Suffizienz wird als relativ neues Thema angesehen, dass erst aktuell in der Nachhaltigkeitsdebatte Platz findet. In den letzten Beiträgen wurden viele Projekte aus Deutschland oder Europa vorgestellt, die sich mit Suffizienz beschäftigen. Wussten Sie, dass Suffizienz sogar in den Verfassungen mancher Länder verankert ist?
Die Verfassungen in Ecuador und Bolivien beziehen sich seit 2008 bzw. 2009 auf die Lebensphilosophie „Buen Vivir“. Buen Vivir oder Sumak Kawsay (auf Quechua) ist eine Weltanschauung der indigenen Bevölkerung im Andenraum von Südamerika. Nachdem die eigenen Traditionen und Lebensweisen 500 Jahre lang durch Kolonialisierung unterdrückt wurde, schlossen sich verschiedene indigene Gruppen zusammen, um ihre Vorstellung eines guten Lebens zu verbreiten. Aufgrund der Vielzahl indigener Völker existieren auch verschiedene Variationen von Buen Vivir. Alle Konzepte haben jedoch die Gemeinsamkeit, dass sie nicht materiellen Reichtum, sondern sozialen Zusammenhalt und ein harmonisches Verhältnis zur Natur als Ziel des guten Lebens betrachten. Damit widerspricht Sumak Kawsay dem westlichen Entwicklungskonzept, das von einer linearen Entwicklung ausgeht und vornehmlich Wachstum und Fortschritt als Ziel sieht. Anstelle von Wirtschaftswachstum möchte Buen Vivir einen Gleichgewichtszustand mit der Natur erreichen.
Ecuador und Bolivien verankerten diese Lebensphilosophie in ihren neuen Verfassungen. In der ecuadorianischen Verfassung ist „das gute Leben“ als Ziel festgeschrieben, wozu unter anderem das Recht auf Ernährung, Gesundheit, Bildung und Wasser gehören. Die Forderungen der Verfassung gehen weit über Menschenrechtsforderungen hinaus: Die Rechte der indigenen Bevölkerung, Respekt vor der Vielfalt und Harmonie mit der Natur sind ebenfalls durch die Verfassung geschützt. In Bolivien ist zudem ein Gesetz zum Schutz der Erde erlassen worden. Ein Absatz in der Verfassung garantiert aber nicht, dass Buen Vivir umgesetzt und Umweltzerstörungen verhindert werden. Allerdings stieß die Verfassungsänderung eine lebendige Debatte in Südamerika an.
Sumak Kawsay hat in vielen Bereichen bereits das politische Handeln verändert. Im Yasuni Nationalpark in Ecuador befinden sich große Ölreserven, deren Abbau den Regenwald zerstört würde. Alberto Acosta, prominenter Vertreter von Sumak Kawsay und damaliger Minister für Energie und Bergbau beschloss, auf die Erdölförderung im Yasuni Nationalpark zu verzichten. Mit Verweis auf Sumak Kawsay wollte er auf Profit verzichten, um die Umwelt zu schützen, obwohl Erdöl das wichtigste Exportprodukt Ecuadors ist. Die Maßnahme wäre wohl mit der Forderung eines deutschen Ministers vergleichbar, die Automobilindustrie für den Klimaschutz abzuschaffen.
Im Gegenzug forderte Ecuador die internationale Gemeinschaft dazu auf, einen Teil der erwarteten Exporteinnahmen zu entschädigen. Die meisten Staaten, unter ihnen Deutschland, weigerten sich jedoch zu zahlen, weshalb nur 0,37 % des Kompensationsbetrages zusammenkamen. Im Ergebnis beschloss Ecuador wiederum, das Erdöl zu fördern.
Schlussendlich wurde im Yasuni Nationalpark nicht nach dem Konzept Buen Vivir gehandelt. Trotzdem zeigten die Vorschläge von Alberto Acosta einen möglichen Perspektivwechsel der Politik. Würden wir öfter nach den Prinzipien von Sumak Kawsay handeln, könnten wir vielleicht viele Umweltprobleme lösen.
