Degrowth-Somerschule – ein Interview mit Andrea Vetter

Seit 2015 gibt es die Degrowth-Sommerschule, die im August 2019 auf dem Klimacamp Leipziger Land in die fünfte Runde geht. Die Kurse der Sommerschule beinhalten Ideen und Visionen „für eine soziale, ökologische und demokratische Gesellschaft“. Andrea Vetter vom gemeinnützigen Veranstalter „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ hat mit uns über die Sommerschule und Postwachstum im Allgemeinen geredet.

Die Degrowth-Summerschule 2018, © Konzeptwerk neue Ökonomie

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Können Sie bitte kurz etwas über das Konzeptwerk Neue Ökonomie erzählen?

Andrea Vetter (AV): Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist seit 2011 ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Wir sind der Überzeugung, dass die Wirtschaft dafür da ist, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Die derzeitige Art zu Wirtschaften verfehlt diese Ziele weit: Sie ist undemokratisch und instabil. Sie erzeugt Reichtum für Wenige, aber Ausgrenzung und Armut für Viele. Durch die Umweltzerstörung werden diese Ungerechtigkeiten noch weiter verschärft und unsere Lebensgrundlagen vernichtet. Doch bislang ist die Wirtschaftspolitik vom Wachstumsgedanken dominiert, von Konkurrenz statt Kooperation. Das liegt vor allem an Machtungleichheiten, die zu ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten führen. So können diejenigen, die vom Wirtschaftssystem maßgeblich profitieren, ihre Interessen gegen die Bedürfnisse der Mehrheit durchsetzen.

Um dem zu begegnen, ist eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft dringend notwendig. Dafür gibt es keinen Masterplan: Wir verstehen uns als Teil einer Bewegung, welche viele Wege sucht und zusammenführt. Denn die nötigen Veränderungen sind vielschichtig und bedeuten eine weitgreifende Umstellung unserer Lebensweise.

DUS: Warum wurde die Degrowth Sommerschule gegründet?

AV: Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat zusammen mit einem großen Orga-Kreis die vierte Internationale Degrowth-Konferenz in Leipzig mit über 3000 Teilnehmer*innen organisiert. Danach haben wir darüber nachgedacht, wie wir das Thema Postwachstum weiter vermitteln können, und wie die theoretische Diskussion zu Degrowth stärker mit aktuellen politischen Kämpfen zusammengedacht werden kann. Unter dem Stichwort „Degrowth: konkret“ hatten wir die Idee, Verbindungen zur Klimagerechtigkeitsbewegung zu suchen. So entstand die erste Degrowth Sommerschule, wieder von einem mehrheitlich ehrenamtlichen Vorbereitungskreis getragen, auf dem Klimacamp im Rheinland.

DUS: Was lernen Teilnehmer*innen bei Ihnen?

AV: Sie lernen in mehrtägigen Kursen einen oder mehrere Themenaspekte von Postwachstum intensiver kennen. Die Kurse werden von Expert*innen aus Bewegung, Praxis und Wissenschaft gegeben und legen großen Wert auf partizipative Gestaltung und die Anregung zu eigenständigen Auseinandersetzungen und Weiterdenken in der Workshopgruppe. Die Themen reichen von Stadtplanung über Sorgearbeit und Landwirtschaft bis hin zu Mobilität; einige sind stärker auf strategische politische Fragen orientiert, andere näher an der direkten Lebenspraxis von Menschen und etliche vermitteln auch neueste wissenschaftliche Forschung an ein breites Publikum.

DUS: Die Sommerschule fand letztes Jahr in der Nähe eines Braunkohletagebaus statt? Könnte man die Schule auch als politische Aktion ansehen?

AV: Die Sommerschule selbst ist ganz klar eine politische Bildungsveranstaltung. Sie findet aber bewusst immer auf einem Klimacamp statt. Denn das ganze Camp ist ein Ort, an dem Wissensvermittlung, lebensfreundliche und selbstorganisierte alltägliche Praxen und politische Aktion sich verzahnen. Die Sommerschule macht Mut, auch im Alltag eine postwachstumsorientierte Lebensweise zu pflegen und sich politisch zu engagieren.

DUS: Organisieren Sie auch anderweitige Veranstaltungen zum Thema Postwachstum?

AV: Ja, sehr viele. Von Einzelvorträgen über mehrtägige Workshops bis hin zu Multiplikator*innen-Fortbildungen arbeiten wir deutschlandweit intensiv zum Thema Postwachstum und sozial-ökologische Transformation. Wir publizieren auch zum Thema. So haben wir ein zweibändiges Methoden-Heft zu Wachstumskritik und Postwachstum herausgegeben: „Endlich Wachstum!“. Darin finden Lehrer*innen und Workshop-Leiter*innen Bildungsbausteine, wie sie selbst Veranstaltungen zum Thema durchführen können. Das von uns geschriebene Buch „Degrowth/Postwachstum zur Einführung“ bietet einen umfassenden Überblick über den Stand der Postwachstumsdiskussion.

Über die Interviewpartnerin
©Lauren McKnown

Andrea Vetter ist Journalistin und Kulturanthropologin. Sie schreibt, forscht, begeistert, organisiert und backt Käsekuchen für einen sozial-ökologischen Wandel, vor allem für das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, das Haus des Wandels in Ostbrandenburg und die Zeitschrift Oya: enkeltauglich leben. Sie interessiert sich dabei besonders für konviviale Technik, alte und neue öko-feministische Ideen, Degrowth und gelingende Muster des Commoning.

Buchvorstellung: „Der Wachstumszwang“ – ein Gastbeitrag von Prof. Matthias Binswanger

Über lange Zeit leistete das Wirtschaftswachstum einen positiven Beitrag zum Wohlbefinden vieler Menschen. Im Vergleich zu früher können wir uns eine luxuriöse Lebensweise leisten und wir leben im Durchschnitt auch wesentlich länger und gesünder. Doch in neuester Zeit wird es in den wohlhabenden Ländern in Westeuropa, Nordamerika und Japan zunehmend fraglich, ob das Wachstum noch einen Beitrag zum Wohlbefinden der Menschen leistet.
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen und zeigt in seinem Buch „Der Wachstumszwang“ warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben.

