In dieser Woche möchten wir Ihnen die erste Stufe der Anti-Verbraucher-Pyramide vorstellen. Die größte und wichtigste Stufe der Pyramide sieht vor, zunächst das zu benutzen, was man bereits hat, ohne dafür neue Dinge konsumieren zu müssen.
Der Upcycling-Laden K.W.D.
Passend zu diesem Konzept haben wir für Sie den Upcycling – Laden K.W.D. im Berliner Stadtteil Friedrichshain besucht. Die Designerin Katja Werner hat uns Einblicke in ihre Arbeit und die Entstehung ihrer Produkte gewährt.
So hat alles angefangen…
Eigentlich hat Katja Werner keinen Hintergrund im
Produktdesign oder Handwerk, sondern hat Graphikdesign studiert. Durch ihre
Passion auf Flohmärkte zu gehen und dort spannende Funde zu machen, ist die
Initialzündung entstanden, aus recycelten Materialien Produkte zu entwerfen. Im
Jahr 2007 hat sie dann mit ihrem eigenen Produktlabel K.W.D. begonnen, womit sie
sich ihren Wunsch erfüllen konnte, im Beruf ökologische Verantwortung zu
übernehmen.
Seit nun schon 12 Jahren kreiert sie aus alten Fahrradschläuchen, Kassenbändern und Luftmatratzen neue Artikel wie beispielsweise Portemonnaies, Rucksäcke und Accessoires wie Schlüsselanhänger oder Schlüsselbretter aus Fahrradventilen. Wichtig ist ihr dabei, dass die vermeintlichen „Abfälle“ zweckentfremdet werden und dadurch bei den Kunden eine Überraschung hervorrufen. Ein gutes Beispiel dafür ist ein derber, alter Schlauch, aus dem Katja Werner ein feines Portemonnaie mit edlem Stoffinnenfutter hergestellt hat. Sie hat Spaß daran, mit den Materialien und Kontrasten zu spielen, um unerwartete Effekte hervorzubringen.
Vermeintlichen „Müll“ zu neuem Leben erwecken – so
funktioniert das Upcycling-Prinzip. Alle Produkte, die Katja Werner entwirft,
sind Unikate, die aus Spielsinn und Erforschen mit recycelten Materialien
entstanden sind. Die Wiederverwendung von Material ist oft mit einem höheren
Aufwand als die Neuproduktion verbunden, denn das Material muss besorgt,
geprüft und dann gegebenenfalls gereinigt und weiterverarbeitet werden. Dies
mache laut Katja Werner aber genau die Seele der Produkte aus.
Dieses Bild zeigt einen Kronleuchter, den Katja Werner auf der Straße gefunden hat. Sie hat ihn mit Zahnbürsten upgecycelt, die sie über vier Jahre hinweg gesammelt hat. Zu der Frage, wie sie auf diese kreativen Ideen kommt, antwortet sie: „Manchmal finde ich etwas und weiß zuerst gar nicht, was ich daraus machen kann. Dann schleiche ich einige Male drum herum und schaue es mir immer wieder an, bis ich eine Idee im Kopf habe.“ Vieles müsse zunächst einfach ausprobiert werden, bis dann ein Resultat heraus komme, mit dem sie zufrieden sei.
Die Materialen für die Produkte
Katja Werner stellt alle ihre Produkte selbst her und
versucht hierfür kontinuierlich neue
Materialien zu finden, die sich zum Upcyclen eignen. Die aktuellste Entdeckung
ist ein sogenanntes Flexzelt, das für Events draußen wie beispielsweise Festivals
oder Hochzeiten verwendet wird und sich durch eine extrem hohe Belastbarkeit
auszeichnet. Durch die reißfesten, wasserdichten und UV-stabilen Eigenschaften
verwendet die Designerin die Reste des Zelts für ihre Fahrradtaschen.
