftlicher Aktivität ganz grundsätzlich verändert, indem sie für Märkte klar an ökologischen Zielen ausgerichtete Regeln aufstellt. 

Deutlich wird anhand dieser Überlegungen, dass Subsistenz oder Eigenarbeit als Bestandteil sozial-ökologischer Transformation ein wichtiges, aus meiner Sicht unverzichtbares Element ist. Nachhaltiger Konsum ist nicht, ein plastikfreies Produkt im Internet zu bestellen und Fleisch durch Avocados zu ersetzen. Wenn es wirklich um eine ökologische Entlastungswirkung geht, sind wir etwas mehr gefordert. Denn dann muss die Eingriffstiefe verringert werden. Das kann man sich leicht klar machen: Ganz viele Erdbeeren zu konsumieren ist ökologisch kein Problem, wenn ich sie pflücke, wo ich bin. Auch Mobilität ist ökologisch verträglich, so lange ich mich aus eigener Kraft bewege, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. So senkt sich das Konsumniveau von ganz alleine, denn nun setze ich ja Lebenszeit und meine Arbeitskraft ein, und die sind für uns alle begrenzt – im Unterschied zum Konsumbudget vieler Menschen in westlichen Gesellschaften.

Akademie für Suffizienz in Brandenburg

Wir müssen als Gesellschaft also unsere Kraft und unsere Fertigkeit stärken, wieder Verantwortung für Versorgung zu übernehmen. Das fängt damit an, dass ich mich mit anderen zusammenschließe, ausprobiere und Erfahrungen teile. Nicht von ungefähr entstehen immer mehr Orte, wo genau dies versucht wird, Erfahrungen für ein ökologisches Wirtschaften zu ermöglichen, zu reflektieren und Bedingungen zu gestalten, dass eine andere Praxis im Alltag funktioniert. So ein Ort ist die Akademie für Suffizienz in Brandenburg, die Menschen einlädt, eine Versorgung in Kreisläufen zu erleben und die dahinter liegenden Theorien der ökologischen Ökonomie kennen zu lernen. Die Akademie ist dafür eingerichtet, Alternativen in Produktion, Verteilung und Versorgung zu erleben. Hier gibt es Raum und Zeit, um Gewohnheiten zu reflektieren, Denkmuster zu hinterfragen und das Gemachtsein unserer Wirtschaft systematisch zu durchleuchten. In der gemeinsamen Organisation des Aufenthalts vor Ort bieten sich Gelegenheiten, alte und neue Versorgungstechniken anzuwenden und für eigene Zwecke zu modifizieren. Die Akademie hat Übernachtungsmöglichkeiten, Gruppenräume, eine Selbstversorgerküche, verschiedene Werkstätten, landwirtschaftliche Versuchsfelder, eine Themenbibliothek, Obst- und Beerengarten. Im Aufbau befindet sich eine professionelle Küche für Lebensmittelverarbeitung und -konservierung. Die Nutzung dieser Möglichkeiten steht allen Interessierten offen und erfolgt auf Basis selbstgewählter Beiträge.

Neue Wege gehen bedeutet nicht zurück in die Steinzeit

Ich höre schon die Einwände, dass wir ja nicht zurück in die Steinzeit wollen. Das erscheint mir als populistisches Argument, mit dem Menschen ihre Privilegien schützen wollen. Wir nehmen uns zu viel vom Kuchen, das ist wohl kaum bestreitbar. Eine Belebung von Subsistenz setzt dem Verschiedenes entgegen: Sie führt zu einer Regionalisierung von Stoffströmen, was ökologisch eine große Entlastung bedeutet. Sie erfordert den Einsatz von Lebenszeit, was unsere Konsumzeit reduziert und damit unseren Umweltverbrauch. Sie nimmt dem hegemonialen System einer zerstörerischen Wirtschaft die Macht, weil sie Abhängigkeiten reduziert. Sie entwirft funktionierende Modelle, die schnell ein Mindestmaß an Akzeptanz gewinnen können und die dann von Politik in Verordnungen und Gesetzen verstärkt und verallgemeinert werden können.

Damit sind wir wieder beim erforderlichen Zusammenspiel der persönlichen, politischen und ökonomischen Ebene. Mir hilft es sehr in meinem Engagement, eine Vorstellung davon zu haben, wie dieses Zusammenspiel im Sinne einer sozial-ökologischen Gesellschaftsorganisation beeinflusst werden müsste, also eine Transformationstheorie zu haben, die laufend anhand von Erfahrungen und Erkenntnissen weiterentwickelt wird. So fühle ich mich getragen von dem, was ich tue, um zur Transformation beizutragen, egal, ob ich Essen rette, Artikel schreibe, Vorträge halte, Setzlinge vorziehe oder Kleidung repariere.