Im folgenden Gastbeitrag gewährt Prof. Mathias Binswanger einen Einblick in das Buch.

Foto: Webseite von Mathias Binswanger

Gastbeitrag von Mathias Binswanger

Seit Beginn der ersten industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts in England ist Wirtschaftswachstum nach und nach in fast allen Ländern dieser Erde zu einem Dauerzustand geworden. Ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts gilt als Anzeichen einer funktionierenden Wirtschaft, während ein Ausbleiben von Wachstum als pathologische Störung empfunden wird. Schon ein Jahr ohne Wachstum führt zu grosser Nervosität in Politik und Wirtschaft, und man versucht alle Hebel in Gang zu setzen, um wieder auf den Wachstumspfad zurück zu gelangen. Und wächst eine Wirtschaft gar ein paar Jahre nicht, wie das in Griechenland von 2008 bis 2013 der Fall war, dann wird daraus eine nationale Katastrophe. Doch warum sind die nach der industriellen Revolution entstandenen kapitalistischen Wirtschaften dermassen auf Wachstum fixiert?

Dafür gibt es tatsächlich einen Grund. Wächst die Wirtschaft, kann eine Mehrheit der Unternehmen Gewinne erwirtschaften und ist somit wirtschaftlich erfolgreich. Bleibt das Wachstum jedoch über mehrere Jahre aus, dann machen immer mehr Unternehmen Verluste und verschwinden vom Markt. Auf diese Weise gerät die Wirtschaft in eine Abwärtsspirale mit steigenden Verlusten, sinkender Nachfrage und steigender Arbeitslosigkeit, aus der man nur mit Wachstum wieder herauskommt. Es gibt somit zwei Alternativen: Wachstum oder Schrumpfung.

Zu einer Schrumpfung kommt es aber im Normalfall nicht, weil Unternehmen aus eigenem Interesse stets möglichst hohe Gewinne erzielen wollen, was sich wiederum nur mit ständigen Investitionen in neues und besseres Kapital erreichen lässt. Deshalb wurde der Wachstumszwang, obwohl er seit der Entstehung kapitalistischer Wirtschaften im 19. Jahrhundert existiert, kaum als solcher wahrgenommen. Man sah vor allem den Wunsch nach Verbesserung der Lebensbedingungen und nach mehr materiellem Wohlstand. Doch heute werden sich die Menschen in hochentwickelten Ländern zunehmend bewusst, dass Wirtschaftswachstum zwar das Versprechen von steigendem materiellen Wohlstand eingelöst hat, aber trotzdem wesentliche Bedürfnisse unerfüllt bleiben. Die Menschen werden mit noch mehr materiellem Wohlstand nicht mehr glücklicher oder zufriedener. Und wir sehen auch, dass Wirtschaftswachstum die Umwelt belastet.

Aus dem Heilsversprechen des Wachstums auf eine bessere Zukunft wird so zunehmend eine Zwangshandlung. In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz wird die Forderung nach weiterem Wachstum deshalb kaum mehr damit begründet, dass es uns in Zukunft ein noch besseres Leben ermöglicht. Stattdessen wird uns Wachstum als Zwang präsentiert. Bei geringem oder ausbleibendem Wachstum würden wir gegenüber anderen Ländern zurückfallen, als Wirtschaftsstandort an Attraktivität verlieren, an Innovationskraft einbüßen und vor allem Arbeitsplatzverluste erleiden. Also müssen wir weiterwachsen, auch wenn wir dies gar nicht mehr wollen! Genau das ist der Wachstumszwang.

Der eben beschriebene Zusammenhang zwischen Wachstum und Gewinnen wird bis heute allerdings kaum thematisiert. Das liegt vor allem daran, dass die an Universitäten gelehrten Wachstumstheorien diesen Zwang gar nicht erkennen können. Die Wirtschaft wird dort nur von der Angebotsseite her betrachtet, und es stellt sich weder die Frage nach der Finanzierung von zusätzlichen Investitionen, noch die Frage, ob man die produzierten Produkte auch verkaufen kann und Gewinne erzielt. Deshalb ist es notwendig ein realistischeres Bild des Wachstumsprozesses zu vermitteln, wo der Zusammenhang zwischen Geldschöpfung, Investitionen, Wachstum und Gewinnen dargestellt wird. Erst dann lässt sich auch nachvollziehen, weshalb die Aufrechterhaltung des Wachstums in hochentwickelten Ländern immer mehr Anstrengungen erfordert. Es genügt nicht mehr vorhandene Bedürfnisse der Konsument*innen zu decken, sondern es müssen stets neue Bedürfnisse geweckt werden um den Verkauf weiter anzukurbeln. Doch kapitalistische Wirtschaften haben mittlerweile nicht nur ein hohes Innovationstempo erreicht, sondern auch eine Meisterschaft in der Weckung von neuen Bedürfnissen.

Ein Ende des Wachstums ist deshalb trotz stetigen Unkenrufen bis heute nicht in Sicht. Die Weltwirtschaft wächst nach der kurzen Unterbrechung durch die jüngste Finanzkrise im Jahr 2009 wieder regelmässig mit Wachstumsraten zwischen 2 Prozent und 4 Prozent. Die ganze Geschichte der kapitalistischen Wirtschaft war schon immer begleitet durch Prognosen über ihr baldiges Ende und vor allem das Ende des Wirtschaftswachstums, wie es etwa der Club-of-Rome-Bericht im Jahr 1972 prognostizierte. Doch davon kann keine Rede sein. Der Wachstumsdrang hat bis heute alle vermeintlichen Wachstumsbarrieren aus dem Weg geräumt, und auch der momentan viel diskutierte CO2-Anstieg hat bisher nichts daran geändert. Deshalb wächst der globale CO2-Ausstoß weiter an, obwohl die Wertschöpfung immer weniger CO2-intensiv ausfällt.

