Über den Bücherrand hinaus: Die Bibliothek der Dinge

Jeder kennt es: ob Lexikon für das bevorstehende Schülerreferat, Lehrbuch im Studium oder der heißersehnte Roman der Lieblingsautorin – Literatur braucht es in vielen Lebenslagen. Dabei wird nicht selten bestellt oder brandneu gekauft, und nach kurzem Nutzen verstaubt das teure Exemplar im eigenen Bücherregal. Eine Lösung gegen diesen hohen Kosten- und Ressourcenverbrauch sind Bibliotheken. Wir alle kennen ihr Konzept, bei dem – ganz im Sinne der Nachhaltigkeit – ein einziges Exemplar gleich mehreren Leuten zugutekommen kann.

Doch das Leihkonzept von Bibliotheken geht mittlerweile weit über Bücher hinaus. Neuerdings werden neben Büchern weitere nützliche Dinge verliehen oder getauscht: Nähmaschine, Instrumente, Sportutensilien, Saatgut und vieles mehr. Alltagsgegenstände, die sich nicht jeder leisten kann, oder die von einer einzelnen Person nur selten wirklich genutzt werden 1.

Die sogenannten „Bibliotheken der Dinge“ bieten ein Sammelsurium an wertvollen Gegenständen, die untereinander geteilt und verliehen werden können. So kommen diese nur dann zum Einsatz, wenn sie wirklich gebraucht werden. Im Sinne von Suffizienz haben viele Bibliotheken solche Sammlungen integriert und unterstützen damit das Prinzip der „Sharing Economy“. Gleichzeitig leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der 17 Nachhaltigkeitsziele „Agenda 2030“ der Vereinten Nationen 2. So verwirklichen Stadtbüchereien, Hochschul-Bibliotheken und andere Büchereizentralen beispielsweise das Ziel zu hochwertiger Bildung, zu Informations- und Kommunikationstechnologie sowie zu Nachhaltigem Konsum und Produktion. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben, sind hier zwei Beispiele an Bibliotheken der Dinge kurz zusammengefasst:

Nachhaltiger Konsum – Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr

„Ein buntes Allerlei“ – so bewirbt die Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr ihr breites Angebot an Projekten, Initiativen und Leihgütern. Dabei können nicht nur Saatgut und Regenschirme geteilt werden, sondern es gibt auch Möglichkeiten Carsharing zu nutzen und im Repair-Café kostenfrei alte Haushaltsgegenstände wiederzuverwerten 3.

„Ein buntes Allerlei“ in der Stadtbibliothek Mülheim an der Ruhr

Green Campus Book Corner – Universitätsbibliothek Salzburg

Der „PLUS Green Campus Book Corner“ wurde als Dienstleistungseinrichtung gemeinsam mit der Universitätsbibliothek Salzburg errichtet. Seit 2017 stehen hier eine Bandbreite an Büchern und Medien mit Fokus auf Umweltthemen zur Verfügung. Sie sollen informieren und Bibliotheksnutzer*innen einen fachlichen Überblick über unsere Umweltlage liefern 4.

Auch in deiner Nähe steht vielleicht eine Bibliothek der Dinge. Eine Übersicht und weitere Beispielprojekte sind auf der folgenden Seite zusammengefasst: https://www.biblio2030.de/ 5.

Quellen:

[1] https://www.ideenw3rk.de/bibliothek-der-dinge/

[2]https://www.medienzentrum-biberach.de/-/bibliothek-der-dinge

[3] https://www.biblio2030.de/stadtbibliothek-muelheim-an-der-ruhr/

[4] https://www.biblio2030.de/green-campus-book-corner-universitaetsbibliothek-salzburg/

[5] https://www.biblio2030.de/beispielsammlung/

Wenn dir ein Geschäft „Kauf weniger“ sagt. – Interview mit Maike Gossen

Im Rahmen eines Interviews sprachen wir mit Maike Gossen vom Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) über die kürzlich veröffentlichte Studie “When your shop says #lessismore. Online Communication interventions for clothing sufficiency“. Digitalisierung verändert unsere Lebensweise und unser Konsumverhalten. Wie man Online-Kommunikation als Tool für Suffizienzmarketing nutzen kann und welche Erkenntnisse aus der Studie hervorgegangen sind, erläutert Maike Gossen im folgenden Interview.

Deutsche Umweltstiftung (DUS): Sie haben die Studie “When your shop says #lessismore. Online Communication interventions for clothing sufficiency“1 im “Journal of Environmental Psychology“ veröffentlicht. Können Sie kurz zusammenfassen, worum es in der experimentellen Studie geht?

Maike Gossen (MG): Die Studie entstand in unserer Forschungsgruppe zu Digitalisierung und sozial-ökologischer Transformation 2. Wir wollten herausfinden, inwiefern Online-Kommunikation von Unternehmen aus dem Kleidungsbereich, beispielsweise in Social Media, nachhaltige Lebensstile fördern können. Zu diesem Zweck haben wir Online-Kommunikation als Teil von Suffizienzmarketing 3 in zwei experimentellen Studien untersucht.

DUS: Wie sind diese Studien abgelaufen und was sind die zentralen Ergebnisse?