Über die Autorin
© Corinna Vosse

Corinna Vosse ist Wissenschaftlerin, Beraterin und Projektentwicklerin. Sie promovierte am Lehrstuhl für Stadt- und Regionalsoziologie der Humboldt Universität Berlin zu Prozessen kultureller Infrastrukturentwicklung. Derzeit übernimmt sie die Geschäftsführung der Akademie für Suffizienz, ein Reallabor für ökologisches Wirtschaften und ist gleichzeitig wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Kulturforschung in Berlin . Außerdem leitet Vosse das Projekt für Kunst-Stoffe – Zentralstelle für wiederverwendbare Materialien und für die KlimaWerkstatt Spandau. Die Themenschwerpunkte liegen dabei auf Ökologische Ökonomik, soziale Innovationen, Stoffströme, Kulturentwicklung, Klimaschutz, Bildung für Nachhaltige Entwicklung BNE und Suffizienz.

Über 30 Millionen Deutsche wollen die Welt verbessern – ein Gastbeitrag von Joko Weykopf

Suffizienz statt Wachstum! Das Motto der aktuellen #kaufnix-Kampagne der Umweltstiftung trifft den Nerv der Zeit. Sie richtet sich gegen grenzenloses Wachstum und unbedachten Konsum. Keine Frage, es ist höchste Zeit zu handeln. Und jeder kann einen Beitrag leisten. Die gute Nachricht: Es gibt Grund zur Hoffnung!

Foto: geralt / Pixabay

Über 30 Millionen Deutsche wollen die Welt verbessern. Das zeigt unsere neue repräsentative Studie „Komm näher. Was Weltverbesserer antreibt“. Viele Menschen wollen heute nachhaltig konsumieren und auch in Unternehmen hat das soziale Gewissen Konjunktur – nicht zuletzt, weil viele Kund*innen verantwortungsbewusstes Handeln und nachhaltige Lösungen immer stärker einfordern. Diese Kund*innen gelten als besonders anspruchsvoll und kritisch, denn sie haben ein höheres Ziel: eine bessere Welt.

„Eine bessere Welt…“ – was ist das eigentlich, wer gestaltet sie und warum? Als Agentur, die auf Kommunikation für nachhaltige Themen und grüne Markenführung spezialisiert ist, wollten wir mehr über die Menschen erfahren, die sich bereits kritisch mit ihrem Konsumverhalten auseinandersetzen. Untersucht wurden Personen, die für fair gehandelte Produkte mehr Geld ausgeben, sich sozial engagieren oder lieber bei Unternehmen kaufen, die sich für Umwelt und Soziales engagieren.

Wir haben fünf Dialoggruppen auf Basis ihrer Lebensstile definiert. Sie sind generationenübergreifend und geben Aufschluss über Motive, Impulse und Barrieren auf dem Weg zu nachhaltigerem Konsum. Die Studie zeigt, wie und warum die einzelnen Gruppen handeln und welche Bedürfnisse sie in Bezug auf eine bessere Welt realisiert haben möchten: Sehnen sie sich nach Weltfrieden oder eigener Gesundheit? Handeln sie für ihre Kinder oder das eigene Vorankommen?

Die Antworten sollten Unternehmen aufhorchen lassen. Denn das kritische Konsumverhalten vieler Menschen zwingt immer mehr Unternehmen umzudenken. Warum? Weil Konsument*innen Unternehmen verantwortlich für den Zustand unserer Welt machen. Zu Recht. Marken, die das nicht begreifen und keine Verantwortung übernehmen, werden in Zukunft keine Rolle mehr spielen. Schließlich sprechen wir nicht von einer kleinen Minderheit, sondern von über 30 Millionen Menschen in Deutschland, die laut Studie bewusst dazu beitragen wollen, die Welt besser zu machen.

Von ambivalenten Aufsteigern und konsequenten Weltverbesserern

Von den fünf Dialoggruppen gehören 6,7 Millionen der Befragten über alle Generationen hinweg zu den „konsequenten Weltverbesserern“, die sich durch ein besonders hohes Engagement für Nachhaltigkeit auszeichnen. Anders steht es um die „ambivalenten Aufsteiger“ (3,7 Mio.), die hauptsächlich in der Generation Y vertreten sind. Ihnen ist die Umwelt zwar wichtig, ihren Lebensstandard möchten sie dafür jedoch nicht senken. Sie wissen, dass sie mehr tun könnten.