Quellen: Fatheuer, Thomas (2011): Buen Vivir: Eine kurze Einführung in Lateinamerikas neue Konzepte zum guten Leben und zu den Rechten der Natur. Band 17 der Schriftenreihe Heinrich Böll Stiftung. Francois, Houtard (2011): El concepto de sumak kawsai (buen vivir) y su correspondencia con el bien común de la humanidad. alai. URL: https://www.alainet.org/es/active/47004. Marinko, Jan (2018): Ecuador: Neue Bohrungen zur Förderung von Erdöl im Yasuní-Nationalpark. amerika 21. URL: https://amerika21.de/2018/01/193447/neue-bohrungen-yasuni-nationalpark-ecuador.
Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft, Wirtschaft, sowie auch unsere privaten Konsum- und Lebensweisen. Verbraucher*innen erhalten personalisierte Werbung direkt auf das private Endgerät und können viel gezielter online nach Produkten suchen. Lassen sich diese Entwicklungen mit einem suffizienten, nachhaltigen Konsum vereinen? Wir haben mit Maike Gossen vom IÖW über die Chancen und Risiken der Digitalisierung für einen nachhaltigen Lebensstil gesprochen.
Suffizienter Konsum durch Digitalisierung
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie arbeiten in der Forschungsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation“ an der TU Berlin und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW). Inwieweit beeinflusst die Digitalisierung bestimmte Konsummuster der Gesellschaft?
Maike Gossen (MG): Die Digitalisierung transformiert unsere Konsum- und Lebenswelten. So verschiebt sich der Konsum von Produkten und Dienstleistungen zunehmend ins Internet. Neben Online-Shopping wird das Internet für die Informationssuche zu Produkteigenschaften und Preisen genutzt. Wir erstellen digitale Wunschlisten und lassen uns von den Empfehlungen anderer in Foren und Social-Media-Angeboten wie Instagram inspirieren oder verwenden Apps auf dem Smartphone für den Produktvergleich. Der digitale Konsum ist also durch verbesserte Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten sowie den verbesserten Zugang zu Informationen und Konsumoptionen gekennzeichnet.
DUS: Und welche Rolle spielt Suffizienz in dem Kontext?
MG: Durch die umfassenden Veränderungen unserer Konsumgewohnheiten durch die Digitalisierung ergeben sich unter anderem auch Chancen und Risiken für Suffizienz. Wir verstehen unter Suffizienz die absolute Reduktion des Verbrauchs von natürlichen Ressourcen und Energie. Das heißt, dass sich suffizienter Konsum nicht nur in der Wahl langlebiger und hochwertiger Produkte, sondern auch in einem niedrigeren Konsumniveau ausdrückt. Damit verbunden sind Fragen nach dem genügenden Maß an Gütern und Dienstleistungen für ein gutes Leben.
Die Digitalisierung erleichtert beispielsweise die geteilte
Nutzung von Produkten, also Sharing, und bietet damit die Möglichkeit, auf
Neukauf zu verzichten. Zudem ermöglicht die Analyse von Daten (big data) die
Entwicklung von Produkten entlang von kundenindividuellen Präferenzen, was die
Nutzungsdauer einzelner Produkte verlängern kann. Ein individualisierbares
Produktangebot kann aber auch zusätzlichen Konsum generieren.
Im Bereich der Werbung kann Content Marketing genutzt werden, um über die positiven Umweltwirkungen von Konsumvermeidung aufzuklären und Anregungen zur nicht-materiellen Bedürfnisbefriedigung zu verbreiten. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass durch personalisierte Online-Werbung neue Bedürfnisse generiert werden und das individuelle Konsumniveau steigt. Eine abschließende Bewertung, ob die Digitalisierung nachhaltigen bzw. suffizienten Konsum voranbringt oder eher zur Konsumsteigerung führt, kann also nicht vorgenommen werden. Dafür sind die Veränderungen durch die Digitalisierung zu schnelllebig. Wir versuchen aber mit unserer Forschung, den Diskurs zur Digitalisierung kritisch-konstruktiv zu begleiten, indem wir die Auswirkungen der Entwicklungen auf Konsumstile, Wirtschaft und sozialen Wandel untersuchen
DUS: Für Ihre Doktorarbeit forschen Sie zu dem Thema Suffizienzmarketing. Marketing wird aber üblicherweise zum Zweck der Verkaufssteigerung und Profitmaximierung eingesetzt. Wie passt das zu dem Thema Suffizienz?