MG: Im ersten Schritt haben wir gemeinsam mit unserem Projektpartner Avocadostore eine Feldstudie konzipiert. Im Rahmen einer Themenwoche auf Social Media und im Newsletter hat der Online-Marktplatz unter dem Motto “lessismore” auf Alternativen zum Neukauf hingewiesen. Wir haben vor und nach der Themenwoche die Kund*innen von Avocadostore zu ihrem Kaufverhalten und ihren Einstellungen befragt. Das zentrale Ergebnis der Feldstudie ist, dass Suffizienzbotschaften positiv bewertet werden. Jedoch kauften die Kund*innen im Monat nach der lessismore-Woche genauso viel Kleidung wie Kund*innen, die die suffizienzfördernde Kommunikation nicht gesehen hatten. Es scheint also, dass vereinzelte Social Media-Posts eines Unternehmens als Intervention zu schwach sind, um sich langfristig auf das Konsumniveau auszuwirken. In einer daran anschließenden Online-Laborstudie konnten wir hingegen zeigen, dass suffizienzfördernde Social Media-Posts kurzfristig sehr wohl suffiziente Konsumentscheidungen fördern konnten. Dieser Effekt war insbesondere bei Teilnehmenden stärker, die bereits altruistische und umweltorientierte Werte vertraten. 

DUS: Was schließen Sie aus dem Ergebnis, dass Suffizienzbotschaften über Social Media eher eine kurzfristige Wirkung zeigen. Ist Social Media grundsätzlich ungeeignet, um langfristige Verhaltensänderungen zu erzeugen? Was bedeutet das für das Suffizienzmarketing?

MG: Dass wir zwar eine kurzfristige Wirkung im Labor, aber keine langfristige Wirkung im Feld finden konnten, ist ein interessantes Ergebnis, das zu weiterer Forschung einlädt. Wir interpretieren diese Resultate so, dass Suffizienzkommunikation erst wirksam sein kann, wenn sie einen sichtbaren Anteil an der Gesamtkommunikation einnimmt. Gerade in einem ansonsten sehr konsumorientierten Umfeld wie Social Media 4 und dem Internet an sich 5 kann eine einzelne Suffizienzbotschaft oder ein einzelner Instagram-Post im allgemeinen Informationsfluss untergehen. Langfristig wäre es wünschenswert, in der digitalen Kommunikation eine Kultur der Suffizienz zu etablieren und soziale Normen weg von schnelllebigem Konsum hin zu mehr Nachhaltigkeit zu verändern.

DUS: Heute bewerben immer mehr Unternehmen ihr nachhaltiges Angebot und fördern damit grünen Konsum. Worin unterscheidet sich das so genannte Suffizienzmarketing?

MG: Beim Suffizienzmarketing geht es darum, keine neuen Konsumwünsche zu schaffen, sondern bestehende Bedürfnisse zu befriedigen. Das kann also entweder ein Produkt sein, dass sich durch langlebige Materialien, Reparierbarkeit oder Zeitlosigkeit auszeichnet, aber genauso können es auch Alternativen zum Neukauf sein. Häufig kann die Lebensdauer von Produkten verlängert werden, indem sie repariert, gut gepflegt oder verliehen werden. Auch durch Secondhand können Ressourcen eingespart werden. Im Outdoorbereich gibt es viele Vorreiterunternehmen, die Suffizienz fördern wollen und nicht nur ihr Sortiment und ihre Services darauf ausgerichtet haben, sondern auch in ihrer Kommunikation ganz offen sagen, dass es nicht immer das neueste Produkt sein muss. Patagonia ist ja für ihre Konsumkritik bekannt, beispielsweise durch Aktionen wie der “Don’t Buy This Jacket”-Kampagne. Zum letzten Black Friday hat das US-Unternehmen mit der “Buy less, demand more”-Kampagne seine Kund*innen nicht nur dazu aufgefordert, weniger zu konsumieren, sondern auch ihrerseits noch mehr von Textilherstellern und der Politik einzufordern. Indem sie politischen Aktivismus fördern wollen sie einen Beitrag dazu leisten, die Bekleidungsindustrie zu verändern. 

DUS: Aber letztendlich stellt sich doch immer die Frage, wie suffizienz-orientierte Unternehmen in einer wachstumsgetriebenen Wirtschaft überleben können. Ist diese Konfliktlinie überhaupt zu überwinden? 

MG: Eine Suffizienzorientierung ändert das Verständnis von unternehmerischer Wertschöpfung, welcher sich nicht mehr an reiner Absatzsteigerung und Wachstum orientiert, sondern am Wohlergehen von Beschäftigten, der Umwelt und der Gesellschaft gleichermaßen. Pioniere der Postwachstumsökonomie positionieren sich daher in Nischen oder skalieren ihre Wirkung durch suffizienz-orientierte Angebote. Manche Unternehmen wachsen weiter und rechtfertigen dies mit der Verdrängung nicht-nachhaltiger Unternehmen. Andere Unternehmen wie Patagonia wollen nicht größer werden, sondern ihre aktuelle Stellung nutzen, um ihren Unternehmenszweck zu erfüllen und ihre Marke an den Werten und der Mission von Patagonia auszurichten. In diesem Sinne geht Suffizienzförderung nur, wenn alle an einem Strang ziehen: in unserer Forschung zeigt sich immer wieder, dass viele Menschen aber auch Unternehmen eine hohe Bereitschaft zur Suffizienz aufweisen. Sie haben verstanden, dass es dabei nicht primär um Verzicht geht, sondern um ein gutes Leben für alle.


[1] https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0272494421000487

[2] nachhaltige-digitalisierung.de

[3] https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0276146719866238

[4] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/cb.1855

[5] https://oekologisches-wirtschaften.de/index.php/oew/article/view/1786

Über die Interviewpartnerin
© Gordon Welters

Maike Gossen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) und Doktorandin an der TU Berlin in der BMBF-geförderten Forschungsgruppe „Digitalisierung und sozial-ökologische Transformation“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind nachhaltiger Konsum, Suffizienz und Nachhaltigkeitsmarketing.