Auf dem Fahrrad erkennt man eine Fahrradtasche aus alten Schläuchen
und Flexzelt. Rechts daneben befinden sich stabile Taschen aus Kassenband, beispielsweise
für den Transport von Holz.
Da neue Materialen eine jeweils individuelle Beschaffenheit aufweisen, lernt Katja Werner immer wieder neue Methoden zum Verarbeiten. So kann sie ihr Portfolio durch die erlernten Fähigkeiten mit weiteren Kunstwerken vergrößern. Um neue Materialquellen zu finden, muss die Designerin Netzwerke aufbauen. Oft entdeckt sie selbst auf Flohmärkten, Schrottplätzen oder auf der Straße Materialen, die sie noch weiter verarbeiten kann. Teilweise kommen Privatpersonen oder Unternehmen aber auch direkt auf sie zu und bieten ihr Materialien an, von denen sie denken, dass es zu schade wäre, diese wegzuwerfen.
Nachhaltigkeit als
Thema
Die Designerin bezeichnet Nachhaltigkeit als das Thema ihrer Produkte. Das sei zwar nicht der Motor ihres Handelns, spiele aber eine große Rolle in ihrer täglichen Arbeit. Bei der Produktion ihrer Produkte achtet sie darauf, möglichst alles zu verwerten und überlegt sich Alternativen, was sie mit übrigen Materialresten machen kann. So freuen sich zum Beispiel Kindergärten über Reste der Produktion zum Basteln mit den Kindern.
Zudem wägt Katja Werner ab, wann es sich aus ökologischer Perspektive lohnt, etwas zu recyceln. Wenn Materialien extrem verschmutzt sind, müsste eine große Menge an Ressourcen aufgewendet werden, um diese zu reinigen – dadurch geht der Nachhaltigkeitsaspekt verloren. Neben dem Einsparen von Ressourcen ist die Bewusstseinsbildung ein großer Pluspunkt ihrer Arbeit. Durch die kreativen Produkte werden Menschen dazu inspiriert zu hinterfragen, ob bestimmte Dinge tatsächlich in den Mülleimer wandern müssen oder ob daraus noch etwas Kreatives geschaffen werden kann.
Bewusster Konsum als
Leitidee der #kaufnix-Kampagne
Diese Grundidee, auf der die Arbeit von Katja Werner aufbaut,
ist auch die Basis unserer Kampagne. Wir alle sollten unseren Konsum
hinterfragen. Und bevor wir ohne nachzudenken etwas kaufen, sollten wir
zunächst überlegen, ob wir nicht zu Hause etwas finden, das wir verwenden oder
upcyceln können.
Die Anti-Verbraucher-Pyramide funktioniert nach demselben Prinzip wie andere Modelle, zum Beispiel Ernährungspyramiden. Mithilfe von unterschiedlich großen Segmenten verdeutlicht sie, in welchem Umfang bestimmte Konsum- und Verhaltensweisen zu einem suffizienteren Leben beitragen können. Dabei wird das für eine nachhaltigere Entwicklung wünschenswerte Verhältnis der einzelnen Stufen zueinander veranschaulicht. Je größer eine Stufe ist, desto mehr Wert sollte auf diese Verhaltensweise gelegt werden, um den eigenen Alltag suffizienter zu gestalten.
Stufe 1: Nutzen, was man hat
Ziel von Suffizienz-Strategien ist es, den eigenen Ressourcen- und Energieverbrauch im alltäglichen Leben auf ein möglichst geringes Maß zu reduzieren. Der einfachste Weg, dieses Prinzip umzusetzen, ist es, einfach die Dinge zu benutzen, die einem bereits zur Verfügung stehen. Denn für die Herstellung von jedem Gegenstand, Kleidungsstück und Nahrungsmittel werden sowohl Ressourcen als auch Energie benötigt. Daher ist die Beschränkung auf bereits bestehenden Besitz die Basis der Anti-Verbraucher-Pyramide – das größte und wichtigste Element der Pyramide also.