Über den Autor
© Mathias Binswanger

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war zusätzlich Gastprofessor an der Technischen Universität Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University in China und an der Banking University in Saigon (Vietnam). Mathias Binswanger ist Autor von zahlreichen Büchern und Artikeln in Fachzeitschriften und in der Presse. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen.

Buchinformation

Autor: Mathias Binswanger
Titel: Der Wachstumszwang – Warum die Volkswirtschaft immer weiterwachsen muss, selbst wenn wir genug haben
Verlag: Wiley-Verlag, Weinheim
Erscheinungsjahr: 2019
ISBN: 978-3527509751

Änderung von Konsummustern? – ein Interview mit Claudia Kemfert

Unser heutiges Interview im Rahmen der #kaufnix-Kampagne mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Frau Prof. Dr. Kemfert dreht sich um das Wachstumsparadigma und mögliche Handlungsoptionen, die zu mehr Nachhaltigkeit führen.

Änderung von Konsummustern?

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Unsere Kampagne fordert ein Ende des maßlosen Konsums. Dies würde sich auch negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirken. Was denken Sie, brauchen wir Wirtschaftswachstum? Warum bzw. warum nicht?

Claudia Kemfert (CK): Wachstum ist eigentlich etwas Wunderbares – nicht nur in der Kindheit wachsen wir, sondern unser ganzes Leben lang. Menschen, Tiere und Pflanzen sind Teil eines ewigen Kreislaufes aus Werden und Vergehen. Leben ist Wachstum. Die Erde ist über Milliarden von Jahren zu dem gewachsen, was sie heute ist. Und sie dreht sich immer weiter. Wäre das Wirtschaftswachstum ähnlich organisiert, würden wir uns darüber freuen.

Problematisch ist ein ungezügeltes Wirtschaftswachstum, das den Planeten zerstört statt ihn zu beleben. Wir müssen das Wirtschaftswachstum vom fossilen Energieverbrauch entkoppeln. Und wir müssen uns abgewöhnen, das Wirtschaftswachstum als Maßstab für Wohlstand zu definieren. Statt vor der Tagesschau Börsenkurse zu zeigen, sollten wir lieber die Indikatoren der Nachhaltigkeit unseres Planeten erfahren: Ressourcenverbrauch, die Sauberkeit der Luft oder der Anteil erneuerbarer Energien.

Wachsender Umweltschutz, wachsende Gesundheit, wachsender Zugang zu sauberem Trinkwasser und sauberer Energie hingegen sind wünschenswert. Der wachsende Einsatz von beispielsweise erneuerbarer Energien, klimaschonender Mobilität, steigender Gesundheitsvorsorge sowie Techniken zur Herstellung von sauberem Trinkwasser kann für wachsenden Wohlstand sorgen. Dann wäre Wirtschaftswachstum nicht die Ursache eines globalen Klimawandels, sondern dessen Lösung.

DUS: Sind die Klimaschutzziele und uneingeschränkter Konsum miteinander vereinbar? Sollten wir unseren jetzigen Konsum einschränken?

CK: Auch hier ist die Frage: Konsum von was? Konsum, der zu Überfischung, Vermüllung und Zerstörung der Erde führt, muss natürlich aufhören und zwar sofort! Aber wir werden die Treibhausgase nicht allein über Verzicht um 95% reduzieren. Ein solches Ziel scheint unerreichbar fern. Wir müssen den Menschen einen machbaren Weg zeigen und dafür auch politisch die Weichen stellen. Statt Askese zu predigen und zu üben, sollten wir uns freuen: Mit Klimaschutz bleibt die Welt lebenswert. Klimaschutz macht Spaß. Und nachhaltig konsumieren ist einfach.

DUS: Was braucht es, um das angestrebte 2-Grad-Ziel zu erreichen? Denken Sie, es ist machbar, dieses Ziel zu erreichen?

CK: Sicher ist das machbar! Es bedarf aber eines kompletten Umsteuerns in allen Bereichen: Ab sofort muss jede Investition statt in fossile in erneuerbare Energien fließen. Das Motto lautet: „Renewables First“!  Also Schluss mit Subventionen für fossile oder atomare Energien. Stattdessen müssen die Folgeschäden endlich eingepreist werden. Wenn Öl, Gas und Kohle so teuer wären, wie sie es in Wahrheit sind, werden die Leute mit großer Begeisterung auf Wind, Wasser, Sonne und Geothermie umsteigen. Wir brauchen eine Regulierung der Finanzmärkte für attraktive Investitionen in die globalen Energiewende. Das ist der Anfang und mit dem entsprechenden politischen Willen leicht umzusetzen. Dann geht’s weiter mit dem nächsten Schritt: Alle Produkte müssen nachhaltig und recycelbar sein. Die Mobilität sollte öko-elektrisch und klimaneutral sein. Auch das kann man durch entsprechende Rahmenbedingungen ermöglichen und einen Wettbewerb klimabewusster Ökonomie in Gang setzen.

Handlungsmöglichkeiten zu mehr Nachhaltigkeit

DUS: Effizienz, Suffizienz und Konsistenz gelten als Strategien der nachhaltigen Entwicklung. Wenn Sie diese Strategien gewichten, wie würde das aussehen und warum?

CK: Das Problem an solchen Begriffen ist leider immer, dass man sich erstmal verständigen muss, was damit gemeint ist. Dabei ist doch klar, dass wir – nach über 40 Jahren Diskussion über die Grenzen des Wachstums, über Umwelt- und Klimaschäden als Folge unseres Wirtschaftens – jetzt endlich handeln müssen.