Suffizienz und aktuelle Herausforderungen in der Coronakrise – ein Interview mit Jörg Göpfert

Im Rahmen eines Interviews sprachen wir mit dem Studienleiter Jörg Göpfert der Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V. über Suffizienz und aktuelle Herausforderungen in der Coronakrise.

Sie arbeiten als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e. V. und sind in dieser Eigenschaft auch als Redakteur der Zeitschrift „Briefe. Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde“ tätig. In der aktuellen Ausgabe dieser Zeitschrift schreiben Sie: „Der Klimawandel könnte tatsächlich das Ende der Selbstverständlichkeiten bedeuten […].“ Was meinen Sie damit?

Jörg Göpfert: Die Corona-Krise hat die Verletzlichkeit des Menschen und seiner gesellschaftlichen Sub- und Sicherungssysteme deutlich gemacht. „Normale“ Verhaltensweisen wie das Händeschütteln sind zum Risiko und Feiern zur Gefahr geworden. Sogar Oster- und Weihnachtsgottesdienste fielen aus. Der Heidelberger Theologe Philipp Stoellger hat die Corona-Krise deshalb als „Riss“ bezeichnet, der einen „gravierenden Lebensweltwandel“ mit sich bringe1 . Er spricht vom „Ende von Wirklichkeiten, in denen wir selbstverständlich lebten“. Das war und ist für viele eine erschreckende Erfahrung. Es lässt sich aber davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie – ähnlich wie frühere Pandemien – vorübergehen wird. Irgendwann werden alle, die nicht an ihr sterben, immun geworden sein – mit oder ohne Impfung. Das wird vielleicht einige Jahre dauern, aber dann können die Überlebenden aufatmen und zur „Normalität“ zurückkehren.

Bei der Klimakrise ist das anders. Sollte die Menschheit es nicht schaffen, die Erwärmung der Erdatmosphäre zu stoppen und die globale Durchschnittstemperatur auf einen Wert zu begrenzen, der maximal 1,5 bis 2 Grad über dem vorindustriellen liegt, ist mit massiven Veränderungen zu rechnen. Wetterextreme würden weiter zunehmen, Wüsten würden wachsen, und viele Inseln und Küstenregionen würden vom steigenden Meeresspiegel überflutet werden. Vor allem aber würde sich der globale Wasserkreislauf – zu Lande und in der Luft – massiv verändern. Dann kämen auf die Wirtschafts- und Sozialsysteme Belastungen zu, die weit größer sein dürften, als die jetzigen durch die Corona-Krise. Und dann droht tatsächlich das Ende der „Selbstverständlichkeiten“. Dann stehen nicht nur Reisen oder Einkäufe in Baumärkten zur Disposition, sondern womöglich auch die Rundumversorgung mit Trinkwasser, Lebensmitteln und Transportmöglichkeiten. Eine Überwindung dieses Dauerstresses würde Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern, wenn sie überhaupt möglich wäre.

In dem Zusammenhang sprechen Sie auch von Suffizienz. Welchen Stellenwert hat die Thematik für die Evangelische Akademie Sachsen-Anhalt e. V.?

Einen großen. Seit Jahren bemühen wir uns, das Thema „Große Transformation“, wie es der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen nannte2 , im gesellschaftlichen Diskurs voranzubringen. Und dazu gehört ganz wesentlich die Suffizienz, also das Auskommen mit weniger. Denn mit Effizienz und Konsistenz allein wird eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise nicht möglich sein. Effizienz, also das Herstellen einer bestimmten Menge an Waren oder Dienstleistungen mit weniger Materialaufwand als zuvor, wird oft durch eine Ausweitung des Angebots überkompensiert. Die LEDs sind ein Beispiel. Sie verbrauchen zwar weniger Strom als herkömmliche Glühlampen, lassen sich aber für neue Zwecke verwenden. Plötzlich ist es möglich – und erschwinglich – die gesamte Hausfassade in eine funkelnde Weihnachtswelt zu verwandeln. Bei der Konsistenz wird versucht, umweltbelastende Materialien durch umweltverträglichere oder endliche Ressourcen durch nachwachsende zu ersetzen. Ein guter Ansatz. Aber der kompostierbare Computer dürfte schwer realisierbar sein, und falls doch, wären sehr große Anbauflächen nötig, um die benötigten Rohstoffmengen bereitzustellen. Fruchtbare Böden sind aber ein knappes Gut und geraten auch durch den Klimawandel massiv unter Druck. Folglich gibt es für die Menschheit nur zwei Strategien: entweder die Zahl der Menschen drastisch zu reduzieren oder den Verbrauch jedes Einzelnen und aller zusammen. Letzteres wird nur mit Hilfe einer sehr intelligenten Kombination von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz gelingen.

Wie schätzen Sie die gesellschaftliche Akzeptanz eines „Weniger“ ein?