MG: Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich paradox: In unserer auf Wachstum ausgerichteten Ökonomie nehmen sich Unternehmen vor, durch ihr Marketing Suffizienz zu fördern. Bisher sind es noch wenige, aber es gibt sie, wie die Beispiele Patagonia, Vaude oder Avocadostore belegen. Da Unternehmen mit ihrem Produktangebot im Wesentlichen bestimmen, was wir konsumieren, können sie auch großen Einfluss auf die Verbreitung von suffizientem Konsum nehmen. Im Rahmen ihres Marketings und insbesondere ihrer produkt- und kommunikationspolitischen Aktivitäten können sie Verhaltensänderungen bewirken und Verbraucher*innen dabei unterstützen, ihr Wohlbefinden zu steigern, ohne dabei Geld, Material und Energie für Produkte zu verschwenden, die die Lebensqualität auf lange Sicht nicht verbessern. Um ein Beispiel zu nennen: Der Online-Marktplatz für nachhaltigen Konsum Avocadostore hat sich zum Ziel gesetzt, das Bewusstsein und die Akzeptanz von suffizienten Konsumstilen zu unterstützen und stellt bei seinen Social Media-Aktivitäten bewusst Alternativen zum Neukauf in den Mittelpunkt oder regt zur Reflexion über Konsumbedürfnisse an.
DUS: Wie gehen Sie selber damit um? Haben Sie Tipps für einen suffizienten Konsum?
MG: Ich finde den Ansatz, langlebige, zeitlose und qualitativ hochwertige Produkte zu kaufen, von denen ich lange habe, sehr einfach umzusetzen. Auch das Tauschen bzw. Weitergeben von gebrauchten Dingen wie etwa Kinderkleidung ist ein kleiner Schritt. Indem ich mich täglich im Rahmen meiner Forschung mit den konkreten Praktiken aber auch den Herausforderungen eines suffizienten Lebensstils beschäftige, überlege ich mittlerweile zweimal, ob ich dieses oder jenes Ding wirklich brauche. Ich konsumiere im Alltag also sehr viel reflektierter und versuche so oft es geht Alternativen zum Neukauf zu finden.
über die Interviewpartnerin
Maike Gossen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und Doktorandin an der TU Berlin in der BMBF-geförderten Forschungsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind nachhaltiger Konsum, Suffizienz und Nachhaltigkeitsmarketing.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Welche Notwendigkeit sehen Sie in Suffizienz?
Dirk Heyen (DH): So sehr uns viele technische Innovationen weiterhelfen – sie reichen nicht aus, um unsere Nachhaltigkeitsziele zu erreichen: also etwa klimaneutral zu leben oder auch unseren Ressourcenhunger und unsere Abfallmengen massiv zu reduzieren. Zwar werden viele Geräte, wie zum Beispiel Kühlschränke und Fernseher, oder auch die Motoren unserer Fahrzeuge immer effizienter. Zugleich werden sie aber häufig auch größer, schwerer, leistungsstärker – und wir nutzen sie häufiger oder haben plötzlich mehrere davon. Diese sogenannten „Rebound-Effekte“ fressen die Einsparungen teilweise auf.
Und auch klimafreundliche Technologien wie Windkraft, Solarenergie und Elektromobilität sind nicht ohne Ressourcenverbrauch zu haben. Auch nachwachsende Rohstoffe sind nicht unbegrenzt verfügbar. Je weniger wir davon brauchen, um alte, schädlichere Technologien zu ersetzen, desto besser.
Angesichts dieser Grenzen technischer Lösungen brauchen wir zusätzlich Suffizienz. Darunter verstehen wir
veränderte, ökologisch vorteilhafte Konsumweisen – und zwar insbesondere die
Reduktion von Besitz oder Nutzung ressourcenintensiver Güter, aber auch deren
gemeinsame Nutzung, ihre verlängerte Nutzung bis zu einem Neukauf, und die Wahl
kleinerer und sparsamerer Produkte.
Suffizienz hilft, unseren Umweltverbrauch zu reduzieren und somit ökologische Belastungsgrenzen einzuhalten. Mit ihr können wir die Einsparpotenziale von Effizienz besser ausschöpfen und den Ressourcenbedarf für umweltfreundlichere Technologien zusätzlich reduzieren. Im Vergleich zu manch technischer Vision kann Suffizienz zudem einfacher, schneller, günstiger und risikoärmer sein.
DUS: In welchen Bereichen ist Suffizienz besonders wichtig?