Effizienz, die Vermeidung von Verschwendung, also mit möglichst wenig Ressourcenverbrauch ans Ziel zu kommen, ist dabei natürlich wichtig. Andererseits neigt der Mensch dazu, ständig mehr zu wollen. Das führt zu sogenannten Rebound-Effekten. Autos beispielsweise verbrauchen heute theoretisch weniger Sprit als früher, tatsächlich aber verbrauchen sie mehr, weil sie größer und schwerer geworden sind und mit Klimaanlage und elektronischem Service unterm Strich einen höheren Energieverbrauch haben als die Spritfresser früherer Jahrzehnte.

Suffizienz, Genügsamkeit, ist deswegen der logische nächste Schritt. Oder anders gesagt: Verzicht scheint unverzichtbar. Wir brauchen ein Konsumbewusstsein, das den realen Bedarf hinterfragt und vor allem die jeweiligen Folgen eines bestimmten Konsumverhaltens einbezieht. Wenn wir nicht von selbst aufhören, immer mehr zu brauchen, müssen wir eine klimaverträgliche Obergrenze definieren. Eine Art CO2-Budget ist sinnvoll: wenn jeder Mensch nur noch 6,5 Kilogramm CO2 pro Tag ausstoßen darf, dann wird er lernen, wie er mit weniger zurecht kommt. Jedes Land ist gefordert, dass dieses Klima-Budget nicht überschritten wird und muss dies mit entsprechenden Maßnahmen umsetzen.

Konsistenz, Kreislaufwirtschaft, also eine Welt ohne Abfälle, in der alles wiederverwertet wird, ist ein verlockender Gedanke. Die Natur macht es uns in wunderbarer Weise vor. Bislang gelingt es uns nur, die Lebensdauer von Rohstoffen im Verwertungsprozess zu verlängern, von echten Kreisläufen kann kaum die Rede sein. Es wird zwar viel von „Re-Cycling“ gesprochen, aber vollkommene Kreisläufe sind noch Utopie.

Deswegen ist die Strategie-Diskussion nicht hilfreich, erst recht nicht die Frage, welche der Strategien die beste ist. Derzeit sollten wir alle drei Wege beschreiten, gleichzeitig nebeneinander oder am besten miteinander verzahnt. Hauptsache, wir kommen endlich mit großen Schritten weiter!

DUS: Wie schätzen Sie die Handlungsmöglichkeiten der Politik ein? Wie kann/muss die Politik dazu beitragen, Suffizienz zu verwirklichen?

CK: Die Verantwortlichen in der Politik sind genauso gefragt wie jeder einzelne Mensch. Es geht vor allem darum, jegliches Wirtschaften komplett auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz auszurichten. Dies braucht einem bunten Strauß an Instrumenten aus Ordnungsrecht und ökonomischen Rahmenbedingungen. Die Politik muss die Instrumente bauen und zur Verfügung stellen; die Menschen müssen dann verantwortungsbewusst, kreativ und harmonisch auf ihnen spielen.

DUS: Was denken Sie über die Bewegung “Scientists for Future”? Unterstützen Sie die Bewegung?

CK: Ich habe als eine der Erstunterzeichnerinnen den Appell unterzeichnet unterstütze die Bewegung und war bisher auch beim March for Science dabei. Die Wissenschaft hat die Aufgabe, wissenschaftliche Erkenntnisse in die aktuelle Debatte einzubringen und auf die Dringlichkeit des Handelns hinzuweisen. Die Schülerinnen und Schüler der „Fridays for Future“ fordern völlig zu recht viel ambitionierteres Handeln ein, sie sind die Betroffen. Die Wissenschaft liefert seit über 40 Jahre wissenschaftliche Fakten, die Politik reagiert zu zögerlich und zu spät. Wir haben keine Zeit mehr. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem.

DUS: Sie arbeiten in einem Institut. Warum haben Sie sich für dieses Institut entschieden und was denken Sie, ist die Rolle des Instituts in der nachhaltigen Entwicklung?

CK: Wir liefern seit über 15 Jahren wissenschaftliche Erkenntnisse zum besseren Verständnis, welche ökonomischen Konsequenzen ein ungebremster Klimawandel und auch Klimaschutzmaßnahmen haben werden. Die Rolle der Wissenschaft ist eindeutig: wissenschaftliche Erkenntnisse müssen in der Politikberatung und in der öffentlichen Diskussion eingebracht werden.

Über die Interviewpartnerin

© D. Güthenke

Frau Prof. Dr. Claudia Kemfert hat Wirtschaftswissenschaften studiert und leitet seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Sie ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der privaten Universität, der Hertie School of Governance, in Berlin und als Gutachterin und Politikberaterin in verschiedenen Nachhaltigkeitsbeiräten und Kommissionen tätig.

Kritik am Wachstum – ein Interview mit Niko Paech

Die Forderung unserer #kaufnix-Kampagne „Schluss mit unbedachtem Konsum“ hat Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Daher haben wir im Folgenden den Wirtschaftswissenschaftler Prof. Niko Paech interviewt, der uns seine Sichtweise aufzeigt, warum ein Wandel in der Ökonomie notwendig ist.

Kritik am Wachstum

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie sind habilitierter Wirtschaftswissenschaftler.  In der Ökonomie dominiert immer noch der Glaube an das Wachstumsparadigma. Aus welchen Gründen sehen Sie das kritisch und welche Probleme wird unsere Gesellschaft haben, wenn wir weiterhin Wirtschaftswachstum als Allheilmittel sehen?