Lange Zeit war Suffizienz ein Tabu. Und im politischen Raum ist es das immer noch. Denn eine Strategie des „Weniger“ ist mit einer wachstumsorientierten Wirtschaft und einer ebensolchen Politik schwer vereinbar. Erfreulich ist aber, dass das Interesse an Suffizienz sowohl in der Wissenschaft als auch in der Zivilgesellschaft zunimmt. Das zeigt zum Beispiel der Aufruf „Für eine klima- und naturverträgliche, sozial gerechte Lebens- und Wirtschaftsweise: Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch reduzieren“3. Er wurde mit den Unterschriften von 200 Personen aus der Wissenschaft und ihrem Umfeld herausgegeben. Mehr als 3000 weitere Bürgerinnen und Bürger haben ihn inzwischen unterzeichnet. Es gibt ein „Forschungsnetzwerk Suffizienz“ und viele neuere Publikationen zum Thema. Auch das aktuelle Heft unserer Zeitschrift „Briefe“ ist ihm gewidmet4. All das zeigt: Suffizienz ist im Kommen. Sie braucht aber noch mehr Unterstützung, damit sie auch in die Praxis umgesetzt werden kann. Dafür kommt es nicht nur auf den guten Willen einzelner an, sondern auch auf die richtigen politischen Rahmensetzungen, also eine Suffizienzpolitik. Und die braucht gesellschaftlichen Druck und gesellschaftliche Mehrheiten.

Welche Chancen sehen Sie, dass sich junge Menschen heute für ressourcenschonende und damit suffiziente Lebensweisen begeistern?

Die Chancen sind größer denn je, weil ein Umdenken bereits begonnen hat. Viele, vor allem jüngere Menschen reduzieren ihren Fleischkonsum. Auch das Auto ist für sie kein Muss mehr, besonders in größeren Städten. Die Bewegung „Fridays For Future“ setzt sich für Suffizienz ein. Und eine große Zahl junger Menschen wählt inzwischen Berufe im Bereich des Umwelt- und Naturschutzes sowie der Nachhaltigkeit. Die Zahl der Ausbildungsangebote ist enorm gewachsen. Als ich 1978 mit meinem Studium begann, war ich einer der ersten in Deutschland, die „Technischen Umweltschutz“ studieren konnten. Heute gibt es ganze Hochschulen, die dem Thema Nachhaltigkeit gewidmet sind, etwa die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde in Brandenburg. Es gibt ein bundesweites studentisches „netzwerk N“, das Hochschulen nachhaltiger machen will. Nicht auszudenken, was möglich wird, wenn all diese gut ausgebildeten, hoch motivierten jungen Menschen eines Tages im Berufsleben stehen und Entscheidungen treffen. Hoffentlich finden viele von ihnen auch den Weg in die Politik. Denn dort werden nach wie vor wichtige Weichen gestellt.


[1] Philipp Stoellger: „Eröffnung: Corona als Riss der Lebenswelt. Zur Orientierung über Naherwartungen, Enttäuschungsrisiken und Nebenwirkungen“; in Benjamin Held et al. (Hrsg.): „Corona als Riss: Perspektiven für Kirche, Politik und Ökonomie“, Heidelberg: heiBOOKS, 2020 (FEST kompakt – Analysen – Stellungnahmen – Perspektiven , Band 1). Kostenloser Download: https://books.ub.uni-heidelberg.de/heibooks/reader/download/701/701-3-90267-1-10-20200916.pdf

[2] https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation

[3] https://bereit-zum-wandel.de/aufruf/

[4] https://ev-akademie-wittenberg.de/sites/default/files/publikationen/briefe_2020-4.pdf

ÜBER Den INTERVIEWPARTNEr

Jörg Göpfert, geboren 1960 in Berlin, ist Absolvent des Studiengangs Dipl.-Ing. für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin. An der Deutschen Journalistenschule in München wurde er zum Redakteur ausgebildet. Seit 1988 ist er freier Umwelt- und Wissenschaftsjournalist und seit vielen Jahren Kommunikations- und Medientrainer für Wissenschaftler/-innen. Im Januar 2000 begann seine Tätigkeit an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Lutherstadt Wittenberg. Als Studienleiter im Bereich Umwelt & Soziales ist er Mitbegründer des Netzwerks „Ökumenischer Prozess ‚Umkehr zum Leben – den Wandel gestalten‘“ und einer von zwei Redakteuren der Zeitschrift „Briefe. Zur Orientierung im Konflikt Mensch – Erde“, einer der ältesten Umweltzeitschriften in Deutschland. Seine jüngste Publikation: „Es reicht. Von der Last und Leichtigkeit der Suffizienz“, in Brigitte Bertelmann, Klaus Heidel (Hrsg.): „Leben im Anthropozän. Christliche Perspektiven für eine Kultur der Nachhaltigkeit“, oekom verlag, München 2018.

© Jörg Göpfert

#BAUNIX: Suffizientes Bauen und Wohnen – ein Gastbeitrag von Patrick Zimmermann

Die kürzlich entflammte Debatte um Einfamilienhäuser samt Verbots- und Enteignungsvorwürfen ist ein Paradebeispiel für die Ignoranz gegenüber einer bisher oftmals vergessenen Nachhaltigkeitsstrategie: der Suffizienz. Wenn wir die Klima- und Nachhaltigkeitsziele ernst nehmen wollen, müssen wir unsere Konsum- und Verhaltensweisen auch in unserer gebauten Umwelt hinterfragen und endlich die Frage nach dem rechten Maß ins Spiel bringen.