Stufe 2: Machen
Natürlich ist es nicht immer möglich, auf bereits vorhandenen Besitz zurückzugreifen. Altes Brot kann zwar ohne Probleme zu Croutons weiterverarbeitet werden. Für die Tomatensuppe zu den Croutons braucht man allerdings Tomaten. Die müssen jedoch nicht aus dem Supermarkt kommen: Im eigenen oder gemeinschaftlich bewirtschafteten Garten lässt sich zum kleinen Preis frisches Gemüse herstellen – bio, fair und regional.
Natürlich ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Um Stufe 2 der Pyramide im Alltag umzusetzen, muss das aber auch niemand sein. Denn um Dinge selbst zu machen oder zu reparieren, kann jede*r sich Hilfe ins Boot holen. In Selbsthilfe-Werkstätten und Repair-Cafés findet man alles Werkzeug und die Expertise von Fachkundigen, die es vielleicht braucht, um die kaputte Waschmaschine wieder in Gang zu bringen.
Stufe 3: Tauschen
Die Modewelt steht nie still: Kaum hat man sich an Schlaghosen gewöhnt, sind schon wieder Röhrenjeans in. Wer immer im Trend liegen will, muss damit aber nicht unbedingt der Umwelt schaden. Denn ausgediente Kleidung lässt sich ohne Weiteres gegen neue Lieblingsstücke eintauschen. Das ist inzwischen nicht mehr nur im Internet möglich. Auf sogenannten Kleidertausch-Partys kann man diese nachhaltige Form des Shoppings immer öfter auch analog testen – die Möglichkeit zum Anprobieren inklusive.
Tauschen ist allerdings nicht nur ein Konzept für Trendbewusste. Portale wie Homeexchange machen den unkomplizierten und übergangsweisen Wechsel der eigenen vier Wände möglich. Perfekt für alle, die zwischendurch einen Tapetenwechsel brauchen.
Stufe 4: Leihen
Immer für alle Eventualitäten ausgerüstet zu sein, erfordert nicht nur Unmengen an Platz, sondern ist auch teuer und unnötig. Viel praktischer und umweltschonender ist es, auch auf die Ressourcen zurückzugreifen, die Freunde/Freundinnen, Verwandte oder Nachbar*innen bereitstellen können. Wer also nur beim Einzug Regale aufbauen möchte, muss sich dafür nicht gleich einen Akku-Schrauber zulegen. Vielleicht ist das genau die richtige Gelegenheit, um die neuen Nachbar*innen kennen zu lernen!
Stufe 5: Gebraucht kaufen
Flohmärkte haben längst ihr etwas angestaubtes Image abgelegt. Durch Second-Hand-Läden oder über den Gebrauchtmarkt schlendern macht nicht nur Spaß, sondern hält auch ungeahnte Schätze bereit. Wer seinen Staubsauger lieber selbst repariert als einen neuen zu kaufen, findet hier vielleicht das gesuchte Ersatzteil.
Stufe 6: Kaufen
Die Option zu kaufen ist nur die Spitze der Anti-Verbraucher-Pyramide und stellt damit deren kleinstes Element dar. Um ein suffizientes Leben zu verwirklichen, sollte also nur in solchen Fällen gekauft werden, in welchen es sich nich vermeiden lässt. Wenn ein Konsumgut gekauft werden muss, gibt es immerhin noch die Möglichkeit, darauf zu achten, dass das Produkt fair gehandelt, regional und/oder ökologisch hergestellt ist.
Wir haben für Sie ein Glossar eingerichtet, indem in den Beiträgen verwendete Begriffe näher erläutert werden. Schauen Sie gerne vorbei, Sie finden das Glossar immer auf der rechten Seite unserer Startseite. Wenn Sie weitere Begriffe entdecken, sagen Sie uns gerne Bescheid, dann ergänzen wir diese im weiteren Verlauf der Kampagne.