Niko Paech (NP): Einerseits ist unser heutiges Wohlstandsmodell ohne Wachstum nicht zu stabilisieren. Andererseits ist es weder theoretisch darstellbar, noch empirisch jemals eingetreten, die Wirtschaft wachsen zu lassen, ohne ökologische Schäden zu verursachen. Die bisherigen Versuche, ein umweltverträgliches Wachstum durch technische Innovationen oder nachhaltige Produktdesigns zu erreichen, sind rigoros gescheitert, weil die Schäden auf diese Weise nur verlagert oder in andere Schadenskategorien überführt wurden. Hinzu kommt, dass materieller Wohlstand in modernen Industriegesellschaften auf einer kostengünstigen und unbeschränkten Verfügbarkeit fossiler Energieträger beruht. Doch sowohl bei Rohöl, Flächen als auch der Verfügbarkeit essenzieller Rohstoffe wächst die Knappheit. Außerdem lässt sich das sozial- bzw. entwicklungspolitische Versprechen des Wachstumsdogmas, nämlich Armut und Ungleichheit über Zuwächse der Verteilungsmasse zu mindern, nicht einlösen. Denn der zwecks Wachstumsstimulierung unabdingbare Strukturwandel steigert die Krisenanfälligkeit und sogar die Verteilungsungleichheit.

DUS: Was bedeutet Ihre Wachstumskritik für die individuelle Lebensgestaltung. Müssen wir uns radikal einschränken?

NP: Suffizienz sollte nicht an basalen Grundbedürfnissen, sondern an jenem Luxus  ansetzen, der in jüngster Zeit verbreitet wurde und zugleich die eklatantesten Schäden verursacht. Suffizienz kennt drei Ausprägungen:

  • Reduktion des Ausmaßes einer Aktivität,
  • Selbstbegrenzung, also Beibehaltung einer bislang noch ökologieverträglichen Handlungsweise,
  • Gänzliche Vermeidung einer bestimmten Option.

Der Erfolg dieser drei Suffizienz-Prinzipien kann nur an der Gesamtbilanz  aller ökologischen Schäden, die ein einzelner Mensch verursacht, gemessen werden. Andernfalls droht ein „ökologisches Versteckspiel“, das beispielsweise darin besteht, dass eine suffiziente Ernährung als moralische Kompensation für Flugreisen dient. Allein um das Zwei-Grad-Klimaschutzziel zu erreichen, müssten in Deutschland die ca. 12 Tonnen CO2 pro Kopf  und Jahr um vier Fünftel reduziert werden. Das ist erstens mit keiner Technologie zu erreichen und zweitens vor allem nur durch eine harte Reduktion des Verkehrs möglich. Suffizienz heißt vor allem Sesshaftigkeit.  Die aus Klimaschutzsicht am wenigsten suffizient lebenden Menschen sind daher Flugreisende.

DUS: Werbebotschaften suggerieren, dass Konsum glücklich macht. Sie hingegen sagen, Konsum mache ab einem gewissen Punkt „krank“ – warum?

NP: Ergebnisse der Glücksforschung legen nahe, dass eine Steigerung des über Geld vermittelten materiellen Reichtums das subjektive Wohlbefinden ab einem bestimmten Niveau nicht erhöht. Konsumhandlungen stiften nur dann Nutzen, wenn ihnen ein Minimum an eigener Zeit gewidmet wird. Daraus resultiert eine psychische Überforderung: Die zunehmenden Möglichkeiten an finanzierbaren, jedoch Zeit beanspruchenden Konsumoptionen treffen auf ein nicht vermehrbares individuelles Zeitbudget. Aus Selbstverwirklichung wird Reizüberflutung und schließlich Stress.

DUS: Können Sie uns ein Beispiel geben, wie Sie selbst suffizienz-orientiert leben?

NP: Ich selbst nutze unter keinen Umständen Flugzeuge oder Kreuzfahrtschiffe, habe kein Auto, lebe ohne Handy/Smartphone, Fernseher, habe keine elektrischen Werkzeuge, keine Mikrowelle, keinen Föhn, keinen elektrischen Rasierer, keine Kaffeemaschine. Textilien, Möbel und sonstige Gebrauchsgegenstände beschränke ich auf das nötigste und verlängere deren Nutzungsdauer maximal. Bücher und CDs kaufe ich gebraucht. Zudem bin ich Vegetarier, konsumiere regionale/saisonale Nahrungsmittel, vermeide Verpackungen, lehne insbesondere jede Einweggetränkeverpackung kategorisch ab. 

Neuordnung als Lösung

DUS: Unsere Kampagne versucht, das Konzept der Suffizienz einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wieso brauchen wir jenseits von Effizienz und Innovation Suffizienz, um unser Leben und unsere Wirtschaft nachhaltig zu gestalten?

NP: Wie gesagt ist eine  Entkopplung des aktuellen Wohlstandes von Umweltschäden nicht möglich. Es ist daher logisch, dass nur die Reduktion der Mobilitäts- und Konsumansprüche dazu verhilft, die ökologischen Grenzen einzuhalten.

DUS: Welche Rolle spielen Green-Growth-Maßnahmen in Zukunft aus Ihrer Sicht?

NP: Die Green-Growth-Strategie ist gescheitert. Mehr noch: Sie hat infolge verheerender Rebound-Effekte sogar bestimmte neue Schäden erst entstehen lassen. Darüber hinaus bildet sie das perfekte Alibi dafür, keine Verantwortung für die eigene Lebensführung übernehmen zu müssen. Gleichwohl können manche Technologien, die oft mit Green Growth assoziiert werden, auch in einer Postwachstumsökonomie zum Einsatz gelangen. Ein Beispiel: Damit Wind- und Solarenergie zur ökologischen Entlastung beitragen können, darf die industrielle Wirtschaft nicht nur nicht wachsen, sondern muss prägnant verkleinert werden.

DUS: Wen sehen Sie in der Verantwortung, diesen Wandel einzuleiten/voranzutreiben? Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Bürger*innen?