DH: Unter Klimagesichtspunkten sind vor allem weniger Flugreisen, weniger Autofahren, weniger Heizen und weniger tierische Produkte die sogenannten „big points“. Sowohl unter Klima- als auch Ressourcenaspekten sollten wir außerdem IT-Produkte wie Handys, Laptops und Tablets möglichst lange nutzen, denn die Umweltbelastung entsteht hier vor allem in der Herstellung. Für Kleidung gilt dasselbe. Und mit Blick auf unseren Müll sollten wir uns weitgehend von Einwegverpackungen verabschieden. 20.000 Coffee-to-go-Becher pro Stunde allein in Berlin: Das ist doch völliger Wahnsinn!
DUS: Sehen Sie bereits einen positiven Trend hin zu suffizienteren Lebensformen?
DH: Man kann einzelne Trends sehen: etwa eine leichte Reduktion des Fleischkonsums, vor allem beim Schweinefleisch, oder eine Zunahme des Radverkehrs in Städten. Das sind allerdings eher „zarte Pflänzchen“, die zudem oft abhängig von sozialen Milieus sind. Natürlich sind diese Trends hilfreich und man sollte versuchen, sie zu verstärken. Gleichzeitig gibt es aber auch viele gegenläufige Trends zum Beispiel die steigende Zahl der SUV genannten Stadtpanzer, oder bei der Ausstattung mit immer neuer Kommunikations- und Unterhaltungstechnik. Trotz der begonnenen „Flugscham“-Debatte steigen auch die Fluggastzahlen bislang weiter. Und schließlich gibt es häufig widersprüchliches Verhalten: Berühmt ist ja das Beispiel des vor dem Biomarkt parkenden SUV-Fahrers.
DUS: Denken Sie, dass die Gesellschaft aus Eigenantrieb suffizienter konsumieren und leben sollte?
DH: Ich glaube, wir überfordern die Menschen massiv, wenn wir alle Verantwortung für einen nachhaltigen Konsum bei ihnen als Konsument*innen abladen. Und zwar aus mehreren Gründen: Erstens werden sie natürlich durch bestehende Angebote und Infrastrukturen beeinflusst und oft auch beschränkt – zum Beispiel durch fleischlastige Essensoptionen in der Kantine, das vorhandene ÖPNV-Angebot oder die fragwürdige Aufteilung öffentlichen Straßenraums für verschiedene Verkehrsträger.
Zweitens kann kein Konsument alle Folgen seines Konsums
mit Vor- und Nachteilen diverser Optionen überschauen: vom Anfang der
Lieferkette bis zur Entsorgung. Die nachhaltigste Konsumption ist auch nicht
immer eindeutig. Im Ernährungsbereich gilt neben der Fleischreduktion ja: am
besten Bio + saisonal + regional. Wenn ich im Supermarkt aber nur die Wahl
zwischen einem Bioprodukt aus dem Ausland und einem regionalen
Nicht-Bio-Produkt habe: was ist nachhaltiger? Schwierig zu beantworten und womöglich
abhängig davon, ob die Auslandsware per Flugzeug oder Schiff zu uns kam…
Und drittens: Selbst wenn Menschen ein hohes Problemwissen und Umweltbewusstsein haben, handeln sie nicht unbedingt entsprechend. Zwar nicht zwangsläufig, aber möglicherweise sind mit der nachhaltigen Konsumoption individuelle Nachteile verbunden: höhere Preise, weniger Komfort, weniger Status und/oder ein Verzicht auf Selbstverwirklichung – zumindest in der Wahrnehmung. Zudem können uns Routinen sowie Normalitätsvorstellungen und das Verhalten unserer „peer group“ von einer Umstellung auf nachhaltigere Lebensweisen abhalten. Und schließlich ist der Mensch ein Meister in moralischen Rechtfertigungsstrategien, warum er nichts zu ändern braucht: Wir kennen das von Rauchern: „Helmut Schmidt ist auch über 90 geworden“. Im Umweltbereich sind klassische Argumentationsmuster: „Auf mich Einzelnen kommt es nicht an“, „Die Unternehmen sind schuld“, „Die Amerikaner sind noch schlimmer“ oder auch „Ich esse vegan, da darf ich jedes Jahr eine Fernreise machen“. Die letzte Strategie, ein „psychologischer Rebound-Effekt“, sehen wir gerade auch in grünen Milieus.
Aus all diesen Gründen sollte nachhaltiger, suffizienter Konsum nicht als rein individuelle Angelegenheit betrachtet werden, sondern als politische. Es braucht rechtliche Rahmenbedingungen, die durch Standards, Verbrauchsgrenzen, Preisanreize und Infrastrukturen nachhaltige Produkte und Konsumweisen zur nahe liegenden Option machen und besonders Nicht-Nachhaltiges aus der Welt schaffen.