Wachstum und Konsum bereiten
vielen Menschen große Freude. Sie gehen einher mit Wahlmöglichkeiten und einem
vermeintlichen Gefühl der Freiheit. Konsumverzicht und Genügsamkeit sind nicht
automatisch gleichermaßen beglückend, und dennoch bedeuten sie die neue –
notwendige – Stufe der Zivilisierung.
Der Mensch ist ein Tier, aber ein besonderes. Gewöhnlich
wird hervorgehoben, dass es sich um ein zu herausragender Intelligenz
befähigtes Wesen handelt, Homo sapiens
– der vernünftige Mensch. Diese Vernunft reicht soweit, dass wir derartig
intensiv über uns selbst nachdenken können wie wohl sonst keine anderen
Organismen. Wir machen uns sogar über schier Unvorstellbares Gedanken wie den
eigenen Tod. Eigentlich sind wir Menschen zukunftsfähig, weil wir
Zukunftsszenarien entwickeln können, die über unser eigenes Ende hinausgehen.
Wir sind so schlau, dass wir für etwaige riskante, schlechtere Zeiten vorsorgen
können. Wir können aktuelle Bedürfnisse zurückstellen, um Ressourcen für die
Zukunft zu sammeln und aufzubewahren oder uns gar auf ein angenommenes Leben im
Jenseits vorbereiten. Wir empfinden Empathie mit Mitmenschen – unter Umständen
sogar mit solchen, die noch nicht geboren sind, und wir kooperieren mit
unseresgleichen. Diese Gefühle zeichnen den Menschen in besonderem Maße aus:
ein vernunftbegabtes und soziales Wesen mit einem gewissen Faible für
zukunftsorientiertes Risikomanagement durch Anhäufen von Ressourcen. Aus dieser
Mischung wurde ein Erfolgsmodell – und gleichzeitig ein ‚evolutiver Sprengsatz‘.
Keine Art vor uns hat es aus eigener Kraft geschafft, den gesamten Planeten zu
besiedeln, die unterschiedlichsten Ökosysteme für das Überleben zu nutzen,
fossile Ressourcen aus vergangenen Erdzeitaltern anzuzapfen, sich global zu
vernetzen und letztlich ein exponentielles Wachstum von Population und
Ressourcenumsatz zu erreichen.
Durch Wachstum zum
Erfolg – und zurück
Der sein eigenes Wachstum entfesselnde Mensch hat die
Regulation durch das globale Ökosystem scheinbar außer Kraft gesetzt … endlich
die Fesseln der Natur gesprengt, die unsere Freiheit über Jahrtausende beschränkte.
Der Mensch maximiert die Ressourcenverfügbarkeit für sich selbst – aber auf
Kosten der Ressourcen für andere Arten und die Funktionstüchtigkeit des großen
Ganzen. Eine verhängnisvolle Falle, die sehr groß ist und deshalb nur langsam
und unmerklich zuschnappt. Denn das globale Ökosystem wird auch unser Wachstum
wieder einhegen, so wie es die starke Vermehrung von Algen, Krankheitserregern
oder Heuschrecken früher oder später wieder einfängt. Im Moment zählt aber nur:
Während die Verfügbarkeit fundamentaler Lebensressourcen für jüngere und
spätere Generationen schwindet, gelingt es zumindest einer großen Gruppe der aktuell
lebenden Menschen, ein historisch einzigartiges Wohlergehen zu erreichen, indem
der materielle und energetische Einsatz von Ressourcen ins Unermessliche
gesteigert wird. Dieses Wachstum zahlt sich kurzfristig aus, ist angenehm,
macht Spaß, regt an, vermehrt Handlungsoptionen und die Selbstwirksamkeit. Zugegeben,
das neue Zeitalter der großen Beschleunigung, nennen wir es Tachyzän, überfordert uns inzwischen
auch schon mal. Aber der Stress mit „Hülle und Fülle“ ist nichts gegen
Hungertod und Unfreiheit. Als Hochkultur berauschen wir uns an vor Kurzem noch
kaum absehbaren Leistungen der Menschheit: Wir überwinden die Grenzen der
früheren Generationen, fliegen mit Überschallgeschwindigkeit umher, besuchen
andere Planeten, fotografieren schwarze Löcher, bauen kilometergroße Gebäude,