NP: Demokratische Regulative, ganz gleich ob Politik, Bildung, Erziehung oder Medien, sind zu bereitwilligen Erfüllungsgehilfen einer öko-suizidalen Daseinsform geworden, die als sozialer Fortschritt verklärt wird. Sie wetteifern darin, jede beliebige Klientel mit ständig neuen Freiheits- und Wohlstandsangeboten zu beglücken. Politische Gestaltungsprinzipien sind auf das dumpfe Niveau des Geschenkeausteilens herabgesunken. Insoweit die meisten kaum weiter von einer nachhaltigen Lebensführung entfernt sein könnten, müssten sie, wenn sie eine Suffizienzpolitik wählen würden, damit ihren Lebensstil abwählen. Das würde niemand verkraften. Deshalb würden nur jene, die längst eine suffiziente Lebensführung eingeübt haben, eine solche Politik ertragen. Dies wiederum bedeutet, dass hinreichend viele Menschen autonom und selbst organisiert damit begonnen haben müssen, Suffizienz nicht nur zu fordern, sondern konsequent vorzuleben, bevor die Gesellschaft als Ganzes zu einer  nachhaltigen Entwicklung befähigt ist. Erst wenn genügend Reallabore entstanden sind, in denen sich suffiziente Daseins- und Wirtschaftsformen als gelebtes Erfahrungswissen etabliert haben, kann deren Verbreitung einsetzen. So entstünde ein Vorrat an imitierbaren Praktiken – ähnlich wie die von Beuys so bezeichneten „sozialen Plastiken“ –, auf die zurückgegriffen werden kann und auf die auch die Politik verweisen kann. Es kommt darauf an, suffiziente und sesshafte Lebenskunst vor dem Verlernen zu bewahren, also in Nischen fortlaufend zu reproduzieren. Denn nachdem die Genügsamkeit ausgestorben ist, stirbt als nächstes die menschliche Zivilisation. Individuen darin zu stärken, unter bescheidenen Bedingungen ein resilientes und würdiges Dasein zu meistern, ist die demokratische Alternative zum aussichtlosen Unterfangen, das große politische Rad in Richtung Reduktion zu drehen, denn die hierzu nötigen Mehrheiten sind absehbar nicht in Sicht.

Über den Interviewpartner
© Niko Paech

Prof. Dr. Niko Paech ist einer der prominentesten Vertreter der Postwachstumsökonomie. Er forscht und lehrt am Lehrstuhl Produktion und Umwelt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg u.a. in den Bereichen Klimaschutz, nachhaltiger Konsum, Umweltökonomik und Innovationsmanagement. Paech ist u.a. Autor des Buches „Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie“.

Basta! Selbstbeschränkung und ökologische Zivilisierung – ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Pierre Ibisch 

Wachstum und Konsum bereiten vielen Menschen große Freude. Sie gehen einher mit Wahlmöglichkeiten und einem vermeintlichen Gefühl der Freiheit. Konsumverzicht und Genügsamkeit sind nicht automatisch gleichermaßen beglückend, und dennoch bedeuten sie die neue – notwendige – Stufe der Zivilisierung.

Der Mensch ist ein Tier, aber ein besonderes. Gewöhnlich wird hervorgehoben, dass es sich um ein zu herausragender Intelligenz befähigtes Wesen handelt, Homo sapiens – der vernünftige Mensch. Diese Vernunft reicht soweit, dass wir derartig intensiv über uns selbst nachdenken können wie wohl sonst keine anderen Organismen. Wir machen uns sogar über schier Unvorstellbares Gedanken wie den eigenen Tod. Eigentlich sind wir Menschen zukunftsfähig, weil wir Zukunftsszenarien entwickeln können, die über unser eigenes Ende hinausgehen. Wir sind so schlau, dass wir für etwaige riskante, schlechtere Zeiten vorsorgen können. Wir können aktuelle Bedürfnisse zurückstellen, um Ressourcen für die Zukunft zu sammeln und aufzubewahren oder uns gar auf ein angenommenes Leben im Jenseits vorbereiten. Wir empfinden Empathie mit Mitmenschen – unter Umständen sogar mit solchen, die noch nicht geboren sind, und wir kooperieren mit unseresgleichen. Diese Gefühle zeichnen den Menschen in besonderem Maße aus: ein vernunftbegabtes und soziales Wesen mit einem gewissen Faible für zukunftsorientiertes Risikomanagement durch Anhäufen von Ressourcen. Aus dieser Mischung wurde ein Erfolgsmodell – und gleichzeitig ein ‚evolutiver Sprengsatz‘. Keine Art vor uns hat es aus eigener Kraft geschafft, den gesamten Planeten zu besiedeln, die unterschiedlichsten Ökosysteme für das Überleben zu nutzen, fossile Ressourcen aus vergangenen Erdzeitaltern anzuzapfen, sich global zu vernetzen und letztlich ein exponentielles Wachstum von Population und Ressourcenumsatz zu erreichen.