Damit die Politik in die Richtung aktiv wird, brauchen wir allerdings wiederum den Druck aus der Zivilgesellschaft, wie jetzt durch „Fridays for Future“. Und natürlich ist es super, wenn möglichst viele Menschen vorangehen und auch ohne günstige Rahmenbedingungen schon nachhaltige Konsumweisen an den Tag legen.
DUS: Was entgegnen Sie Kritikern einer solchen Suffizienzpolitik?
DH: Der Staat reguliert ja alle möglichen Lebensbereiche zum Schutz von Menschen und ihrer Umwelt. Welche staatlichen Eingriffe als legitim und sinnvoll angesehen werden, verändert sich übrigens im Laufe der Zeit. Als die Gurtpflicht in Pkw oder das Rauchverbot in Gaststätten eingeführt wurden, gab es zunächst auch einen riesigen Aufschrei. Heute stößt beides auf breite Akzeptanz.
Interessanterweise gab es in den letzten Monaten mehrere Kolumnen in Zeitungen und Magazinen, in denen für den Klimaschutz „mehr Verbote“ gefordert wurden. Eine wachsende Zahl an Leuten sieht in staatlicher Regulierung tatsächlich auch etwas Befreiendes – nämlich von der schon erwähnten Überforderung der Konsument*innen durch einen „information overkill“ und moralische Appelle.
Und der bisherige Fokus auf Information, Effizienzförderung und neue Technologien allein schafft es offensichtlich nicht, die selbst gesteckten Ziele der Politik wie das Klimaziel 2020 oder die Reduktion des Flächenverbrauchs zu erreichen.
Aber natürlich sollten Einschränkungen im Verhältnis zum Nutzen stehen. Daher macht es Sinn, sich regulatorisch auf die vorhin genannten „big points“ zu fokussieren.
DUS: Halten Sie auch noch andere Vorträge zum Thema Suffizienz?
DH: Im September halte ich einen Vortrag zu dem Thema im Rahmen einer Ausstellung in der Berliner Galerie für nachhaltige Kunst. Gerne stehe ich auch für andere Vortragsanfragen zur Verfügung – solange sie keine Flugreise erfordern. Ansonsten überlege ich derzeit, ob ich das Thema mal bei einem „Science Slam“ unterbringe, wo man sein wissenschaftliches Thema in fünf Minuten allgemeinverständlich und möglichst unterhaltsam vorstellen muss. Ich glaube, mit Beispielen zu den widersprüchlichen Entwicklungen in Sachen Rebound-Effekte und Konsumverhalten kann man einige Aha-Effekte erzeugen, die einerseits erheitern und andererseits zum Nachdenken anregen können.
ÜBER DEN INTERVIEWPARTNER
Dirk Arne Heyen arbeitet seit 2011 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Öko-Institut in Berlin. Er hat ein Diplom in Politikwissenschaft von der Universität Potsdam und einen Master in „Environmental Regulation“ von der London School of Economics. In seiner Forschung beschäftigt er sich insbesondere mit der Rolle von Politik für gesellschaftlichen Wandel, nachhaltigen Konsum und „Exnovation“ (Ausstieg aus nicht-nachhaltigen Strukturen) sowie jeweils ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz.
Seit 2015 gibt es die Degrowth-Sommerschule, die im August 2019 auf dem Klimacamp Leipziger Land in die fünfte Runde geht. Die Kurse der Sommerschule beinhalten Ideen und Visionen „für eine soziale, ökologische und demokratische Gesellschaft“. Andrea Vetter vom gemeinnützigen Veranstalter „Konzeptwerk Neue Ökonomie“ hat mit uns über die Sommerschule und Postwachstum im Allgemeinen geredet.
Deutsche Umweltstiftung (DUS): Können Sie bitte kurz etwas über das Konzeptwerk Neue Ökonomie erzählen?