die uns unsere eigene Größe spiegeln, entwickeln Apparate mit künstlicher
Intelligenz, die uns immer mehr mühselige Arbeiten abnehmen. Ist das alles nicht
großartig? Natürlich ist es das. Nicht viel scheint deshalb dafür zu sprechen,
diesen Trip freiwillig zu beenden. Außer vielleicht das zukünftige Leid
Jüngerer und Nichtgeborener, die vom beschädigten globalen Ökosystem nicht mehr
ernährt und beschützt werden können? Nach einigen Jahrzehnten des
exponentiellen Wachstums von Material- und Energieumsatz, technologischer
Entwicklung und unserer Population ist es schwieriger geworden, die Folgekosten
zu ignorieren oder zu verbergen. Energie- und Platzbedarf unseres
Wachstumshungers sind die größten Probleme. Ursprünglich setzten Menschen mit
ihrem Körper ca. 3,5-5 Giga-Joule (GJ) pro
Jahr und Person um – inzwischen ist der Energieumsatz bis um das Hundertfache
gesteigert. Um eine Nahrungs-Kalorie bereitzustellen, setzen wir für manche
Produkte ein Vielfaches an (meist fossiler) Energie ein. Inzwischen haben wir
allein ca. die Hälfte der Biomasse auf den Kontinenten verbraucht … gegessen,
verbrannt, verdrängt. Die allermeisten bioproduktiven Flächen nutzen wir für
unsere Zwecke und lassen anderen Mitbewohnern der Erde immer weniger Platz. Die
letzten sich mehr oder weniger selbst steuernden Ökosysteme zerschneiden und
stören wir mit Straßen und anderer Infrastruktur. Allesamt – zu Lande und zu
Wasser – traktieren wir sie mit Giftstoffen und setzen sie einem sich
beschleunigenden Klimawandel aus. Die Folgewirkungen schlagen inzwischen auch
auf die Menschen zurück: Wetterkatastrophen, Ernteeinbußen oder neuartige
Erkrankungen sind nur einige Beispiele.
Aber dies alles lässt sich ja vielleicht reparieren und
zukünftig vermeiden, weil uns noch großartigere Erfindungen einfallen, die uns
ein fortgesetztes Wachstum ermöglichen: künstliche Manipulation der Atmosphäre
zum Beenden des Klimawandels, unbegrenzte Energieverfügbarkeit durch
Kernfusion, künstliche Photosynthese und im Labor gezüchtetes Fleisch zur
Ernährung der wachsenden Bevölkerung, letztlich die Besiedelung von Ozeanen und
des Alls … – Was nur, wenn nicht? Was, wenn wir die Rechnung ohne den Wirt
machen – das globale Ökosystem?
Haste was, biste was –
wie in der Gesellschaft, so in der Natur?!
Die individuelle Erfahrung der meisten Menschen sowie auch die Kollektiverfahrung der globalen Zivilisation mit ihrer vermeintlichen Fortschrittskultur besagen, dass ein Mehr an Ressourcen – für mich und die meinen, heute und morgen – größeren Wohlstand, bessere Gesundheit und die Verringerung vieler unmittelbarer Risiken bedeutet. „Schaffe, schaffe, Häusle baue“, „Haste was, biste was“, „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden“ (Bibel, Matthäus 25:29). So ist das nämlich. Wir haben gelernt, Mitmenschen nicht nur durch unsere Fähigkeiten zu beeindrucken, sondern vor allem durch unseren Besitz, unseren Schmuck und unsere Kleidung, die anzeigen, dass wir erfolgreich und vertrauenswürdig sind. Besitz um des Scheins willen und Statussymbole finden sich weltweit wohl in den meisten Kulturen. Federschmuck, Amtskette, Frack, Porsche und iPhone verleihen uns Würde, Respekt oder Anerkennung. Digitalisierung und Informationstechnologie haben nicht nur unseren Zugang zu vorher unerreichbaren Ressourcen erleichtert, sondern auch das Wünschbare vervielfältigt. Die ganze Erde ist nicht ein Dorf, sondern ein globales Schaufenster geworden, eine Shopping-Mall sowie ein weltweites Theater, in dem sich alle Nutzer*innen der sozialen Medien etwas mit ihrem Konsum vorspielen können.