Nachhaltigkeit in Architektur und Bauwesen

Der Gebäudesektor ist in Deutschland für etwa ein Viertel der Treibhausgasemissionen [1], etwa ein Fünftel des Rohstoffverbrauchs [2] und für 32 Hektar Flächeninanspruchnahme pro Tag verantwortlich [3]. Der Handlungsdruck ist also dementsprechend groß. Bisher lag der Fokus jeglicher Bemühungen in Politik, Forschung und Praxis auf besserer Wärmedämmung (Effizienz) und dem Einsatz von erneuerbaren Energien sowie nachwachsenden Rohstoffen (Konsistenz). Diese technologischen Strategien allein reichen jedoch nicht aus, was u. a. an Rebound-Effekten liegt. Bestes Beispiel hierfür ist die seit Jahrzehnten, aufgrund kleiner werdender Haushalte, mehr Eigentum und dem Remanenz-Effekt, steigende Pro-Kopf-Wohnfläche [4], wodurch Einsparungen durch Effizienz und Konsistenz maßgeblich geschmälert werden [5]. Gleichzeitig stieg die Wohnzufriedenheit nicht [6], was verdeutlicht, dass mehr Wohnungsfläche allein nicht zu mehr Lebensqualität führt.

Abbildung 1: Raumwärmebedarf in KWh pro Kopf und Jahr [4]

Suffizienz in Architektur und Bauwesen

Konträr zu den beiden technischen Nachhaltigkeitsstrategien setzt Suffizienz auf Verhaltensänderungen, „die helfen, innerhalb der ökologischen Tragfähigkeit der Erde zu bleiben, wobei sich Nutzenaspekte des Konsums ändern“ [7]. Sie zielt auf eine absolute, Reduktion der ökologischen Auswirkungen unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebensqualität. Übersetzt auf das Themenfeld Bauen und Wohnen bedeutet dies einen Planungsprozess, der die ökologischen Limits sowie die Befriedigung der persönlichen Wohnbedürfnisse in den Vordergrund stellt. Obgleich sie in der gebauten Praxis bisher kaum eine Rolle spielt, ist die Suffizienz-Debatte in einer Speerspitze der Fachöffentlichkeit bereits im Gange. Das verdeutlichen z. B. die Suffizienz-Kongresse der db bauzeitung [8] oder des BUND und der HCU [9], Veröffentlichungen, wie die Streitschrift „Verbietet das Bauen“ [10], oder die Neubau-kritischen Positionierungen des Bund Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) [11] und der Architects for Future [12], sowie diverse Forschungsprojekte [13].

Suffizienz planen

Entscheidende Stellschrauben suffizienten Bauens und Betreibens von Gebäuden werden bereits in der Planungsphase gestellt. Deshalb braucht es, um den Suffizienzbegriff dort greifbarer zu machen, handhabbare Kriterien und konkret anwendbare Maßnahmen. Einen Vorschlag hierzu liefert die „Suffizienz-Bewertungsmethodik für Wohngebäude“ [14], woraus im Folgenden die wichtigsten Aspekte kurz vorgestellt werden sollen.

Projektentwicklung und Planungsprozess

Schon vor der eigentlichen Planungsphase gilt es die Bedürfnisse der Bewohner:innen durch umfangreiche Bedarfsplanungen und möglichst partizipative Einbindungsprozesse mit einzubeziehen. Schon die Standortwahl hat durch die Verkehrsanbindung und alltäglich zurückzulegende Wege zentralen Einfluss auf ein suffizientes Mobilitätsverhalten.

Gebäudestruktur

Nicht zu bauen bzw. nicht neu zu bauen, ist immer noch die ökologischste Form, weshalb aus Suffizienz-Perspektive ganz klar die Nutzung bestehender Gebäude Priorität hat. Zugleich verändern sich Bedürfnisse, sodass (Um-)Bauten zukünftige Anpassungen ermöglichen müssen, auch um die Akzeptanz experimentellerer Wohnformen zu erhöhen.

Architektur

Wie eingangs erwähnt, ist die Pro-Kopf-Wohnfläche ein maßgeblicher Parameter. Aus Suffizienz-Perspektive sollte diese möglichst nicht 35 m2 pro Person überschreiten. Wichtigste Strategie zum Erreichen dieses Ziels sind flächeneffiziente Grundrisse und gemeinschaftliche Wohnformen, wie z. B. Co-Housing oder klassische Wohngemeinschaften.

Baukonstruktion und Gebäudetechnik

Auch auf baukonstruktiver Ebene und bei der technischen Gebäudeausrüstung (TGA) muss das Prinzip der Einfachheit umgesetzt werden. Dies kann baukonstruktiv z. B. durch monolithische Bauweisen oder einen reduzierten Ausbaustandard erfolgen. Minimalistische und robuste Technikkonzepte, die passive Maßnahmen, Selbstregelungsmechanismen und marginale Komforteinbußen gegenüber Redundanz und maßgenauen Temperaturspektren priorisieren, ermöglichen einen wartungsarmen, unkomplizierten und somit suffizienten Gebäudebetrieb.

Mobilitäts-Infrastruktur

Nicht nur der Gebäudestandort, auch dessen Angebote bei der Mobilitäts-Infrastruktur können ein suffizientes Mobilitätsverhalten der Bewohner:innen fördern. Fahrradfreundliche Mobilitätskonzepte erhöhen die Attraktivität dieses suffizienten Fortbewegungsmittels und durch geminderte Stellplatzschlüssel kann der Individualverkehr weiter reduziert werden.

Gebäudemanagement

Schlussendlich muss sichergestellt werden, dass die Suffizienz-Ansätze aus der Planung auch in der Nutzungsphase beibehalten werden. Solche Maßnahmen reichen von Leerstand-Vermeidungs-Strategien bis hin zu Shared Spaces, zum Beispiel Hobby-Werkstätten oder Bibliotheken, welche die geteilte Nutzung von Gütern als Suffizienzpraktik fördern.