Andrea Vetter (AV): Das Konzeptwerk Neue Ökonomie ist seit 2011 ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein. Wir sind der Überzeugung, dass die Wirtschaft dafür da ist, ein gutes Leben für alle zu ermöglichen. Die derzeitige Art zu Wirtschaften verfehlt diese Ziele weit: Sie ist undemokratisch und instabil. Sie erzeugt Reichtum für Wenige, aber Ausgrenzung und Armut für Viele. Durch die Umweltzerstörung werden diese Ungerechtigkeiten noch weiter verschärft und unsere Lebensgrundlagen vernichtet. Doch bislang ist die Wirtschaftspolitik vom Wachstumsgedanken dominiert, von Konkurrenz statt Kooperation. Das liegt vor allem an Machtungleichheiten, die zu ungleichen Gestaltungsmöglichkeiten führen. So können diejenigen, die vom Wirtschaftssystem maßgeblich profitieren, ihre Interessen gegen die Bedürfnisse der Mehrheit durchsetzen.
Um dem zu begegnen, ist eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft dringend notwendig. Dafür gibt es keinen Masterplan: Wir verstehen uns als Teil einer Bewegung, welche viele Wege sucht und zusammenführt. Denn die nötigen Veränderungen sind vielschichtig und bedeuten eine weitgreifende Umstellung unserer Lebensweise.
DUS: Warum wurde die Degrowth Sommerschule gegründet?
AV: Das Konzeptwerk Neue Ökonomie hat zusammen mit einem großen Orga-Kreis die vierte Internationale Degrowth-Konferenz in Leipzig mit über 3000 Teilnehmer*innen organisiert. Danach haben wir darüber nachgedacht, wie wir das Thema Postwachstum weiter vermitteln können, und wie die theoretische Diskussion zu Degrowth stärker mit aktuellen politischen Kämpfen zusammengedacht werden kann. Unter dem Stichwort „Degrowth: konkret“ hatten wir die Idee, Verbindungen zur Klimagerechtigkeitsbewegung zu suchen. So entstand die erste Degrowth Sommerschule, wieder von einem mehrheitlich ehrenamtlichen Vorbereitungskreis getragen, auf dem Klimacamp im Rheinland.
DUS: Was lernen Teilnehmer*innen bei Ihnen?
AV: Sie lernen in mehrtägigen Kursen einen oder mehrere Themenaspekte von Postwachstum intensiver kennen. Die Kurse werden von Expert*innen aus Bewegung, Praxis und Wissenschaft gegeben und legen großen Wert auf partizipative Gestaltung und die Anregung zu eigenständigen Auseinandersetzungen und Weiterdenken in der Workshopgruppe. Die Themen reichen von Stadtplanung über Sorgearbeit und Landwirtschaft bis hin zu Mobilität; einige sind stärker auf strategische politische Fragen orientiert, andere näher an der direkten Lebenspraxis von Menschen und etliche vermitteln auch neueste wissenschaftliche Forschung an ein breites Publikum.
DUS: Die Sommerschule fand letztes Jahr in der Nähe eines Braunkohletagebaus statt? Könnte man die Schule auch als politische Aktion ansehen?
AV: Die Sommerschule selbst ist ganz klar eine politische Bildungsveranstaltung. Sie findet aber bewusst immer auf einem Klimacamp statt. Denn das ganze Camp ist ein Ort, an dem Wissensvermittlung, lebensfreundliche und selbstorganisierte alltägliche Praxen und politische Aktion sich verzahnen. Die Sommerschule macht Mut, auch im Alltag eine postwachstumsorientierte Lebensweise zu pflegen und sich politisch zu engagieren.
DUS: Organisieren Sie auch anderweitige Veranstaltungen zum Thema Postwachstum?
AV: Ja, sehr viele. Von Einzelvorträgen über mehrtägige Workshops bis hin zu Multiplikator*innen-Fortbildungen arbeiten wir deutschlandweit intensiv zum Thema Postwachstum und sozial-ökologische Transformation. Wir publizieren auch zum Thema. So haben wir ein zweibändiges Methoden-Heft zu Wachstumskritik und Postwachstum herausgegeben: „Endlich Wachstum!“. Darin finden Lehrer*innen und Workshop-Leiter*innen Bildungsbausteine, wie sie selbst Veranstaltungen zum Thema durchführen können. Das von uns geschriebene Buch „Degrowth/Postwachstum zur Einführung“ bietet einen umfassenden Überblick über den Stand der Postwachstumsdiskussion.
Über die Interviewpartnerin
Andrea Vetter ist Journalistin und Kulturanthropologin. Sie schreibt, forscht, begeistert, organisiert und backt Käsekuchen für einen sozial-ökologischen Wandel, vor allem für das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig, das Haus des Wandels in Ostbrandenburg und die Zeitschrift Oya: enkeltauglich leben. Sie interessiert sich dabei besonders für konviviale Technik, alte und neue öko-feministische Ideen, Degrowth und gelingende Muster des Commoning.