Foto: Dominika Roseclay/Pexels

Zwischen diesen beiden Polen befinden sich die folgenden Segmente: Die „fürsorglichen Gestalter“ (3,9 Mio.) sind mehrheitlich Männer, die sich für eine bessere und gerechtere Welt einsetzen, weil ihnen das Wohl der nachfolgenden Generation am Herzen liegt. Mit 10,1 Millionen Menschen sind die „zurückgezogenen Pragmatiker“ zahlenmäßig die stärkste Gruppe. Altersmäßig gehören sie zu den Babyboomern. Ihnen sind die Umwelt und ihr eigenes Wohlbefinden wichtig. Last but not least gibt es die „couragierten Weltretter“, zu denen 6,5 Millionen Repräsentanten der Generationen Y und Z gehören. Sie erkennen ihre Möglichkeiten, nachhaltig und fair zu konsumieren und haben Spaß daran, neue Wege und Produkte zu entdecken.

Selbstwirksamkeit ist zentraler Treiber

Kritische Konsument*innen wollen sehen und verstehen, was und wie sie zu einer besseren Welt beitragen. Unternehmen sollten daher transparent darstellen, was durch den Kauf eines Produktes bewirkt wird. Das untermauert und stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und damit die Motivation und Lust, noch mehr für eine bessere Welt zu tun. Wer sich bewusst ist, selbst etwas zu einer besseren Welt beigetragen zu haben, ist stolz darauf, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Marken können dies nutzen, indem sie ihren Beitrag zu nachhaltigem Konsum klar kommunizieren, erfolgreiche Vorbilder unterstützen und den Einfluss sozialer Gruppen nutzen.

Kritische Konsument*innen sind bereit zur Partnerschaft

Dass nachhaltiges Engagement gewürdigt wird, zeigt sich auch in der Bereitschaft von Konsument*innen, Bündnisse einzugehen, um gemeinsam mit Marken für eine bessere Welt zu sorgen. Mit anderen Worten: Unternehmerischer Mut wird belohnt.

Auf dem Weg zu einer besseren Welt spielt – über alle Dialoggruppen hinweg – der menschliche Zusammenhalt, also das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit in Bezug auf gemeinsame Ziele, eine wichtige Rolle. Markenkommunikation kann diesen motivationalen Anker nutzen, indem auf die gemeinsamen Bemühungen von vielen Bezug genommen wird: „Gemeinsam viel erreichen“.

30 Millionen Deutsche sind bereit, ihr Konsumverhalten zu verändern. Was für eine Chance! Unternehmen, die ihr Handeln sozial, ökonomisch und ökologisch nachhaltig ausrichten, sollten diese Gruppe gezielt bestärken und ermutigen. Vor allem sollten sie sich selbst trauen, ihren Beitrag zu einer besseren Welt lauter zu kommunizieren. Dann erhöht sich auch der Druck auf alle weiteren Marktteilnehmer. Allen interessierten Unternehmen bieten wir an, Erkenntnisse der Studie zu vertiefen und in individuellen Workshops kommunikative Maßnahmen zu erarbeiten.

Zur Methodik

Die Basis-Studie wurde in zwei Phasen von Oktober bis Dezember 2018 durchgeführt. In einer mehrwöchigen qualitativen Online-Untersuchung gewannen die Marktforscher*innen von Curth+Roth und Polycore zunächst ein tiefes Verständnis für die Lebensrealitäten der Dialoggruppen. Auf Grundlage dieser qualitativen Studie wurden die psychologisch repräsentativen Erkenntnisse quantifiziert. Dafür wurden in einer zweiten Phase über 600 Teilnehmer*innen zwischen 16 und 65 Jahren befragt und hinsichtlich statistischer Repräsentanz analysiert. Die Aussagen zur Gesamtbevölkerung der quantitativen Erhebung sind statistisch repräsentativ.

Über den Autor
© Polycore

Joko Weykopf, 38, gründete 2015 mit Jannes Vahl die auf Kommunikation für nachhaltige Produkte und Dienstleistungen spezialisierte Agentur Polycore in Hamburg. Mit seinem Team entwickelt er Marken und Kampagnen für Unternehmen, Initiativen, Behörden und Start-ups. Zu den Kunden zählen unter anderem die Amidori Food Company, Dr. Bronner’s, Budnikowsky, der Hamburger Senat und die Hamburger Sozialbehörde.