Beitrag der Suffizienz zur ökologischen Nachhaltigkeit

Schlussendlich stellt sich die Frage, welchen Beitrag Gebäude-Suffizienz für die Einhaltung der Klima- und anderer Nachhaltigkeitsziele leisten kann. Eine der wenigen Studien zu dieser Frage kommt zu dem Ergebnis, dass eine reduzierte Pro-Kopf-Wohnfläche und suffizientes Nutzer:innen-Verhalten in Betrieb und bei der Mobilität die Treibhausgasemissionen um 45 % reduzieren [15]. Alleine durch das Weglassen von Tiefgaragen lassen sich enorme Einsparungen erzielen, denn je PKW-Stellplatz wird so viel CO2 emittiert, wie ein:e durchschnittliche:r Deutsche:r pro Jahr verursacht [16]. Auch die Nutzung von bestehenden Gebäuden macht sich in den meisten Fällen bezahlt. Unterschiedliche Studien beziffern die Einsparungen auf bis zu 20 % der THG-Emissionen verglichen mit Abriss und Ersatzneubau [14].

Aussichten

Für einen zielkonformen Fortschritt, hinsichtlich Klimaneutralität und Ressourcenschutz, ist in Architektur und Bauwesen endlich auch die Suffizienz in der Planungs- und Baupraxis zu berücksichtigen. Es gilt durch kritisches Hinterfragen von Konventionen u. a. flächenreduzierte, gemeinschaftliche Wohnformen zu entwickeln und damit Neubau überflüssig(er) zu machen. Neben einem Umdenken der Planer:innen bedarf es politisches Handeln, um solche Konzepte im Mainstream zu verankern. Dazu gehört es z. B. endlich die graue Energie der verbauten Materialien in den gesetzlichen Rahmenbedingungen des Gebäudeenergiegesetzes zu berücksichtigen, Umbau bzw. Sanierungen gegenüber Abriss und Neubau zu priorisieren, Umzüge in bedarfsgerechte(re) Wohnungen zu erleichtern und Leerstand effektiv zu verhindern.

Quellen

[1] Bundesregierung (2020): Klimaschutzbericht 2019 zum Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 der Bundesregierung. https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutzbericht_2019_kabinettsfassung_bf.pdf

[2] Umweltbundesamt (2018): Die Nutzung natürlicher Ressourcen. Bericht für Deutschland 2018. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/3521/publikationen/deuress18_de_bericht_web_f.pdf

[3] Destatis (2021a): Online-Plattform der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), Flächeninanspruch-nahme – Indikator 11.1.a: Anstieg der Siedlungs- und Verkehrsfläche. https://sustainabledevelopment-deutschland.github.io/11-1-a/

[4] Bierwirth, A. (2015): Strategische Entwicklung eines zukunftsfähigen Wohnraumangebots – ein Suffizienz-Szenario. uwf 23, 49–58 (2015). https://doi.org/10.1007/s00550-015-0355-6

[5] Wuppertal Institut (2016): Kommunale Suffizienzpolitik – Ressourcenschutz vor Ort stärken. https://wupperinst.org/a/wi/a/s/ad/3448

[6] DIW SOEP (2015): SOEP 2013 – SOEPmonitor Household 1984-2013 (SOEP v30), S. 33.

[7] Fischer, C., & Grießhammer, R. (2013): Mehr als nur weniger. Suffizienz: Begriff, Begründung und Potentiale. Öko-Institut Working Paper 2/2013, S. 10.

[8] https://www.db-bauzeitung.de/suffizienz/

[9] Seegelke, K. (2019): Suffizientes Wohnen statt Flachenverbrauch – Wege zu einem nachhaltigen Wohnflachenmanagement [Tagungsband]. BUND, HafenCity Universität Hamburg. https://www.bund-hamburg.de/fileadmin/hamburg/Themen/Flaechenschutz/Fachtagung_Flaechenschutz_2019/2019-03-29_Tagungsbericht_Suffizientes_Wohnen.pdf

[10] Fuhrhop, D. (2020): Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß.

[11] BDA (2019): Das Haus der Erde – politisch handeln. Politische Aufforderungen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land. BDA. https://www.bda-bund.de/2019/08/das-haus-der-erde_bda-position/

[12] Architects for Future Deutschland e.V. (2020). Umfrage der Architects for Future an planende Kolleg*innen zu den Hindernissen beim Bauen im Bestand [Bericht über die Ergebnisse]. https://www.architects4future.de/news/a4f-umfrage-bauen-im-bestand

[13] https://www.ifeu.de/projekt/suprastadt/; https://www.wohnen-optimieren.de

[14] Zimmermann, P. (2018): Bewertbarkeit und ökobilanzieller Einfluss von Suffizienz im Gebäudebereich. Masterarbeit, Technische Universität München.

[15] Pfäffli, K., Nipkow, J., Schneider, S., & Hänger, M. (2012). Grundlagen zu einem Suffizienzpfad Energie Das Beispiel Wohnen. Stadt Zürich Amt für Hochbauten Fachstelle nachhaltiges Bauen.

[16] Lang, W., & Schneider, P. (2017): Gemeinschaftlich nachhaltig bauen – Forschungsbericht der ökologischen Untersuchung des genossenschaftlichen Wohnungsbauprojektes wagnisART.