Seit vielen Jahren zermartern wir uns das Hirn, wie wir Menschen dafür begeistern können, nix zu kaufen und stattdessen ihr Leben zu genießen. Und wir haben eine Idee, die schon hunderten Menschen geholfen hat, alte Gewohnheiten abzulegen und neue bessere befreiende Angewohnheiten anzunehmen.
Es war Ende März, nicht gerade warm, als wir mit hängenden Schultern, einem dicken Kloß im Hals und schwerem Herzen in Hamburgs Shopping-Meile Mönckebergstraße auf einer Bank saßen. Um uns herum Tausende von Menschen mit dicken Einkaufstaschen. Und wir dazwischen. Traurig und fuchsteufelswild. Wir hatten gerade ein Experiment gemacht: Wir waren durch die Kaufhäuser und Schuhläden gezogen und hatten uns Dinge ausgesucht, die uns gefielen – und mal nachgefragt, wie diese hergestellt worden sind. Hatten die Arbeiter*innen einen fairen Lohn bekommen? Enthielten sie genmanipulierte Baumwolle? Wie waren die Tiere gehalten worden, deren Wolle zu Pullovern und Haut zu Schuhen verarbeitet wurden?
Erst fragen, dann (nix) kaufen
Bei all unseren Fragen nach der Herkunft der Produkte kam nur eine gruselige Erkenntnis heraus: Kein einziger Verkäufer und keine einzige Verkäuferin konnte uns dazu eine Auskunft geben. Im besten Fall wurden wir auf die Website verwiesen. Wo wir auch nichts herausfanden, wie wir später feststellten mussten. Noch schlimmer. Sie waren überrascht. Anscheinend kam also niemand von all diesen Menschen jemals auf die Idee, danach zu fragen. Und so saßen wir da in all dem geschäftigen Trubel und waren wirklich geschockt. Aber das Schlimmste: Wir waren ja nicht anders gewesen – bis zu diesem Tag.
Dieses Erlebnis veränderte in unserem Leben ziemlich viel: Erstens brachte es uns die Erkenntnis, dass wir nicht weiterhin einfach ohne zu Fragen das tun konnten, was scheinbar „alle anderen“ taten. Zweitens erkannten wir, dass Experimente eine super Möglichkeit sind, um mehr über sich, über andere und über die Welt herauszufinden. Ja, noch besser: Sie sind eine super Möglichkeit, um spielerisch das eigene Leben Schritt für Schritt nachhaltiger und fairer zu gestalten.
Veränderungen sind schwierig
Wir Menschen mögen keine Veränderungen. Das hat ganz einfache physische Ursachen. Das zumindest erklärte uns der Hirnforscher Gerald Hüther in einem Gespräch. Denn unser Gehirn verbraucht schon im Normalbetrieb sehr viel Energie. Wenn wir etwas neu denken oder gar machen wollen, dann bedeutet das also einen unheimlichen Energieaufwand. Und den versucht unser Körper aus überlebenstaktischen Gründen möglichst zu vermeiden.
Deshalb müssen wir Menschen uns schon was einfallen lassen, wenn wir etwas anders machen wollen. Vor allem, wenn es was ist, das anders ist als das, was die meisten Menschen um uns herum tun. Denn das erfordert noch mehr Aufwand, dadurch dass wir zuerst herausfinden müssen, wie es geht – und wir vielleicht auch noch gezwungen sind, uns zu rechtfertigen oder sogar mit Ausgrenzungen zurecht zu kommen.
Experimente machen Spaß
Wenn es uns also schon rein physisch schwer fällt, unser Leben zu verändern, dann müssen wir die Sache irgendwie spielerisch leicht und mit Freude angehen. Bei diesem Gedankengang angekommen, kam uns die Idee mit den Experimenten. Sie haben aus unserer Sicht einige ganz bedeutende, ja entscheidende Vorteile, die dir Veränderungen erleichtern:
Bei einem Experiment hast du ein konkretes Ziel – du siehst also auch klar deinen Erfolg und deinen Fortschritt. Dadurch dass du möglicherweise einen Endpunkt oder zumindest Etappenziele hast, hast du immer mal wieder Zeitpunkte, an denen du innehalten und über deine Erfahrungen nachdenken kannst. Das motiviert.