Nach wie vor sind die materiellen Vorteile von größerem Besitz nicht von der Hand zu weisen. Wenn unser Kapital abundant ist oder gar wächst, können wir es einsetzen, um es zu vermehren. Tatsächlich ein recht natürliches Geschehen, das auch in Ökosystemen zu beobachten ist. Wenn nach einem Vulkanausbruch ein nackter Fels von Bakterien, Flechten und ersten Pflanzen besiedelt wird, kommt es ebenfalls zu einem exponentiellen Wachstum. Wo viele Pflanzen wachsen, können mehr Sonnenenergie und weitere Ressourcen gebunden werden, entsteht mehr Biomasse, die günstig auf die Produktivität wirkt … es kommt zu einer Eskalation des Lebens. Schnelles nichtlineares Wachstum ist eine wichtige Strategie der belebten Natur, um Lücken zu füllen, Gelegenheiten zu nutzen und neue Chancen zu eröffnen. Wenn allerdings der physisch verfügbare Raum aufgebraucht ist, schalten Ökosysteme um, ohne ihre Funktionen einzustellen: Es reduziert sich das Massewachstum und strebt letztlich gegen Null. Im System erfolgt nur noch qualitatives Wachstum in Form von immer neuer genetischer Information, einer Zunahme von unterschiedlichen Arten, Lösungen und Lebensstrategien, die zu einer effizienteren Ressourcennutzung, einer erhöhten Systemintegration und vor allem zu einer immer besseren Selbstorganisation und –regulation im System führen. Dies bedeutet in ‚reifen‘ Ökosystemen einen Rückgang von Konkurrenz und eine Steigerung der Bedeutung von Kooperation und positiver Interaktion zwischen den Systemkomponenten. Ressourcen werden effizient aufgenommen, verwendet und – sofern möglich – recycelt. Die Wahrscheinlichkeit von abruptem Wandel und Zusammenbruch wird zumindest reduziert. Das System operiert an den Grenzen des Wachstums und ist suffizient. Kann uns als menschliche Gesellschaft Vergleichbares gelingen? Können wir Triebe und Wachstumswünsche regulieren und hintanstellen? Können Solidarität und Kooperation Konkurrenz- und Wachstumszwang eindämmen?
Menschliche
Selbstzähmung und ökologische Zivilisierung
Basta! Es muss doch reichen. Menschen können nachgewiesenermaßen mit sehr viel weniger Konsum glücklich sein, gegebenenfalls sogar deutlich glücklicher als der von sozialem Verbrauchs- und Darstellungszwang, Dauerwerbebeschallung und Beschleunigung gestresste Mensch der entfesselten Konsumgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Tatsache ist zudem, dass uns ein enormes Potenzial der Selbstzähmung innewohnt. Im Rahmen der Zivilisierung haben wir gelernt, uns Regeln des Zusammenlebens zu geben und sie mehr oder weniger zu respektieren; wir sind überwiegend in der Lage, Flucht- und Angriffsreflexe zu unterdrücken. Unsere Kultur hat uns beschert, dass sogar bei steigender Bevölkerungsdichte das Risiko, gewaltsam in Konflikten zu Schaden zu kommen, erheblich reduziert wurde. Den Individuen fallen das Unterordnen und Zurücknehmen in vielerlei Lebenslagen durchaus schwer, aber gesellschaftliche Normen, Erziehung und Bildung geben uns einen lenkenden Rahmen. Dabei sind wir in der Lage, unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche hintanzustellen, vor allem, wenn wir von der Gesellschaft bzw. vom Staat nicht gezwungen werden, sondern wenn uns Anerkennung und Belohnung winken. Menschen sind nicht nur veranlagt, möglichst viel haben zu wollen und sich alles zu nehmen, was sie bekommen können. Wir sind auch empathisch und solidarisch, wir sind bereit, Not zu lindern. Und uns ist die Vernunft gegeben, uns selbst kritisch zu hinterfragen und unser Handeln zu überdenken. Das fällt leichter, wenn es dafür Anerkennung gibt. Auch mit guten Taten kann man sich darstellen, Anhänger*innen und Follower gewinnen – viele Celebrities machen es vor.