Durch Wachstum zum Erfolg – und zurück

Der sein eigenes Wachstum entfesselnde Mensch hat die Regulation durch das globale Ökosystem scheinbar außer Kraft gesetzt … endlich die Fesseln der Natur gesprengt, die unsere Freiheit über Jahrtausende beschränkte. Der Mensch maximiert die Ressourcenverfügbarkeit für sich selbst – aber auf Kosten der Ressourcen für andere Arten und die Funktionstüchtigkeit des großen Ganzen. Eine verhängnisvolle Falle, die sehr groß ist und deshalb nur langsam und unmerklich zuschnappt. Denn das globale Ökosystem wird auch unser Wachstum wieder einhegen, so wie es die starke Vermehrung von Algen, Krankheitserregern oder Heuschrecken früher oder später wieder einfängt. Im Moment zählt aber nur: Während die Verfügbarkeit fundamentaler Lebensressourcen für jüngere und spätere Generationen schwindet, gelingt es zumindest einer großen Gruppe der aktuell lebenden Menschen, ein historisch einzigartiges Wohlergehen zu erreichen, indem der materielle und energetische Einsatz von Ressourcen ins Unermessliche gesteigert wird. Dieses Wachstum zahlt sich kurzfristig aus, ist angenehm, macht Spaß, regt an, vermehrt Handlungsoptionen und die Selbstwirksamkeit. Zugegeben, das neue Zeitalter der großen Beschleunigung, nennen wir es Tachyzän, überfordert uns inzwischen auch schon mal. Aber der Stress mit „Hülle und Fülle“ ist nichts gegen Hungertod und Unfreiheit. Als Hochkultur berauschen wir uns an vor Kurzem noch kaum absehbaren Leistungen der Menschheit: Wir überwinden die Grenzen der früheren Generationen, fliegen mit Überschallgeschwindigkeit umher, besuchen andere Planeten, fotografieren schwarze Löcher, bauen kilometergroße Gebäude, die uns unsere eigene Größe spiegeln, entwickeln Apparate mit künstlicher Intelligenz, die uns immer mehr mühselige Arbeiten abnehmen. Ist das alles nicht großartig? Natürlich ist es das. Nicht viel scheint deshalb dafür zu sprechen, diesen Trip freiwillig zu beenden. Außer vielleicht das zukünftige Leid Jüngerer und Nichtgeborener, die vom beschädigten globalen Ökosystem nicht mehr ernährt und beschützt werden können? Nach einigen Jahrzehnten des exponentiellen Wachstums von Material- und Energieumsatz, technologischer Entwicklung und unserer Population ist es schwieriger geworden, die Folgekosten zu ignorieren oder zu verbergen. Energie- und Platzbedarf unseres Wachstumshungers sind die größten Probleme. Ursprünglich setzten Menschen mit ihrem Körper ca. 3,5-5 Giga-Joule (GJ) pro Jahr und Person um – inzwischen ist der Energieumsatz bis um das Hundertfache gesteigert. Um eine Nahrungs-Kalorie bereitzustellen, setzen wir für manche Produkte ein Vielfaches an (meist fossiler) Energie ein. Inzwischen haben wir allein ca. die Hälfte der Biomasse auf den Kontinenten verbraucht … gegessen, verbrannt, verdrängt. Die allermeisten bioproduktiven Flächen nutzen wir für unsere Zwecke und lassen anderen Mitbewohnern der Erde immer weniger Platz. Die letzten sich mehr oder weniger selbst steuernden Ökosysteme zerschneiden und stören wir mit Straßen und anderer Infrastruktur. Allesamt – zu Lande und zu Wasser – traktieren wir sie mit Giftstoffen und setzen sie einem sich beschleunigenden Klimawandel aus. Die Folgewirkungen schlagen inzwischen auch auf die Menschen zurück: Wetterkatastrophen, Ernteeinbußen oder neuartige Erkrankungen sind nur einige Beispiele.

Aber dies alles lässt sich ja vielleicht reparieren und zukünftig vermeiden, weil uns noch großartigere Erfindungen einfallen, die uns ein fortgesetztes Wachstum ermöglichen: künstliche Manipulation der Atmosphäre zum Beenden des Klimawandels, unbegrenzte Energieverfügbarkeit durch Kernfusion, künstliche Photosynthese und im Labor gezüchtetes Fleisch zur Ernährung der wachsenden Bevölkerung, letztlich die Besiedelung von Ozeanen und des Alls … – Was nur, wenn nicht? Was, wenn wir die Rechnung ohne den Wirt machen – das globale Ökosystem?

Haste was, biste was – wie in der Gesellschaft, so in der Natur?!

Die individuelle Erfahrung der meisten Menschen sowie auch die Kollektiverfahrung der globalen Zivilisation mit ihrer vermeintlichen Fortschrittskultur besagen, dass ein Mehr an Ressourcen – für mich und die meinen, heute und morgen – größeren Wohlstand, bessere Gesundheit und die Verringerung vieler unmittelbarer Risiken bedeutet. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, „Haste was, biste was“, „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Bibel, Matthäus 25:29). So ist das nämlich. Wir haben gelernt, Mitmenschen nicht nur durch unsere Fähigkeiten zu beeindrucken, sondern vor allem durch unseren Besitz, unseren Schmuck und unsere Kleidung, die anzeigen, dass wir erfolgreich und vertrauenswürdig sind. Besitz um des Scheins willen und Statussymbole finden sich weltweit wohl in den meisten Kulturen. Federschmuck, Amtskette, Frack, Porsche und iPhone verleihen uns Würde, Respekt oder Anerkennung. Digitalisierung und Informationstechnologie haben nicht nur unseren Zugang zu vorher unerreichbaren Ressourcen erleichtert, sondern auch das Wünschbare vervielfältigt. Die ganze Erde ist nicht ein Dorf, sondern ein globales Schaufenster geworden, eine Shopping-Mall sowie ein weltweites Theater, in dem sich alle Nutzer*innen der sozialen Medien etwas mit ihrem Konsum vorspielen können.

Nach wie vor sind die materiellen Vorteile von größerem Besitz nicht von der Hand zu weisen. Wenn unser Kapital abundant ist oder gar wächst, können wir es einsetzen, um es zu vermehren. Tatsächlich ein recht natürliches Geschehen, das auch in Ökosystemen zu beobachten ist. Wenn nach einem Vulkanausbruch ein nackter Fels von Bakterien, Flechten und ersten Pflanzen besiedelt wird, kommt es ebenfalls zu einem exponentiellen Wachstum. Wo viele Pflanzen wachsen, können mehr Sonnenenergie und weitere Ressourcen gebunden werden, entsteht mehr Biomasse, die günstig auf die Produktivität wirkt … es kommt zu einer Eskalation des Lebens. Schnelles nichtlineares Wachstum ist eine wichtige Strategie der belebten Natur, um Lücken zu füllen, Gelegenheiten zu nutzen und neue Chancen zu eröffnen. Wenn allerdings der physisch verfügbare Raum aufgebraucht ist, schalten Ökosysteme um, ohne ihre Funktionen einzustellen: Es reduziert sich das Massewachstum und strebt letztlich gegen Null. Im System erfolgt nur noch qualitatives Wachstum in Form von immer neuer genetischer Information, einer Zunahme von unterschiedlichen Arten, Lösungen und Lebensstrategien, die zu einer effizienteren Ressourcennutzung, einer erhöhten Systemintegration und vor allem zu einer immer besseren Selbstorganisation und –regulation im System führen. Dies bedeutet in ‚reifen‘ Ökosystemen einen Rückgang von Konkurrenz und eine Steigerung der Bedeutung von Kooperation und positiver Interaktion zwischen den Systemkomponenten. Ressourcen werden effizient aufgenommen, verwendet und – sofern möglich – recycelt. Die Wahrscheinlichkeit von abruptem Wandel und Zusammenbruch wird zumindest reduziert. Das System operiert an den Grenzen des Wachstums und ist suffizient. Kann uns als menschliche Gesellschaft Vergleichbares gelingen? Können wir Triebe und Wachstumswünsche regulieren und hintanstellen? Können Solidarität und Kooperation Konkurrenz- und Wachstumszwang eindämmen?