Ein Experiment kann zeitlich begrenzt sein. Du kannst dir erst mal einen bestimmten Zeitraum vornehmen. Beispielsweise einen Monat lang mit wenigen Kleidungsstücken auskommen und dann zu sehen, was du wirklich brauchst.
Ein Experiment kann zur richtigen Zeit stattfinden und mit den bestmöglichen Rahmenbedingungen. Wenn du dir also vornimmst, nur noch mit dem Rad zur Arbeit zu fahren, dann beginnst du damit am besten im Sommer. Wenn du mal einen Monat lang ausprobieren willst, wie es ist, dich vegan zu ernähren, dann mach das am Besten nicht vor Feiertagen oder Familienfesten.
Und die Sache mit den Experimenten funktioniert tatsächlich: Wir haben das nicht nur am eigenen Leib erlebt. Wir haben auch die Online-Akademie „Und jetzt retten WIR die Welt“ gegründet. Hier findest du zu den unterschiedlichsten Themen sogenannte „Aktionen“ (Experimente). Die meisten haben damit zu tun, weniger zu konsumieren!
Aber #kaufnix reicht nicht
Wer jemals so ein Experiment gemacht hat, wie wir in der Mönckebergstraße bei uns in Hamburg, der weiß: Nix kaufen reicht nicht, so wichtig und wertvoll Konsumkritik auch ist. Wenn es alleine vom mühevollen Veränderungswillen der Menschen abhängt, dann wird es schwierig. Es ist für viele einfach zu schwierig, kompliziert, teuer und zeitaufwendig für jedes Produkte eine unbedenkliche Variante zu finden. In manchen Fällen gibt es diese sogar nicht.
Deshalb müssen unsere Experimente auch über den Konsum hinausgehen. Wir brauchen Menschen, die sich zu Solidarischen Gemeinschaften zusammenschließen. Wir brauchen Menschen, die auf die Straße gehen, um sich für die Rechte von Menschen, Tieren und Natur einzusetzen. Und wir brauchen Menschen, die Bürgerinitiativen, öko-soziale Unternehmen und andere Organisationen gründen, die Alternativen fordern und schaffen. Um diese Menschen dabei zu unterstützen, haben wir die Plattform faironomics gegründet. Dort bauen wir in den kommenden Wochen und Monaten ein Informationsarchiv auf, in dem du Methoden, Konzepte und Ideen für eine öko-faire Ökonomie (Faironomics) findest.
Denn wir sind überzeugt: Noch nie standen die Chancen für uns hier in Deutschland so gut wie heute, eine faire und umweltfreundliche Gesellschaft gemeinsam zu schaffen. Das geht nicht von heute auf morgen. Und wir brauchen dazu viele Menschen, die viele kleine oder auch größere Schritte gehen. Das Ganze ist ein Experiment. Ein fraktales Experiment, um genau zu sein. Denn in dem Großen stecken viele kleine Experimente — für jede*n Einzelne*n von uns. Sie warten nur auf deinen Mut und deine Experimentierfreude.
Über die Autoren
Ilona Koglin und Marek Rohde erforschen als freie Buchautor*innen, Journalist*innen und Medienaktivist*innen seit vielen Jahren, wie es sich anders besser wirtschaften lässt. Dazu befragen sie auch viele Querdenker*innen und Vorreiter*innen – seit 2007 zum Beispiel in ihrem Blog oder der „Konferenz für eine bessere Welt“ (2014, 2018, 2020). Daneben sind Ilona Koglin und Marek Rohde gefragte Projektberater*in und -begleiter*in für öko-soziale Gründungen, Unternehmen, Organisationen und Gemeinschaften. In ihren Büchern verweben sie ihre eigenen Lernerfahrungen mit den Erkenntnissen aus ihren Projektbegleitungen und mehreren Hundert Interviews mit internationalen Change-Makern.
Weiterführende Literatur
Koglin, Ilona/Rohde, Marek: Und jetzt verbessern wir die Welt. Wie du die Veränderung wirst, die du dir wünschst. Stuttgart: Franckh-Kosmos, 2016.
Koglin, Ilona/Rohde, Marek: Faironomics. Ökologisch, fair und frei Wie du in 8 Schritten dein Traumprojekt verwirklichst und damit die Welt veränderst. München: dtv Verlagsgesellschaft, 2019.