Alle Menschen können sich dafür einsetzen, dass sie nicht mehr in erster Linie als Verbraucher*innen bezeichnet und angesehen werden. Sie können mit Eigeninitiative vorangehen und müssen gleichzeitig die angemessenen politischen Rahmensetzungen einfordern. Nur mit einer gesamtgesellschaftlichen ergebnisoffenen Anstrengung, Entwicklung und Zivilisierung wirklich neu zu denken und die Wurzelgründe unserer Probleme abzustellen, können wir eine echte Transformation schaffen. Wir müssen eine Kultur anstreben, in dem das soziale oder ökologische Jahr und die in ihm gewonnenen Erfahrungen mehr zählen als ein Porsche. Teilzeitarbeit, unvergütete Beschäftigungen und Beiträge zur Selbstversorgung gehören politisch aufgewertet und unterstützt. Tätigkeiten für Menschen und Natur verdienen eine besondere Förderung – z.B. durch freien Zugang zu bestimmten Leistungen etwa im kulturellen Bereich. Konsum und Schadschöpfung durch Produktion müssen angemessen besteuert werden. Eine CO2-Steuer kann nur der Anfang sein, genauso müssen Wasser- und Landverbrauch sowie die Störung von Ökosystemen angemessen verteuert werden. Konsumvermeidende Geschäftsideen, Reparatur und Recycling bedürfen der massiven Förderung. Bildungspolitisch ist die Bedeutung der Ethik aufzuwerten. Wir benötigen eine intensivere Reflektion über die Folgewirkungen unseres Handelns und deren Vermeidung sowie ein Nachdenken darüber ‚was wirklich zählt‘.
Bereits
1993 erfand der Soziologe Wolfgang Sachs das Konzept der Suffizienz. Im selben
Jahr warb Walther Kösters für eine „ökologische Zivilisierung“. Beides hat ein
Vierteljahrhundert später erheblich an Brisanz gewonnen. Allem Wachstum zum
Trotz, das damals noch gar nicht vorstellbar schien. Wachstum verringert die
Halbwertzeit von so mancher Technologie und vielerlei Wissen – unbequeme
Wahrheiten und richtige Ideen schafft es nicht aus der Welt.
Über den Autor
Prof. Dr. Pierre Ibisch ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Umweltstiftung, Professor für Naturschutz an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und Mitherausgeber des Buchs „Der Mensch im globalen Ökosystem. Eine Einführung in die nachhaltige Entwicklung“. Er wirbt für eine ökologische Radikalität und ökosystembasierte nachhaltige Entwicklung. Er verfasste bereits vor einem Jahrzehnt u.a. für ZEIT ONLINE Beiträge zur Suffizienz und Nachhaltigkeit wie etwa „Das Primat des Wirtschaftswachstums beenden“ „Nicht die Armut, das Wachstum muss bekämpft werden“. Siehe auch Interview „Wirtschaftswachstum ist schädlich“ auf Deutschlandfunk Kultur.