Menschliche Selbstzähmung und ökologische Zivilisierung

Basta! Es muss doch reichen. Menschen können nachgewiesenermaßen mit sehr viel weniger Konsum glücklich sein, gegebenenfalls sogar deutlich glücklicher als der von sozialem Verbrauchs- und Darstellungszwang, Dauerwerbebeschallung und Beschleunigung gestresste Mensch der entfesselten Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Tatsache ist zudem, dass uns ein enormes Potenzial der Selbstzähmung innewohnt. Im Rahmen der Zivilisierung haben wir gelernt, uns Regeln des Zusammenlebens zu geben und sie mehr oder weniger zu respektieren; wir sind überwiegend in der Lage, Flucht- und Angriffsreflexe zu unterdrücken. Unsere Kultur hat uns beschert, dass sogar bei steigender Bevölkerungsdichte das Risiko, gewaltsam in Konflikten zu Schaden zu kommen, erheblich reduziert wurde. Den Individuen fallen das Unterordnen und Zurücknehmen in vielerlei Lebenslagen durchaus schwer, aber gesellschaftliche Normen, Erziehung und Bildung geben uns einen lenkenden Rahmen. Dabei sind wir in der Lage, unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen, vor allem, wenn wir von der Gesellschaft bzw. vom Staat nicht gezwungen werden, sondern wenn uns Anerkennung und Belohnung winken. Menschen sind nicht nur veranlagt, möglichst viel haben zu wollen und sich alles zu nehmen, was sie bekommen können. Wir sind auch empathisch und solidarisch, wir sind bereit, Not zu lindern. Und uns ist die Vernunft gegeben, uns selbst kritisch zu hinterfragen und unser Handeln zu überdenken. Das fällt leichter, wenn es dafür Anerkennung gibt. Auch mit guten Taten kann man sich darstellen, Anhänger*innen und Follower gewinnen – viele Celebrities machen es vor.

Alle Menschen können sich dafür einsetzen, dass sie nicht mehr in erster Linie als Verbraucher*innen bezeichnet und angesehen werden. Sie können mit Eigeninitiative vorangehen und müssen gleichzeitig die angemessenen politischen Rahmensetzungen einfordern. Nur mit einer gesamtgesellschaftlichen ergebnisoffenen Anstrengung, Entwicklung und Zivilisierung wirklich neu zu denken und die Wurzelgründe unserer Probleme abzustellen, können wir eine echte Transformation schaffen. Wir müssen eine Kultur anstreben, in dem das soziale oder ökologische Jahr und die in ihm gewonnenen Erfahrungen mehr zählen als ein Porsche. Teilzeitarbeit, unvergütete Beschäftigungen und Beiträge zur Selbstversorgung gehören politisch aufgewertet und unterstützt. Tätigkeiten für Menschen und Natur verdienen eine besondere Förderung – z.B. durch freien Zugang zu bestimmten Leistungen etwa im kulturellen Bereich. Konsum und Schadschöpfung durch Produktion müssen angemessen besteuert werden. Eine CO2-Steuer kann nur der Anfang sein, genauso müssen Wasser- und Landverbrauch sowie die Störung von Ökosystemen angemessen verteuert werden. Konsumvermeidende Geschäftsideen, Reparatur und Recycling bedürfen der massiven Förderung. Bildungspolitisch ist die Bedeutung der Ethik aufzuwerten. Wir benötigen eine intensivere Reflektion über die Folgewirkungen unseres Handelns und deren Vermeidung sowie ein Nachdenken darüber ‚was wirklich zählt‘.

Bereits 1993 erfand der Soziologe Wolfgang Sachs das Konzept der Suffizienz. Im selben Jahr warb Walther Kösters für eine „ökologische Zivilisierung“. Beides hat ein Vierteljahrhundert später erheblich an Brisanz gewonnen. Allem Wachstum zum Trotz, das damals noch gar nicht vorstellbar schien. Wachstum verringert die Halbwertzeit von so mancher Technologie und vielerlei Wissen – unbequeme Wahrheiten und richtige Ideen schafft es nicht aus der Welt.

Über den Autor
© Centre for Econics and Ecosystem Management

Prof. Dr. Pierre Ibisch ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und Mitherausgeber des Buchs „Der Mensch im globalen Ökosystem. Eine Einführung in die nachhaltige Entwicklung“. Er wirbt für eine ökologische Radikalität und ökosystembasierte nachhaltige Entwicklung. Er verfasste bereits vor einem Jahrzehnt u.a. für ZEIT ONLINE Beiträge zur Suffizienz und Nachhaltigkeit wie etwa „Das Primat des Wirtschaftswachstums beenden“ „Nicht die Armut, das Wachstum muss bekämpft werden“. Siehe auch Interview „Wirtschaftswachstum ist schädlich“ auf Deutschlandfunk Kultur.