Über den Autor

Patrick Zimmermann studierte “Gebäudeklimatik“ (B. Eng.) und “Energieeffizientes & Nachhaltiges Bauen” (M. Sc.) an der OTH Regensburg bzw. der TU München. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium arbeitete er als Referent für Klimaschutz & Energiepolitik beim WWF Deutschland. Seit September 2020 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BTU Cottbus-Senftenberg am Fachgebiet „Entwerfen und Energieeffizientes Bauen“. Dort setzt er sich dafür ein, dass Nachhaltigkeit noch viel stärker in die Architektur-Lehre und Planungspraxis einfließt und promoviert zu Suffizienz-Praktiken, -Potentialen und -Barrieren im Gebäudebereich.

Buchrezension: “Kauf mich! Auf der Suche nach dem guten Konsum” von Nunu Kaller

In ihrem neuen Sachbuch “Kauf mich! Auf der Suche nach dem guten Konsum” – erschienen am 08. März 2021 im Kremayr & Scheriau Verlag – untersucht Bestsellerautorin Nunu Kaller verschiedene Facetten des Konsumierens und wie dies gesteuert werden kann. Wie beeinflusst die Industrie den menschlichen Kaufantreib und inwiefern entscheiden Kund*innen eigentlich noch selbst über ihn? Warum, was und wie kauft der Mensch? Die Autorin widmet sich u. a. dem Dopamin-High, das den Menschen bei der Schnäppchenjagd überfällt, entlarvt die verschiedenen Tricks von Supermärkten, wie sie Konsument*innen zum Kauf überreden und zerlegt die Greenwashing-Versuche der Modeindustrie. Sie tritt energisch dafür ein, dass Kund*innen nicht die Alleinverantwortung für nachhaltiges Konsumieren tragen, sondern die Industrie und der Markt verantwortungsbewusster mit ihrem Einfluss auf die menschliche Kaufpsychologie umgehen müssen. So malt Kaller ein fulminantes Bild rund um die Konsumpolemik mit dem Ausblick, dass zum einen die Politik und Wirtschaft gravierend zu einer Richtungsänderung beitragen müssen und zum anderen auch jede*r Einzelne sein/ihr eigenes Kaufbedürfnis reflektieren sollte. Schließlich könne man ihrer Ansicht nach niemanden in guten Konsum hinein “shamen”.

Nunu Kaller, die von 2014 bis 2019 als Konsument*innensprecherin bei Greenpeace arbeitete, möchte die Leser*innen nicht zum Nullkonsum bekehren, sondern ausgehend von der Tatsache, dass der Mensch konsumiert, die psychologische, biologische und wirtschaftliche Perspektive dieses Konsums beleuchten. Anhand ihrer Recherche soll die Leitfrage diskutiert werden, ob es “guten” Konsum überhaupt gibt und wie dieser gegebenenfalls aussieht. Im Vorwort gelungen hergeleitet begründet sie die eigene Motivation in ihrer Relevanz, zumal die Konsumdebatte in Zeiten der Klimakrise für Viele immer wichtiger wird. Schon mit den ersten Seiten spricht Kaller daher jenen Menschen aus der Seele, die sich bereits mit ökologisch nachhaltigem Konsum auseinandergesetzt haben, durch die Fülle an Informationen im World Wide Web zu diesem Thema jedoch verunsichert sind.

Du bringst Menschen dazu, ihr eigenes umweltschädliches Verhalten zu überdenken, wenn du ihnen zeigst, dass sie möglicherweise selbst, ganz direkt und unmittelbar, gefährdet sind.

Nunu Kaller, S.11

Kaller führt die Leser*innen anhand ihrer eigenen Gedanken durch 236 Seiten und veranschaulicht die gesammelten Fakten durch Anekdoten und Erfahrungen aus ihrem eigenen Leben sowie aus dem ihres privaten Umfelds. Die insgesamt sechs Kapitel widmen sich jeweils einer übergeordneten Frage und navigieren die Leser*innen anregend durch ihre Recherche. Beginnend mit dem ersten Kapitel “Warum kaufen wir?” geht die Autorin über zu der Feststellung “Man kann nicht nicht konsumieren” (Kapiel 2), um danach zu erörtern “Was machen die [Industrie und Werbung] mit uns?” (Kapitel 3) und “Was macht Konsum eigentlich wirklich mit uns?” (Kapitel 4). Nachfolgend (Kapitel 5) wird diskutiert, warum Konsum überhaupt schlecht ist, um im abschließenden Kapitel “Was ist denn nun ‘guter Konsum’?” alle Resultate zusammenzuführen. Die Überschriften sind aussagekräftig gewählt, jedoch wäre für das Motiv des Buches – die Suche nach “gutem” Konsum – eine darauf ausgerichtete Kapitelaufteilung sinnvoller. So würde das fünfte Kapitel “Warum ist Konsum eigentlich überhaupt schlecht?” einen guten Einstieg in die übergeordnete Fragestellung bilden. Durch Unterüberschriften, die die sechs großen Kapitel in thematische Blöcke einteilen, wird dem Buch eine stringente Struktur mit bündigen Überleitungen verliehen. Empfehlenswert wäre allerdings die Aufführung der Unterkapitel im Inhaltsverzeichnis gewesen, damit Fakten und Informationen gezielt nachgelesen oder gesucht werden könnten.

Kaller wirft unabhängig von den Kapitelüberschriften viele (moralische) Fragen auf, deren Beantwortung partiell den Leser*innen überlassen bleiben, wie zum Beispiel warum wir kaufen, obwohl uns die Produktionsbedingungen allgemein bekannt sind. Hierdurch tritt die Hauptfrage “Gibt es guten Konsum?” teils in den Hintergrund. Der/Die ein oder andere Leser*in wird sich deshalb zwischendurch bei der Suche nach dem Sinn hinter den gelesenen Seiten ertappen, jedoch schnell wieder zum roten Faden zurückfinden. Insgesamt zeigt die Autorin also überwiegend nachvollziehbar und schlüssig die facettenreiche Tragweite der Konsumthematik auf, wobei wenige Passagen, beispielsweise die Psychologie der Industrie, eine noch intensivere Erörterung verlangt hätten. Ihre Argumentation untermauert Kaller durch Quellenangaben verwendeter Artikel und Studien sowie weiterführender Literatur in Fußnoten, die für eine bessere Übersichtlichkeit in einem Quellenverzeichnis am Ende des Buches hätten zusammengetragen werden können.

Die offengelegten Fakten und Rechercheergebnisse unterstreicht die Autorin mit Humor und befreit sich durch ihre eher alltagssprachlich gehaltene Langage vom Stereotypen des anstrengenden Sachbuchs. Dass Nunu Kaller sich als leidenschaftliche Wienerin beschreibt, spiegelt ihre Schreibart wider: Als deutsche*r Leser*in stolpert man über österreichische Ausdrücke und schmunzelt über Begriffe wie “Sackerl” oder “Packerlsuppe”. Nur selten bleibt man an langen Sätzen hängen, deren Sinn sich jedoch nach erneutem Lesen zu entfalten weiß. Stilistisch liest sich das Buch flüssig, Rechtschreibfehler, die den Gesamteindruck trüben könnten, finden sich kaum. Kaller bedient sich dem Binnen-I, um mit ihrer Sprache Geschlechtergleichheit zu generieren. Dies ist für den Sprachwandel zu begrüßen, da das Gendern für weite Teile der Bevölkerung leider noch nicht selbstverständlich und nachvollziehbar geworden ist.

“Wir dürfen auch nicht zu streng mit uns sein. Ja, natürlich darf man hin und wieder sinnlosen Konsum genießen.”

Nunu Kaller, S. 224

Ihre Überzeugung, man könne niemanden in guten Konsum hinein “shamen”, führt insgesamt zu einem selbstkritischen und offenen Blick auf die Thematik, ausgehend von ihrer Person und ihrem Leben. Sie betont authentisch, dass sie sich von ihrer eigenen Konsumkritik nicht ausnehmen möchte und spielt ohne erhobenen Zeigefinger die Rolle des Vorbilds. Erfahrungsberichte, wie sie oder Freund*innen sich sinnlosem Konsum hingaben, rufen Sympathie für die Autorin hervor und führen zu einer größeren Identifikation mit dem Gelesenen. “Wenn Nunu Kaller es schafft, für sich die Bedeutung von ‘gutem’ Konsum zu erörtern und ihr Kaufbedürfnis demnach anzupassen, wieso ich nicht auch?” So schafft sie es, die Leser*innen zum Überdenken des eigenen Handelns anzuregen. Hierfür wäre am Ende des Buches eine Zusammenfassung der Möglichkeiten, wie man das eigene Konsumverhalten reflektieren könnte, als Wegweiser nützlich gewesen.

Im Gesamteindruck gewinnt Nunu Kaller die Leser*innen mit ihrem Charme und ihrer Authentizität. Revolutionäre Erkenntnisse bleiben aus, doch scheint dies auch nicht der Anspruch der Autorin zu sein. Viel mehr gibt sie verwirrten Konsument*innen, die sich weiter in Richtung Nachhaltigkeit orientieren möchten, eine Stütze im Informationswirrwarr. Erfrischenderweise begann Kaller ihre Recherchen vor der Corona-Pandemie und geht in ihrem Buch nur kurz auf die Veränderungen, die die Krisenzeit auf unseren Konsum ausübt, ein. Natürlich wäre die Erörterung im Lichte des Online-Shopping-Hochs überaus interessant, doch stellt ihre Forschung dadurch eine angenehme Abwechslung zur aktuellen Berichtserstattung dar.

“Kauf mich! Auf der Suche nach gutem Konsum” ist eine Erinnerung für diejenigen, die bereits reflektiert und nachhaltig konsumieren, wieso sie dies tun und eine Aufforderung an diejenigen, die bereits “grün affin” sind, sich aktiv mit ihrem Konsum zu beschäftigen. Ihr Plädoyer für weniger Konsum und mehr Verantwortung mit dem nachhaltigen Grundgedanken im Hinterkopf, weiß angesichts der ausgeprägten Stärken und wenigen Schwächen zu beeindrucken. Mit der richtigen Mischung aus Emotion, Sachlichkeit und Witz hält sie die Lesenden bei Laune und zeichnet ein Bild der Realität, bei dem man nicht sicher ist, ob man lachen oder lieber weinen möchte.

Über die Autorin

Copyright: Julius Hirtzberger

Nunu Kaller, geboren 1981 und seither leidenschaftliche Wienerin, absolvierte ein Studium der Publizistik, Anglistik und Zeitgeschichte. Nach zwei Jahren bei diepresse.com wechselte sie in die NGO-Welt. 2014 bis 2019 arbeitete sie als Konsument*innensprecherin bei Greenpeace. Seit Ende 2019 ist sie selbstständig als Autorin, Speaker, Beraterin und Initiatorin von nunukaller.com, einer Plattform, die heimischen Unternehmen im Corona-Lockdown zu Sichtbarkeit verhalf. Bei KiWi erschienen von ihr die Bestseller “Ich kauf nix!” und “Fuck Beauty!”.